Das Coronavirus behindert die Justiz: Wie Berlins Kriminalgericht gegen den Notstand kämpft
Richter mit Atemmaske, Angeklagte mit Angst vor Bewährung, nur ein Zehntel der üblichen Prozesse: Auch Berlins Kriminalgericht ist im Corona-Ausnahmezustand.
Vielleicht war Hans-Jochen U., in seiner Ohnmacht und Einsamkeit, der Welt da draußen nie näher als in diesem Moment. Verlassen sitzt er da, die Hände in den Schoß gelegt, still und blass. Wo zur Coronazeit so viele spüren, was es heißt, allein zu sein, ist der Dreher aus Stralsund kein sonderbarer Einzelgänger mehr. Nur dass sich Hans-Jochen U. seinem Schicksal längst ergeben hat.
Er schaut nicht durch den Gerichtssaal, er weiß, dass niemand gekommen ist, um ihm zur Seite zu stehen. Er blickt auf zur Richterin, er erwartet in seiner Anklagebox das Urteil.
„Ich geb’s zu“, sagt der Angeklagte. Neun Einbrüche hat die Staatsanwältin im Saal 101 des Berliner Kriminalgerichts aufgelistet, davon sechs Versuche, bei den drei vollendeten Taten brachte es Hans-Jochen U. auf eine Beute von insgesamt 161,60 Euro. „Was haben Sie sich von den Einbrüchen erhofft?“, fragt die Richterin. „Geld.“ „Wozu brauchten Sie Geld?“ „Eigentlich gar nicht.“
Hans-Jochen U. zählt zu den Stammgästen im Amtsgericht Tiergarten. Hans-Jochen U. ist mit einem überdurchschnittlich hohen IQ von 123 gesegnet, hat fast immer gut verdient, aber nie etwas davon gehabt. Unfähig, soziale Kontakte zu knüpfen, entwickelte der 44-Jährige eine gesellschaftsschädliche Marotte: Er geht auf Einbruchstour.
Vor der hölzernen Flügeltür warten drei Polizisten, die als Zeugen aussagen sollen, ein Gutachter geht hindurch, Journalisten stehen herum. Die Geschäftigkeit vor Saal 101 wirkt schon wie eine Erinnerung an das, was die Leute „damals“ nennen, aber noch im Februar Gegenwart war. Ein paar Meter weiter, wo sich sonst vor der Sicherheitsschleuse Angeklagte, Familien, Zeugen, Gutachter und Dolmetscher stauen, schauen die Sicherheitsleute seit Stunden gelangweilt ins Nichts. Atemschutzmasken baumeln neben den Handschellen am Gürtel.
Berlins Justiz befindet sich im Notbetrieb, in Europas größtem Kriminalgericht wird nur noch verhandelt, was nicht aufgeschoben werden kann. An einem Tag sind das noch fünf Prozent der sonst üblichen Prozesse, am nächsten zehn, mehr werden es nie. Mit jedem einzelnen Tag im Lockdown wird die Welle der sich anstauenden Verfahren höher bei der ohnehin überlasteten Berliner Justiz. „Einige von uns sehen das mit großer Sorge“, sagt Lisa Jani, Richterin am Amtsgericht und Sprecherin des Berliner Strafgerichts. „Das ist verheerend, was da auf uns zukommt“, sagt Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, Vorsitzender der Vereinigung der Berliner Staatsanwälte.
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Wohl nie hat das Gerichtsgebäude in der Turmstraße mit seiner lichtdurchfluteten Eingangshalle, den geschwungenen Treppen, in seiner Monumentalität absurder gewirkt als zu Coronazeiten. Es ist ja kaum noch jemand da, den es in seiner wilhelminischen Protzerei einschüchtern könnte. Abgesehen von den paar Gestrandeten und Verlorenen der Stadt, über die das Amtsgericht Tiergarten in diesen Tagen noch Recht sprechen muss. Kleinkriminelle, die in der Untersuchungshaft auf ihren Prozess warten, weil sie kein Zuhause haben, keinen Job oder keine Familie, bei denen also die Wahrscheinlichkeit hoch wäre, dass sie sich sonst einem Prozess und einer zu erwartenden Haftstrafe entziehen würden. Bei Untersuchungshäftlingen gilt ein Beschleunigungsgebot.
