Berlins verborgene Schätze: Wie Alltagsgegenstände zu Ausstellungsstücken werden
„Ich hab das normale Leben“, sagt Peter Matuschek. 69.000 Objekte hütet der Leiter der Sammlung Alltagskultur im Depot des Berliner Stadtmuseums.
Neulich haben sie sich getraut und die Sauerkirschen probiert. Sie schmeckten prima. Peter Matuschek zieht die Kiste mit den Einmachgläsern aus dem Regal, eingeweckte Kirschen, über 100 Jahre alt. Einmachgläser im Museumsdepot? Was macht einen Gegenstand zum musealen Objekt? Wenn eine Geschichte in ihm steckt. Oder eine Weisheit, in diesem Fall das Wissen über Aufbewahrungssysteme, ganz ohne Plastik.
Auch die Entkerner aus Metall erzählen davon, die verwitterten Blechdosen, die historischen Emaille-Brotkästen. Der Fischeimer aus Kupfer mit punzierten Schmuckornamenten, Jahrgang 1762, verrät wiederum eine Geschichte vom Markt. Der Fisch lebte noch, das Wasser schwappte und schäumte, wenn die Hausfrau ihn nach Hause trug. Das Kupfer soll beruhigend auf die Fische gewirkt haben.
Serie: Berlins verborgene Schätze
- Warum selbst die Museen ihre eigenen Exponate nicht alle kennen
- Warum Kunst zu erhalten eine Lebensaufgabe ist – und Präzisionsarbeit
„Ich hab das normale Leben“, sagt Peter Matuschek, Leiter der Sammlung Alltagskultur beim Berliner Stadtmuseum und Hüter über 69.000 Objekte. Graubart, randlose Brille, gern mal karierter Schal – der Museologe hat etwas von einem gütigen Daddy. Seine Liebe zu all den Dingen im Spandauer Depot ist unüberhörbar, denn Matuschek ist ein fabelhafter Geschichtenerzähler.
Wegen der Menschen hinter den Objekten. Hier, in den Rollregalreihen im Erdgeschoss der Poelzig-Halle, werden keine Kunstschätze verwahrt, sondern die Schätze des Alltags. Nicht KPM-Kostbarkeiten oder Meißner Porzellan, sondern die preisgünstigen Imitate der einfachen Leute. Omas Sammeltasse, das Geschirr der Bürger, es füllt meterlange Regale gleich am Eingang zur Sammlung. Wertvoll ist es, weil echtes Leben dranhängt.
Was ist was, wo stammt es her, wie funktioniert es? Manchmal kommt Peter Matuschek sich vor wie der Professor aus der alten Fernseh-Rateshow „Dingsda“.
Da, dieses hohe Doppel-Kantholz zum Beispiel. Matuschek lässt einen rätseln, wozu der Zweimeter-Stab gut ist, zieht ihn dann auseinander und, zack, wird eine Leiter daraus. Passt auch in die kleinste Hütte. Oder das Demo-Pappschild, einer der jüngsten Neuzugänge, „Stop Mieten-Explosion!“ steht darauf. Gentrifizierung, die Wohnungsmarktkrise – spätere Generationen können sehen, was die Stadt so umtrieb zu Zeiten von Rotrotgrün. „Die Systeme kommen und gehen, das Museum bleibt bestehen“: Matuschek mag griffige Sätze.
Feuerzeuge, aus Patronenhülsen zusammengeschweißt
All die Alltagskulturgüter sind Symptome ihrer Zeit, Indizien für die real-berlinischen Verhältnisse in den letzten 200, 300 Jahren. So war es, so ist es wirklich. Und ja, den Krieg, den Nationalsozialismus hat es tatsächlich gegeben.
Etwa hier, die Schreibmaschine mit dem SS-Zeichen über der Ziffer 5, ein Behörden-Exemplar aus Lichtenrade. Bei den privaten Geräten waren die NS-Runen auf der Taste mit der 3 untergebracht. Angeblich eine Unglückszahl: Heinrich Himmler hing dem Germanen-Kult an, er soll abergläubisch gewesen sein. „Der alte Herr, von dem wir sie haben, hat als Bub bei Kriegsende wohl mit seinem Vater geplündert“, meint Matuschek.
Überhaupt, die Kriegsresteverwertung. Der Depotchef öffnet einen weiteren Vitrinenschrank, kramt eine Petroleumlampe aus Gasmaskenresten hervor. Und Feuerzeuge, aus Patronenhülsen zusammengeschweißt. Die allermeisten Dinge hier im Depot verdanken sich der Kunst der Berliner, aus dem Leben das Beste zu machen.
