Dissidenten, Despoten und Doktoren: Wie die Charité zu einem politischen Krankenhaus wurde
Alexej Nawalny, Staatschefs, selbst die Kanzlerin – sie alle werden in der Charité behandelt. Über Schusswaffen am Krankenbett und geheime Patienten.
Die Kameramänner filmen die Auffahrt zu Berlins bekanntestem Klinikgebäude. Ununterbrochen, seit Tagen. Bloß nicht den Moment verpassen, in dem Alexej Nawalny, seine Familie oder sein Arzt zu sehen sind.
Seit Russlands Oppositioneller in der Charité behandelt wird, stellten Sender aus ganz Europa ihre Reporter vor dem Hochhaus in der Luisenstraße ab. Vom Rummel vor dem Bettenturm ist Heyo Kroemer inzwischen genervt.
Den sonst so besonnenen Charité-Vorstandschef ärgert, dass die Kranken, ihre Besucher und sein Personal den Kameras machtlos ausgeliefert sind. Man bekäme die Fernsehteams kaum weg, sagt Kroemer, weil sie formal auf öffentlichem Straßenland stünden.
Dauernd im Blick der Öffentlichkeit, ständig Telefonate mit Berlins Senat, zuletzt gar mit dem Kanzleramt, dazu die Personenschützer des Bundeskriminalamtes, die auf der Charité-Nephrologie, wo Vergiftungen behandelt werden, ihre Posten bezogen haben. Kroemer hat zügig gelernt, was das heißt: die politischste Klinik des Landes, vielleicht des Kontinents zu leiten.
Seit fast einem Jahr ist der Pharmakologe – 60 Jahre, drei Kinder, Friese – Chef der Charité.
Und Nawalny, der dort in der Nephrologie versorgt wird, ist nicht deren einziger Polit-Patient, auch nicht der erste Dissident aus Russland, der in Berlins landeseigener Universitätsklinik um Hilfe ersucht. Prominente, zumindest sicherheitsrelevante Patienten kommen oft. Zuletzt unter anderem aus der Ukraine, dem Irak, Libyen. Ob Dissidenten oder Despoten – zuweilen werden Flure gesperrt, bewaffnete Posten aufgestellt und Klarnamen vermieden. Werden deutsche Politiker in der Hochschulklinik behandelt, wirkt das auf einige der Ärzte dann fast wie Routine.
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Warum die Charité? Bekannte, bedrohte Patienten werden auch in Stockholm, Wien, Zürich behandelt. Aber gerade in Osteuropa, Zentralasien und Nordafrika genießt Berlin einen exzellenten Ruf. Der Mann, der diese Traditionen geprägt hat, ist Krömers Vorgänger: Karl Max Einhäupl, 73, Neurologe, elf Jahre Charité-Chef.
Ein Anruf beim früheren Vorstandschef. Er hatte seinerzeit Versuche abzuwehren, die Charité zu zerschlagen. Zumindest wollte Ex-Bürgermeister Klaus Wowereit das Großkrankenhaus in der heutigen Form nicht. Einhäupl ist überzeugt: Alle vier Standorte, also die Forschungsstätte in Buch, das Benjamin-Franklin-Klinikum in Steglitz, der Campus in Wedding und der in Mitte seien nötig gewesen, damit die Charité ihren Ruf aufrechterhalten konnte. Dazu kam der auch von Wowereit beworbene Glamour Berlins als Kulturmetropole. „Das Wichtigste aber ist, dass international bekannt ist, dass die Charité medizinisch ganz oben mitspielt“, sagt Einhäupl. „Und eben auch, dass sich Charité-Experten nicht instrumentalisieren lassen – von keiner Seite.“
Timoschenko ließ sich umgehend in der Charité untersuchen
Einhäupl selbst hat 2012 dahingehend Erfahrungen gemacht. Als Charité-Chef reiste er auf Wunsch der geschassten Julia Timoschenko in die Ukraine: Die frühere Regierungschefin saß wegen Korruptionsvorwürfen in Charkiw in Haft. Ihr Rückenleiden wurde, so der Vorwurf, dort nicht angemessen behandelt. Kiews Behörden gestatteten Einhäupl, die Gefangene zu untersuchen – obwohl die Ukraine nach keinem Gesetz dazu verpflichtet war, deutsche Staatsbürger in einer ukrainischen Anstalt tätig werden zu lassen. Zwei Jahre danach kam Timoschenko frei – sie ließ sich umgehend in der Charité untersuchen.