Menschen wie Hans-Jochen U. Wenn ihn nach Feierabend die Einsamkeit erdrückt, packt er ein Stemmeisen ein, um an verschlossenen Restauranttüren zu rütteln, dunkle Bürohäuser und verlassene Firmen zu durchstöbern und stellt sich dabei so dilettantisch an, dass ihn die Polizei fast jedes Mal erwischt. Seit Jahrzehnten geht das so, sagt der psychiatrische Gutachter im Saal 101: U. klaut Kleinkram, geht in den Knast, kommt raus, zieht wieder los. „So wie andere sich zwanghaft die Hände waschen.“ Nur im Gefängnis habe U. Kontakte gefunden, sein Leben Struktur.
Corona ist in jedem Prozess dabei
Ein Dienstag, mitten im Shutdown. Das Amtsgericht Tiergarten verhandelt neun Fälle, drei nicht öffentliche Haftprüfungstermine und sechs Haftsachen, darunter ist Hans-Jochen U., der manische Dreher. In einem anderen Saal geht es um einen Heranwachsenden, der im Oktober 2019 aus einem Handyladen vier Smartphones gestohlen haben soll. Ein anderer Angeklagter soll im Januar 2020 einen Mann auf offener Straße überfallen, zusammengeschlagen und ihm das Portemonnaie mit 950 Euro Bargeld abgenommen haben.
Die Verbrechen stammen alle aus der Zeit vor Corona, doch Corona ist in jedem Prozess dabei. Auch am Vormittag, als sich im Saal 101 ein weiterer Serientäter auf die Anklagebank setzt: Jens E., Schmied und Tätowierer, 1968 geboren, ledig, ohne festen Wohnsitz. E. wartet seit Januar in U-Haft auf den Prozess, weil er 2019 elf Mal in Supermärkten beim Ladendiebstahl erwischt wurde.
Die Anklägerin beginnt aufzuzählen: eine Flasche Weißwein im Wert von 4,91 Euro im Juli, Lebensmittel im Wert von 1,90 Euro im August, Lebensmittel und Weißwein im Wert von 7,48 Euro im September … Als ein Polizist Jens E. Handschellen anlegte, schimpfte der: „Du bist ein großer Wichser und du bist scheiße!“
Jens E. gibt alles zu, auch wenn er sich an kaum einen Vorfall erinnern könne. „Ab 13 Uhr war ich meistens stockbesoffen, hab mich in die S-Bahn gesetzt, um zu schlafen“, sagt er. Sein Mund ist fast zahnlos, die grauen Haare trägt er zum Zopf gebunden. Er habe mit 13 angefangen zu saufen, nichts konnte ihn von der Flasche abbringen, keine Haftstrafe, keine Therapie, keine Maßregel. Heute gehe es ihm besser, im Gefängnis helfe man ihm mit Tabletten durch den Entzug.
Auf Bewährung kann auch heißen: Virenschleuder sein
Der Verteidiger von E. weiß jetzt selbst nicht so recht, wofür er eigentlich plädieren soll: dass der Mann wieder auf Bewährung rauskommt – betrunken durch die Stadt irrt, sich mit Corona infiziert und selbst zur Virenschleuder wird? Andererseits sei es nur eine Frage der Zeit, bis Corona auch die Berliner Gefängnisse erfasse. Wo also wäre sein Mandant besser geschützt: vor dem Virus, dem Elend und sich selbst?
