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Drogenbesteck eines Fixers - Einwegspritze und Löffel wurden nach dessen Gebrauch auf einem Stein hinterlassen.
© imago images / Jochen Tack

Erst einen Schuss, dann ins Callcenter: Wie ein Berliner Heroinabhängiger zurück ins Leben fand

Seit 27 Jahren ist Hagen Barn süchtig nach Heroin. Rund 800.000 Euro hat er für die Droge ausgegeben. Überlebt hat Barn nur dank eines mutigen Arztes.

Wenn Hagen Barn morgens um 7.30 Uhr den gut beleuchteten Raum in diesem Zweckbau im Norden Berlins betritt, sich eine Spritze in den Oberschenkel sticht und die durchsichtige Flüssigkeit in die Blutbahn drückt, geht es ihm wenige Sekunden danach besser. Erleichtert setzt sich Barn, 45 Jahre alt, in einem Nebenraum auf einen Sessel und lässt den Stoff aus der Spritze wirken.

Dass sich Barn, ein kräftiger Mann mit rauer Stimme und blasser Haut, in den Schenkel spritzt, liegt daran, dass die Venen an seinen Armen vernarbt sind. Mindestens 9000, vielleicht 10.000 Spritzen hat er sich in Küchen, Treppenhäusern, Bahnhöfen schon gesetzt. Danach gefragt, schätzt Barn, dass er über all die Jahre fast 800.000 Euro für Heroin ausgegeben hat – für Stoff wohlgemerkt, der neben dem gewünschten Schlafmohnextrakt allerlei Streckmittel enthielt. Barn kannte Männer und Frauen, mit denen er zog und spritzte, die an Infektionen und Überdosen starben. Er selbst hat sich mit Hepatitis C infiziert. Er hat gestohlen, kam in Haft, begann Therapien, brach sie ab, zerstörte Beziehungen.

„Es gab Tage, da habe ich fünf Gramm Heroin genommen. Doch das Zeug von der Straße ist Dreck“, sagt Barn an einem Morgen vor einigen Wochen. „Ohne den Stoff hier wäre ich tot.“ Barn nimmt immer noch Heroin – nun auf Rezept.

Vermieter wollten keine Junkies

Fast jeden Morgen bekommt er eine Lösung mit 98,5-prozentigem Heroin. Eine Arzthelferin zieht die Spritze mit einer für den Patienten geeigneten Dosis auf, reicht sie samt Tupfer an Barn, der setzt sich im sogenannten Applikationsraum auf einen Stuhl an den Tisch. Kein Dealer, kein Streckmittel, kein Schmutz. Die Idee dahinter: Indem Abhängige die Droge unter ärztlicher Aufsicht erhalten, werden Straftaten, Überdosen, Infektionen vermieden. Wenn schon abhängig, dann von reinem, mit Lizenz gehandeltem Heroin. Fachterm: Diamorphin.

Sicher und sauber. Im Applikationsraum können sich Suchtkranke eine Heroin-Spritze setzen.
Sicher und sauber. Im Applikationsraum können sich Suchtkranke eine Heroin-Spritze setzen.
© Kitty Kleist-Heinrich

In Berlin gibt es das nur bei Thomas Peschel. Der Facharzt für Psychiatrie, 48, volle Wangen, volles Haar, betreibt in dem Weddinger Zweckbau die einzige Diamorphin-Praxis Berlins. Sie ist die größte der zehn Diamorphin-Praxen in Deutschland. Unten stauen sich Autos auf dem Weg in die Innenstadt. Über der Praxis donnern Flugzeuge, der Flughafen Tegel ist nah. Andere Räume bekam Peschel nicht, als er vor sechs Jahren danach suchte. Vermieter hätten keine Junkies gewollt – und Junkies sind ständig da: 120 der 140 bei Peschel registrierten Patienten kommen täglich.

An diesem Tag zupft in der Praxis ein Mann mit Hut an einer Gitarre, ein anderer blättert in einem Heft, ein dritter lächelt einen vierten Patienten an, der aus dem Fenster schaut. Ein fünfter döst mit Kopfhörern über den Ohren. Neben dem Applikationsraum gibt es eine Küche, eine Tischtennisplatte, Sofas, Bücher. Manchmal frühstücken Patienten und Personal gemeinsam: drei Mediziner, zwölf Arzthelfer, tageweise Sozialarbeiter eines kooperierenden Vereins.