4,5 Millionen Objekte verwahrt das Stadtmuseum insgesamt, in 25 Sammlungsbereichen von A wie Alltagskultur über Keramik, Reklameschilder und Spielzeug bis zu Z wie Zoologie. Fast alle Abteilungen sind mit ihren Depots inzwischen in Spandau vereint. Der doppelgeschossige Backsteinbau war 1928 von Hans Poelzig als Kabelwerk errichtet worden.
Dauerausstellungen sind nur die Spitze des Eisbergs
Man vergisst das ja leicht: Im Museum wird nur ein Bruchteil der Kollektionen präsentiert, die Dauerausstellungen bilden nur die Spitze des Eisbergs. Und wie behält man bei der Unmenge den Überblick? Ob Kronleuchter, Spazierstöcke, Radioapparate oder Bettpfannen: Matuschek sortiert die Dinge ähnlich wie im Kaufhaus. Hier die Elektronik-Abteilung, da die Lampen, dort der Haushalt, eine kleinere Ecke mit „Vor- und Frühgeschichte“, sprich: 18. und 19. Jahrhundert.
Zum Beispiel die sogenannten Bernstein-Nester, die beim Reichstagsbau im Berliner Sandboden auftauchten. Oder eine vom Wasser zerdrückte Tonflasche, objet trouvé aus der Spree. Und ganz hinten die Schwerlastregale mit Mopeds, Kochherden, Bäckereimaschinen. Ein Trabi steht da, in eine Plastikplane eingewickelt, Matuschek hätte gern auch noch einen Käfer.
Natürlich wird auch nach Kräften inventarisiert. „Lanzenspitze, Bronze, 170 mm, Gewicht 110 g“ lautet der allererste Inventareintrag des Stadtmuseums vom 1. Oktober 1874. Ein Geschenk des Köpenicker Oberförsters. Zahlreiche Stücke in dieser etwas anderen Berliner Schatzkammer stammen von Beamten oder Behörden.
Die lackierte „Notstandsprogramm“-Holztafel mit hechelndem, Baum-pflanzendem Berliner Bär fand sich im Nachlass der ersten Jugendsenatorin. Notstandsprogramm? 1950 war die Arbeitslosigkeit hoch, die Stadt holte 50.000 Menschen von der Straße, die Siegermacht USA ließ sich das 20 Millionen D-Mark kosten.
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„Wir leben zu 95 Prozent vom Generationenkonflikt“
Das meiste kommt jedoch aus privaten Schenkungen. „Wir leben zu 95 Prozent vom Generationenkonflikt“, verrät Matuschek. Die Eltern geben ihren Hausstand ins Museum, weil sie ihren Kindern nicht über den Weg trauen. Und die Kinder melden sich, weil sie den Krempel der Alten loswerden wollen.
„Ich ziehe ins Pflegeheim, der Umzugswagen kommt in drei Stunden.“ Den Satz hört der Abteilungschef öfter am Telefon. Nicht immer rast er dann gleich los mit seinem Team. Aber wenn er auf Nachfrage erfährt, dass die alte Dame seit 1935 nicht mehr umgezogen ist und noch Teile der Ersteinrichtung vorhanden sind, „dann denke ich, holla, das könnte sich lohnen“.
Klar, er trifft auch auf Messies, auf Sammelwütige, auf bis zur Decke vollgestopfte Wohnungen. Und er muss Zeit mitbringen für Kaffee und Kuchen, nicht immer ist es schmackhaft. Wer Alltagskultur sammelt, braucht sozialarbeiterische, altenpflegerische und familienpsychologische Qualitäten.
Wobei Peter Matuschek von Haus aus eigentlich Orthopädietechniker ist. Weil er später Restaurator werden wollte, lernte er in den 80er Jahren beim Salinemuseum Halle, wurde jedoch „einvernehmlich gekündigt“. Er hatte sich eher unkritisch über Republikflüchtlinge geäußert. Nach diversen Jobs in Berlin fing er 1986 beim Märkischen Museum an, zunächst als Pförtner. Sein Museologen-Diplom erwarb er im Fernstudium – mit West-Abschluss, 1992.