Jens E. hat sich längst entschieden, er gibt als letztes Wort zu Protokoll: „Draußen würde ich sofort anfangen zu trinken. Ich akzeptiere meine Strafe.“ Als ihn das Gericht zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, wirkt er erleichtert. Vor der Saaltür zuckt der Anwalt ratlos mit den Schultern. Er kenne das schon, zurzeit gebe es viele, die sich im Gefängnis am sichersten fühlen.
Dass sich das schnell ändern kann, weiß auch Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). „Die Haftanstalten bereiten mir gerade die größten Sorgen.“ Einzelne Krankheitsausfälle könne man verkraften, aber wenn die Amtsärzte ganze Schichten in Quarantäne schicken würden, sei die Situation eine andere. Daher bereite sich der Justizvollzug darauf vor. Berlin hat für Gefangene, die zu weniger als drei Jahren verurteilt wurden, die Vollstreckung der Haft bis zum 15. Juli 2020 aufgeschoben. 271 Gefangene, die saßen, weil sie ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten, hat man vorerst entlassen.
„Die Freiheitsstrafen werden nicht erlassen, sondern später vollstreckt“, sagt Behrendt. Außerdem hat Berlin den Jugendarrest geschlossen. Da die Justizbediensteten aber jeden Abend zurückkehren in die Stadt, zu ihren Familien, macht sich Behrendt keine Illusionen. „Wir werden Coronafälle ziemlich sicher auch in den Haftanstalten bekommen.“
Wer in Untersuchungshaft muss, kommt in Quarantäne
Es ist schon jetzt gespenstisch still geworden in den Justizvollzugsanstalten: Besuch bleibt untersagt, es gibt keine Therapie, keine Freizeitangebote, fast keine Arbeit. Wer in Untersuchungshaft muss, kommt in Quarantäne. Die Zellen, in denen sich Verteidiger mit ihren Mandanten beraten konnten, bleiben verriegelt. Genehmigt werden die Gespräche in dem einzigen Raum der JVA Moabit, der mit einer Sprechscheibe ausgestattet ist.
Die ersten Verteidiger haben in ihren Plädoyers diese Zustände beklagt und wegen der erschwerten Umstände um Nachsicht gebeten. „Das wird weitere Unruhe geben, wenn sich die Verteidiger nicht mehr vernünftig mit ihren Mandanten beraten können“, sagt Stefan Conen, der Vorsitzende der Vereinigung der Berliner Strafverteidiger.
Manche der älteren Richter verhandeln mit Atemmaske
Seit Mitte März betritt niemand mehr unerkannt das Kriminalgericht: Richter, Anwälte, Ankläger und Bedienstete müssen sich in eine Liste eintragen. In jedem Prozess werden Name, Telefonnummer und Privatadresse jedes Zuschauers und Journalisten registriert, um gegebenenfalls Infektionsketten nachvollziehen zu können. Vor allem die Richter der großen Strafkammern achten penibel darauf, dass im Saal der Sicherheitsabstand eingehalten wird, die Saaldiener verteilen Schöffen und Zuschauer auf den gesamten Saal. Manche der älteren Richter verhandeln mit Atemmaske, die große Mehrheit aber verzichtet darauf.
Bei der Staatsanwaltschaft sind 80 Prozent der Belegschaft ins Homeoffice verbannt. Eine Quote, von der Oberstaatsanwalt Knispel und seine Mordermittler im ersten Stock des Altbaus nur träumen können, weil sie bei den unaufschiebbaren Prozessen anwesend sein und die neu hereinkommenden Fälle bearbeiten müssen. Getötet wird in Berlin auch während der Krise – wenn auch weniger, weil die Menschen weniger Gelegenheiten haben, aufeinander loszugehen.
„Die Polizeistatistik 2020 wird ein Traum“, sagt Knispel. Dank Corona gebe es weniger Einbrüche, weil die Menschen zu Hause sitzen, weniger Taschendiebstähle, weil sich keine Touristen ins Gedrängel werfen. Weniger Partynächte und Großveranstaltungen führen zu weniger Körperverletzungen, und Zechprellerei ist so gut wie ausgestorben.