An Opiaten, vor allem Heroin, sterben in Deutschland weniger Männer und Frauen als in den Neunzigern. Trotzdem waren es 629 Tote im Jahr 2018, in Berlin 80. Die Drogenbeauftragte des Bundes schätzt, dass in Deutschland 120.000 Heroinsüchtige leben. Ärzte und Sozialarbeiter gehen von einer deutlich höheren Zahl aus. Fast 79.000 der Suchtkranken befinden sich offiziell in einer Substitutionsbehandlung, meist mit Methadon.

Barn arbeitet inzwischen, im Callcenter

Als sich Hagen Barn 2014 in der Praxis bei Peschel meldete, hatte er schon alles probiert: „Ambulante Therapien und stationäre. Allein und mit viel Hilfe. Auch Methadon. Doch wenn ich Sorgen hatte, zog ich los und holte mir in der U8 wieder Stoff.“ Das rezeptpflichtige Methadon lindert zwar den Suchtdruck, reicht vielen Abhängigen aber nicht – sie nehmen trotzdem Heroin. Auf den Bahnhöfen der U-Bahn-Linie 8, die als Umschlagplätze gelten, wird mit beidem gehandelt. Viele sagen, sie seien auf Methadon antriebsloser als auf Heroin.

Setzt sich Barn bei Peschel einen Schuss, läuft er 30 Minuten später zum Bus und startet den Arbeitstag: 8.30 Uhr beginnt die Fünf-Stunden-Schicht im Callcenter. Weil seine Kollegen nicht wissen, dass er Heroin braucht, bleibt sein echter Name ungenannt. „Früher war ich öfter depressiv und hatte seit der Lehre keinen Job“, sagt Barn. „Nun wohne ich mit meiner Liebsten zusammen und arbeite – das ist mehr, als ich erhofft habe.“ Abhängige, sagt Arzt Peschel, litten oft an seelischen Erkrankungen. Drogen seien dann wie Selbstmedikation.

„Ich suchte nach Nähe, ich wollte aufgefangen werden“, sagt Barn. „Meine Mutter war sehr jung, mein Vater bald weg. Von der Familie hatte ich wenig.“ Als Vierzehnjähriger habe er acht, neun, zehn Bier am Tag getrunken. Als Barn eine Mechanikerlehre begann, schwärmte ein Kollege von Heroin.

Immer noch, nach 27 Jahren, kann sich Barn an den Jugendclub in Bochum erinnern, an den Dealer, der aus einem Tütchen eine Messerspitze Pulver holte. „Hellbraun, so wie Heilerde. Ich hab’s geraucht, es hat mich sofort fasziniert“, sagt Barn. „Wie alle anderen musste ich beim ersten Mal kotzen.“ Der Rausch aber sei schön gewesen, friedlich, wohlig.

In der Praxis „Patrida“ des Psychiaters Thomas Peschel gibt es für Abhängige Heroin auf Rezept.
In der Praxis „Patrida“ des Psychiaters Thomas Peschel gibt es für Abhängige Heroin auf Rezept.
© Kitty Kleist-Heinrich

Seit jenem Sommertag 1992 lässt ihn der Stoff nicht los. Heroin schafft, was andere Drogen schaffen, nur intensiver: Geborgenheit. Sich selbst genügen. Die Vergangenheit nicht bedauern, die Zukunft nicht fürchten. Heroin wirke in der Körpermitte, sagt Barn, strahle bis in die Fingerspitzen aus. Andere Abhängige berichten, Heroin erzeuge ein körperliches Bedürfnis nach Wärme, das es nur selbst erfüllen kann. Angst, Einsamkeit, Chaos verschwinden hinter der Suche nach dem Stoff. Und die kostet Würde, Geld, Zeit.

Heute lebt Barn wie Millionen andere Deutsche. Bürojob, Wohnung mit der Frau, die er liebt, Katze, Filme auf Netflix. Ist Hagen Barn noch Junkie, jemand, der seinen Alltag ändern sollte? „Er ist abhängig. Und Abhängigen hilft man dadurch, dass man ihnen ein stabiles Leben ermöglicht“, sagt sein Arzt Thomas Peschel. „Dann wird das Bedürfnis nach der Droge ohnehin geringer.“ Heroin könne man wie ein Arzneimittel einsetzen: „Ein Diabetiker bekommt Insulin. Und Ärzte verweigern es ihm auch dann nicht, wenn er unvernünftigerweise Kuchen isst. Von Abhängigen aber verlangen wir totale Abstinenz. Warum?“

„Hier weißt du, dass du morgen wiederkommen kannst“

Fast alle seine Patienten nähmen nach einigen Monaten weniger Diamorphin als noch zu Therapiebeginn. Weniger als auf der Straße ohnehin, weil der Stoff in der Praxis stärker ist als der gestreckte vom Schwarzmarkt. Wer die Nacht nicht ohne Drogen durchzustehen droht, der darf abends in der Praxis eine Tablette abholen: Substitol oder L-Polamidon – Heroinersatz, die Mittel unterdrücken das Suchtverlangen. Das darin enthaltene Opiat wirkt zeitverzögert und damit länger. Einige Patienten nehmen die Pillen auch mit in den Urlaub.