Neutralität, das Vertrauen auch politischer Antipoden nicht missbrauchen, ist das eine. Diskretion das andere. Despot oder Dissident – für jeden gilt der deutsche Datenschutz und die ärztliche Schweigepflicht. Nur wenige Patienten erklären sich damit einverstanden, dass über ihren Aufenthalt an der Charité gesprochen werden darf. Nawalnys Familie machte dessen Behandlung in Berlin öffentlich. Auch Timoschenko hat ihre Behandlung als Anklage gegen ihre Nachfolger in Kiew ausschlachten lassen.
Anderen, politisch heiklen Patienten widerstrebt es, aus ihrem Patientendasein ein Politikum zu machen: Dutzende Minister, Generäle, Diktatoren wollten in den vergangenen Jahren diskret in Berlin behandelt werden. In der Klinik kursieren Hinweise auf Präsidenten, Chefdiplomaten, Würdenträger asiatischer und afrikanischer Staaten. Volle Namen und Krankheitsbilder dieser Patienten kennen nur zwei, drei Ärzte, der Charité-Vorstand und das Kanzleramt.
Dennoch ist kaum zu vermeiden, dass über Kranke, die von Personenschützern abgeschirmt und deren Papiere nicht an den üblichen Schreibtischen abgezeichnet werden, gesprochen wird.
Besonders heikel soll es während des Arabischen Frühlings zugegangen sein. In Libyen eskalierte der Bürgerkrieg, vom Westen aufgerüstete Milizionäre, islamistische Banden und Bataillone des Herrschers Muammar al Gaddafi kämpften um das ölreiche Land – und Ärzte und Pflegekräfte der Intensivstation 144 auf dem Charité-Campus Mitte bereiteten sich auf schwierige Wochen vor.
Immer wieder waren Libyer dort behandelt worden. Der Campus in Mitte ist das historische Zentrum der Charité und bildete bis zur Wende die Ostberliner Hochschulklinik. Die Charité war das Vorzeigekrankenhaus der DDR und genoss seit in den Siebzigern einen Ruf als sicherer Behandlungsort – nicht nur unter sozialistischen Verbündeten. Schließlich arbeiteten schon in früheren Jahrhunderten in den noch heute genutzten Bauten roter Backsteingotik solche Mediziner, die bald weltweit bekannt wurden: Rudolf Virchow, Robert Koch, Emil von Behring, Ernst von Bergmann.
Im Jahr 2011 nun kamen auf der Station 144, Schwerpunkt: Infektiologie und Pneumologie, verfeindete Verletzte an. Neben Funktionären des noch lebenden Gaddafi wurden Kommandeure der Aufständischen behandelt. Die Patienten, so heißt von Kennern, seien sich in der Charité allerdings nicht begegnet.
Schusswaffen am Krankenbett
Auf einer anderen Station wiederum, so wird intern berichtet, werden regelmäßig Spitzenfunktionäre aus Asien versorgt. Es habe – dem Wesen des Datenschutzes nach sind die Angaben unbestätigt – Verbandswechsel gegeben, bei denen Bodyguards eines Patienten mit Schusswaffen am Krankenbett standen. Ob, wann und wie genau ausländische Gäste hierzulande Waffen tragen dürfen, regeln bilaterale Absprachen, die wohl Verschlusssache bleiben.
Waffen am Bett? So dramatisch soll es bei Dschalal Talabani nicht zugegangen sein. Über Jahre wurde Iraks Ex-Präsident immer wieder in der Charité behandelt. Auch der kurdische Reformer, der im Nahen Osten von Islamisten und arabischen Nationalisten bedroht wurde, war geschützt untergebracht. Er starb 83-jährig 2017 in der Charité.
Bekannter sind die Umstände, unter denen deutsche Spitzenpolitiker in der Charité behandelt wurden. Der Campus in Mitte, wo der Vorstand um Heyo Kroemer seinen Sitz hat und sich der weithin sichtbare 82 Meter hohe Bettenturm befindet, grenzt an das Regierungsviertel. Der Bundestag, das Kanzleramt, die Botschaften am Brandenburger Tor sind fußläufig erreichbar. Auch zu dem nach Virchow benannten Campus in Wedding, zehn Autominuten weiter, kommen Bundespolitiker öfter. Zuletzt wurde Angela Merkel gesehen: Nichts Dramatisches, sagt ein Mitarbeiter, eher Vorsorge.