Ansonsten gibt es für den Vorsitzenden der Vereinigung der Berliner Staatsanwälte wenig Anlass zum Optimismus. „So einen Zustand hatten wir noch nie“, sagt Knispel. Er gehe davon aus, dass der Aktenberg, der sich gerade im Berliner Kriminalgericht auftürmt, „auf absehbare Zeit nicht komplett abgebaut“ werden kann. Etliche Verfahren würden im Zuge der Coronakrise „vor die Wand fahren“.
Ein Mann hat seine Tochter niedergestochen, der Prozess wird verschoben
Bei Straftaten „minderer Schwere“, also etwa Hausfriedensbruch, Betrug und Diebstahl, werde dann wohl öfter die Verjährung einsetzen, bevor ein Gericht das Urteil fällen kann. Um zu verhindern, dass große, oft schon seit Monaten laufende Prozesse platzen und nach der Krise noch einmal von vorn beginnen müssen, dürfen sie jetzt auch für länger als drei Wochen unterbrochen werden.
Am Montag trat die neue Unterbrechungsfrist in Kraft, am Dienstag beruft sich die 22. Große Strafkammer im Berliner Kriminalgericht darauf und schiebt den Prozess gegen einen 77-Jährigen auf, der seine Tochter niedergestochen und schwer verletzt hat.
Richter sind unabhängig, letzten Endes sind sie es, die entscheiden, ob ein Prozess stattfindet oder nicht. „Wir haben als Richter ja auch eine Fürsorgepflicht“, sagt Sprecherin Lisa Jani. Alles müsse gegeneinander abgewogen werden: Gibt es Schöffen mit Vorerkrankungen? Zeugen aus der Hochrisikogruppe? Einen Wahlverteidiger über 70? Jani selbst spürte am Abend des 12. März Grippesymptome, haderte, ließ dann am nächsten Tag „die erste Hauptverhandlung in meinem Leben“ platzen. Sie und ihre Kollegen wissen: „Das wird ein enormer Kraftakt, das wieder aufzuholen.“
Die Antwort, wie das zu schaffen sein soll, hängt davon ab, wen man fragt: Justizsenator Behrendt gibt sich zuversichtlich, dass dank der in den vergangenen Jahren neu eingestellten Richter der Stau aufgelöst wird. Auch Strafverteidiger Conen meint, dass Berlins Justiz einen zweimonatigen Notbetrieb überstehen könnte, ohne einem Kollaps zu erliegen. Im Bereich der Kleinkriminalität könne man mit großzügigeren Einstellungen arbeiten. Andere mutmaßen, dass Amtsrichter nach der Krise statt an zwei vielleicht an drei Tagen verhandeln müssen.
Er hat erzählt, dass er sich im Gefängnis wohler fühlt
Im Saal 101 ruft der Justizwachtmeister mittags einen der Polizisten in den Zeugenstand. Er berichtet, wie Hans-Jochen U., der manische Dreher, am 9. Oktober 2019 Verdacht erregte. Fünf Polizisten beobachteten den Mann, als er abends vor einem Restaurant an den Türen rüttelte und dann weiterzog zu einem verlassenen Geschäftshaus. Der Beamte kannte U., er hatte ihn bereits vor sechs Jahren festgenommen. Damals habe U. ihm erzählt, dass er sich im Gefängnis sowieso viel wohler fühle.
Hans-Jochen U. schiebt sich seine Brille zurecht, ansonsten nimmt er die Ausführungen im Verlauf der Verhandlung reglos zur Kenntnis. Was soll ihn noch überraschen? Nach 17 Vorstrafen. Am Dienstag verurteilt ihn das Amtsgericht zu weiteren 14 Monaten Haft.
Katja Füchsel
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