Wer als Abhängiger darauf angewiesen ist, Heroin bei den wechselnden Dealern in der U8 zu besorgen, der zieht zwei-, manchmal dreimal am Tag los, um das gestreckte Zeug zu kaufen, weil es zu schwach war oder er Angst hat, bald nichts mehr zu bekommen. Wer so lebt, wird verhaftet, arbeitet nicht, wird kränker. „Hier aber weißt du, dass du morgen wiederkommen kannst“, sagt Barn. Und „der Turn“, der Rausch in der Praxis, sei sanfter, aber nicht weniger intensiv. Das erste Mal bei Peschel habe ihn an den ersten Heroinrausch 1992 erinnert.

Damals sei er schnell an Geld gekommen, Dispokredite waren billig, sein Konto war dauernd überzogen. Zur Jahrtausendwende war der 1,80-Meter-Mann ausgezehrt, wog noch 50 Kilogramm, spritzte sich in den Hals. Ein Drogenberater habe seinem Vater gesagt, der Junge müsse ganz unten landen, damit er aufhören könne. Sucht galt als Willensschwäche, nicht als Krankheit. Der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer, CSU, lehnte Diamorphin-Praxen ab, auch die CDU-Abgeordneten sind dagegen. Erst die rot-grüne Bundesregierung begann einen Feldversuch: Bei 80 Prozent der 1000 teilnehmenden Abhängigen ging der Konsum zurück. Der Bundestag erlaubte 2009 die Heroinabgabe unter strengen Voraussetzungen: Die Patienten müssen älter als 23, seit mindestens fünf Jahren abhängig und an zwei Therapien gescheitert sein.

In Berlin ist es dann 2013 ausgerechnet ein Gesundheitssenator von der CDU, Mario Czaja, der die Eröffnung der ersten Heroin-Praxis unterstützte. Kliniken wollten die Behandlung nicht durchführen, auch ein niedergelassener Arzt fand sich lange nicht. Viele fürchteten, die teuren Sicherheitsmaßnahmen und der drohende Ärger mit Vermietern und Nachbarn würden durch die 50 Euro, die Krankenkassen pro Diamorphin-Patient am Tag zahlen, nicht ausgeglichen.

Eine Mitarbeiterin in Peschels Praxis zieht eine Spritze mit Diamorphin-Lösung auf.
Eine Mitarbeiterin in Peschels Praxis zieht eine Spritze mit Diamorphin-Lösung auf.
© Kitty Kleist-Heinrich

Schließlich kam Thomas Peschel aus Hannover nach Berlin. Schon in Hannover war er in der Diamorphin-Praxis der Universitätsklinik tätig. Dort habe er beobachtet, dass Diamorphin-Patienten seltener kriminell wurden, ihre Partnerschaften eher pflegten. Studien aus sechs Ländern hätten gezeigt, dass bestimmten Patienten so besser geholfen wird als mit Ersatzstoffen – deshalb bezahlen die Kassen die Diamorphin-Behandlung.

Die Praxis hat Peschel „Patrida“ genannt, Griechisch für Heimat. Die Droge kommt dorthin von abgesperrten Schlafmohnfeldern der Pharmaindustrie in Tasmanien über ein Schweizer Hochsicherheitslabor und ein geheimes Lager in Deutschland. Bewaffnete Lieferanten bringen das Heroin dann in den von der Polizei geprüften Praxistresor.

Der Andrang ist groß, auch Barn musste länger als ein Jahr warten, bis er einen Platz bei Peschel bekam. Weil er trotz Methadons noch Heroin spritzte, hatte ihm eine Sozialarbeiterin die Praxis in Wedding empfohlen. Peschel muss jeden Interessenten prüfen: Ist er tatsächlich abhängig, worunter leidet er noch? Ist er an anderen Therapien gescheitert, sind also die gesetzlichen Kriterien für die Heroinbehandlung erfüllt?

Ziel der Therapie ist nicht das Ende der Abhängigkeit

In Berlin, schätzt Peschel, kämen 500 Männer und Frauen für die Diamorphin-Therapie infrage. Im Senat hat man das erkannt. Die Landesdrogenbeauftragte Christine Köhler-Azara sagt, Peschels Arbeit sei wichtig, sie ergänze andere Programme der Suchthilfe. Endlich werde in einigen Monaten eine zweite Diamorphin-Praxis in Berlin eröffnen.