Neben der Kanzlerin waren Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und Peter Altmaier dort Patienten. Alle sind erfahrene Politprominenz, die das nicht verheimlichen. Wirtschaftsminister Altmaier zeigte sich dankbar, als er im Februar den Charité-Neujahrsempfang besuchte.
Nukleus einer Medizinmetropole
Er gewöhne sich daran, sagt Vorstandschef Kroemer, dauernd im Fokus zu stehen. Als er vor einem Jahr nach Berlin kam, hatte der Senat einen Nachfolger für Einhäupl gesucht. Weil die Charité wie eine Stadt mitten in Berlin funktioniert, weil sie Europas größte Hochschulklinik ist, kamen bundesweit zehn, vielleicht zwölf Topforscher infrage.
Senatschef Michael Müller erwartet von Kroemer, dass er Berlin mit der Charité als Nukleus zur internationalen Medizinmetropole ausbaut, dass die Erfolgsgeschichte also weitergeht. Patente anmelden, Abläufe digitalisieren, namhafte Ärzte rekrutieren. Das alles erfordert Geduld, zumal die Pandemie auch der Charité einen anderen Rhythmus aufgezwungen hat. Die Coronakrise kostet die Klinik zudem 75 Millionen Euro: Zusatzgeräte wurden besorgt, Projekte verschoben, lukrative Operationen abgesagt.
Kroemer verwaltet zwei Milliarden Euro Jahresumsatz, ist für 18.000 Mitarbeiter und 3000 Betten verantwortlich. Wer immer die Charité leitet, steht nicht nur einem Krankenhaus vor, nicht nur einer Forschungsstätte, was beides schwer genug ist, sondern einer Polit-Institution. Die Interessen des Senats, der Bundespolitik, der Krankenkassen, der Drittmittelgeber, der Pflegenden, Ärzte, Techniker, Reinigungskräfte gilt es auszubalancieren.
Es ist nicht die erste heikle Diagnose
Wer in die Welt ausstrahlen will, braucht zu Hause besser Ruhe. Kroemer, der zuvor Chef der Göttinger Universitätsklinik war, mache seinen Job hervorragend. Das sagen sie in der Senatskanzlei – und fast wortgleich in der Charité selbst. Das ist nicht selbstverständlich, denn unabhängig von der Debatte um den russischen Exilpatienten Nawalny steht es um die Ruhe schlecht.
Beschäftigte der Charité-Tochterfirma CFM streiken: Deren Transportmitarbeiter, Reinigungskräfte und Caterer fordern für sich den Tarifvertrag, der auch im Stammhaus der Hochschulklinik gilt. Das, so eine Kalkulation des Vorstands, würde die Charité 25 Millionen Euro mehr im Jahr kosten. Die Klinik müsste sich verschulden. Schulden aber sind im traditionell schuldengeplagten Berlin politisch unerwünscht.
Auch heute reden Einhäupl und Kroemer gelegentlich über die Lage. Dass mit Nawalny ein russischer Oppositioneller in der Charité versorgt wird, ist Einhäupl nicht fremd. Vor zwei Jahren hatte er einem ähnlichen Fall: Pjotr Wersilow, Aktivist der Polit-Punk-Truppe Pussy Riot, wurde in einem Ambulanz-Jet aus Moskau nach Berlin geflogen. Einhäupl sprach danach von einer „Vergiftung“, deren Ursache man nicht genau habe feststellen können.
Wer bezahlt solche Einsätze eigentlich? Zu Details äußern sich die Charité-Leute nicht. Nur so viel: Despoten haben ohnehin Zugriff auf Geld ihrer Staaten. Dissidenten verfügen zuweilen über Krankenkassen, häufig zahlen Familien, gelegentlich finanzstarke Helfer.
Zu Nawalny werden sich die Charité-Ärzte bald äußern. Dem internationalen Vertrauen schadet der Fall wohl nicht. Der Kreml teilte am Mittwoch mit, man rechne wegen der in der Charité festgestellten mutmaßlichen Vergiftung des Regierungskritikers nicht mit einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zum Westen.