Er läuft immer mit Beutel durch die Stadt
Zu der Zeit war die Zusammenlegung der städtischen Museen – vor allem des Märkischen Museums im Ostteil und des Berlin-Museums im Westteil der Stadt – in vollem Gange. Was auch Stellen kosten sollte: Matuschek entdeckte einen K.W.-Vermerk in seiner Personalakte, kontaktierte den Regierenden Bürgermeister persönlich und führte Eberhard Diepgen durchs Ephraim-Palais. Ein Museumsmann aus Leidenschaft, Matuschek konnte bleiben. Bis heute läuft er sicherheitshalber mit Beutel durch die Stadt, man weiß ja nie, was man so findet.
2018 meldete sich Else Fielitz und bot einen historischen Werbe-Aufsteller vom Café Regensburger unweit des Viktoria-Luise-Platzes an. Hier traf sich in der Weimarer Zeit die Künstlerbohème; der „Kundenstopper“ verspricht Frühstücks-Gedecke ab 50 Pfennig. Das Schild ließ sich leicht ins Depot transportieren, Matuschek ist einfach mit ihm in den Bus eingestiegen. Im Oktober wurde es im Stadtmuseum am Köllnischen Park als Objekt des Monats präsentiert.
Weltgrößte Sammlung elektrischer Zigarettenanzünder
In den Regalreihen 16 bis 18 sieht es ein bisschen aus wie im Technikmuseum: Radios, Tonbandgeräte, Rechenmaschinen, der erste iMac, Bildplatten, ein Braun’scher Schneewittchensarg stehen hier dicht an dicht, auch ein Tefifon, der Vorläufer des Kassettenrekorders samt Operetten-Mitschnitten.
Wieder weiß Matuschek die Geschichten dazu: Der Kofferempfänger mit der im Deckel integrierten Stabantenne war eigens für Hitlers Olympiade 1936 entwickelt worden. Und der Volksempfänger mit Steckvorrichtung für Lang- und Kurzwelle wurde vor allem von Leuten gekauft, die gern und bequem Feindsender hören wollten. Die Geräte waren teuer, 300 bis 500 Reichsmark, aber sie verkauften sich bestens. Und der Kutschen-Taxameter beweist, dass Taxifahren in Berlin einmal billiger war.
In Reihe 25 zeigt Matuschek stolz die weltgrößte Sammlung von elektrischen Zigarettenanzündern. Eine Berliner Erfindung, war eine Zeitlang in Mode, aber hat sich nicht durchgesetzt. Ein anonymer Spender hat das Konvolut aus Zink-, Bronze-, Messing- und Halbedelstein-Anzündern dem Museum vermacht.
Die digitale Erfassung? Eine Geduldsprobe
Apropos Provenienz: Im Obergeschoss des Poelzig-Baus sitzt Praktikantin Caroline Janick und erfasst seit Monaten die Metallobjekte der Alltagssammlung. Noch ist das Riesenprojekt der digitalen Erfassung sämtlicher Stadtmuseumsbestände nicht abgeschlossen. Eine Geduldsprobe: Bezeichnung, Material, Maße, Entstehungsjahr, Herstellungsort, Vorbesitzer, Ankauf, Schenkung, beschädigt oder intakt – das alles wird akribisch festgehalten. Aber es dauert: Wer in der Online-Sammlung des Museums stöbert, wird bei „Fischeimer“ fündig, nicht jedoch bei „Tefifon“ oder „Zigarettenanzünder“.
Die größte Herausforderung besteht für Peter Matuschek immer wieder darin, Anrufern freundlich zu erklären, dass nicht jeder Bierdeckel fürs Museum taugt. Und dass er nicht sofort vorbeikommen kann. Bei der Dame, die die Gewichte-Sammlung ihres verstorbenen Lebensgefährten anbot, konnten sie schließlich mit einem 7,5-Tonner vorfahren.
Serie: Berlins verborgene Schätze
- Warum selbst die Museen ihre eigenen Exponate nicht alle kennen
- Warum Kunst zu erhalten eine Lebensaufgabe ist – und Präzisionsarbeit
Bei der Badewanne von Fanny Hensel, einer massiven Keramikwanne Marke Rosenthal, musste es schnell gehen. Die Wanne der Komponistin und Schwester von Felix Mendelssohn dem Museum ist ein Stück Stadtgeschichte: Hensel verkehrte in den Salons der Romantik, wer weiß, vielleicht lag sie vor den Künstlertreffs in genau dieser Wanne. Als der heutige Besitzer sie dem Museum vermachte, war dummerweise gerade nur ein Kollege abkömmlich, und ein Ford-Transit. Sie haben dann reichlich vom Prinzip der schiefen Ebene Gebrauch gemacht.