Wenn Peschels Patienten aufhören, Heroin zu nehmen, freut das den Arzt. Ziel der Therapie ist es nicht. „Ich habe nicht die Absicht, die Leute abstinent zu kriegen“, sagt der Arzt. „Manche Patienten versuchen es und sind dabei so unglücklich, dass sie an Alltäglichem scheitern, sich völlig isolieren.“ Derzeit arbeitet ein Drittel seiner Patienten regelmäßig – die meisten von ihnen hatten vor fünf Jahren keine Aussicht auf einen Job. Der Besuch in der Praxis helfe, den Tagesablauf zu regeln, das Leben zu stabilisieren.

Ziemlich instabil war das Leben von Susanne Rieger, als sie 2014 aus Bayern nach Berlin zog. Rieger ist groß, schlank, die Blässe gleicht sie durch farbenfrohe Gewänder aus. In der Praxis holt sie heute nur Tabletten ab. In Bayern war Rieger, die nicht unter ihrem echten Namen sprechen möchte, wegen Heroinhandels verhaftet worden. Das Gericht erkannte nach Paragraf 35 des Betäubungsmittelgesetzes auf Therapie statt Haft. „Doch auf Methadon bist du ein Zombie“, sagt sie. „Ich wurde rückfällig.“

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Auch ihr Leben hätte mehr Zuversicht gebraucht. Als Rieger elf Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Sie kam auf eine Klosterschule, fing mit 13 zu kiffen an, trank Alkohol, flog von der Schule. Mit 15 zog sie zu ihrem Freund, mit 16 bekam sie ihre erste Tochter, mit 18 den Realschulabschluss. „Alles war zu viel“, sagt Rieger. „Ich war überfordert.“ Sie probierte die Labordroge Crystal Meth. In einer Therapie lernte sie ihren neuen Freund kennen, sie zogen aufs Land: „Leider finde ich in einem Dorf mit 500 Leuten den einzigen Junkie.“ Ein Nachbar, das Spritzbesteck schon bereit, bot ihr Heroin an.

Drogen habe sie nur noch gemieden, wenn sie schwanger war. Ihr Sohn kommt 2002, ihre zweite Tochter 2006 zur Welt. Peschel hält das für plausibel – immer wieder hörten Konsumenten mit dem Spritzen, Rauchen, Schniefen auf, wenn es einen für sie bedeutsamen Grund gebe. „Ich war diskret“, sagt Rieger. „Bis ich 2014 in Haft kam, haben die Kinder kaum was mitbekommen.“

Immer wieder finden Süchtige zurück ins Leben – dank Peschel

Rieger heiratete 2009 ihren Mann. Nun nahm sie Fentanyl, der aus dem gleichnamigen Medikament gekochte Wirkstoff ist stärker als Heroin. Nach ihrem Gerichtsprozess in Bayern, die Kinder lebten damals bei Verwandten und Pflegeeltern, begann sie in Berlin die angeordnete Therapie. Vergebens. Im Januar 2016 kaufte sie am U-Bahnhof Moritzplatz „eine Kugel“, handelsüblich in Folie gewickeltes Heroin: „Ausgerechnet in Berlin gibt’s nur Dreckszeug.“ Ihr Mann starb in einem Hausflur in der Osloer Straße an einer Überdosis.

Rieger suchte gezielt nach einer Diamorphin-Praxis. In den ersten Wochen habe sie sich bei Peschel drei Dosen am Tag gespritzt, nach ein paar Monaten zwei, schließlich eine. Heute arbeitet sie in einem Hotel im Service, hilft auch in der Küche. Die Kinder wohnen bei ihr. Das Jugendamt, sagt sie, sehe da keine Gefahr. Ihr Sohn sei Klassenbester. Und Rieger malt. So gut, dass eine Neuköllner Galerie einige Bilder ausgestellt hat. Peschel hat ihr ein Bild abgekauft. In kräftigen Ölfarben ist darauf zu sehen: Amy Winehouse. Die Sängerin nahm Heroin, sie starb an einer Alkoholvergiftung.

Hagen Barn wird am nächsten Tag wieder in der Praxis klingeln, sich eine Spritze setzen. Dann zur Arbeit fahren, später nach Hause zu seiner Frau. Die beiden heirateten kürzlich. Heute wiegt Barn 92 Kilogramm. Susanne Rieger wird demnächst nicht zu Peschel gehen. Sie braucht den Stoff gerade nicht.

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