Berlins verborgene Schätze: Warum selbst die Museen ihre eigenen Exponate nicht alle kennen
Zwischen rund 70.000 Ausstellungsstücken aus der Südsee sorgt Peter Jacob im Depot des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem für Ordnung.
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte dieser Weg auch durch die Katakomben eines Krankenhauses führen: lichtlose Gänge, Betonwände, graue Stahltüren, mal geht es links, mal rechts ab. Besucher ohne Begleitung würden sich hier sofort verirren, aber da ist die Gruppe auch schon bei Peter Jacob angelangt. Der Depotverwalter strahlt über das ganze Gesicht und begrüßt in seinem Reich, dem Katalograum der Südsee-Abteilung des Ethnologischen Museums.
Serie: Berlins verborgene Schätze
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Wie eine Majestät trägt er heute als Farbe seines Arbeitskittels ein königliches Rot. Die Restauratorin Leonie Gärtner, mit der er im Dahlemer Magazin zusammenarbeitet, zieht einen weißen Kittel an und verteilt schon einmal die Atemmasken für später, wenn es zu den Objekten der Ozeanien-Sammlung geht. Sie dienen als Schutz vor Chemikalien, mit denen man die Stücke einst gegen Schädlinge behandelte. Damals wurden die Gifte Lindan und DDT, davor sogar Schwermetalle wie Quecksilber und Arsen gegen Insektenbefall und Schimmel eingesetzt. Wer im Depot arbeitet, muss sich schützen. Eine Sicherheitsmaßnahme, die manchen Besucher irritiert. Eine Sicherheitsmaßnahme, die manchen Besucher irritiert. Ist die Arbeit hier gefährlich? Überhaupt: Was machen die Bauschäden, die im vergangenen Sommer bekannt wurden?
Die Mutter aller Registraturen
Leonie Gärtner winkt ab. Anders als beim Bauteil 4, dem größten Depot in Dahlem mit der Afrika- und Südamerika-Sammlung, das für ein Jahr wegen Einbau einer Feuerlöschanlage geschlossen werden muss, kann sie kontinuierlich weiterarbeiten. Aber der über 50 Jahre alte Bau weist entsprechend Mängel auf und muss ertüchtigt werden.
„Hier ist der Hauptkatalog, die Mutter aller Registraturen“, empfängt Peter Jacob mit beinahe feierlichem Ton die Gäste und umfasst mit breitem Gestus den wenige Quadratmeter großen Raum, in dem sich sein Schreibtisch, Stahlschränke und eine halbe Wand altmodischer Karteikästen befindet. Willkommen in der Hirnkammer des Museums für Ethnologische Kunst, hier laufen die Fäden der Südsee-Abteilung wie Nervenbahnen zusammen. Hier ist jedes der rund 70 000 Objekte registriert, die zum größten Teil im Depot lagern, wenn sie nicht in der Schausammlung ausgestellt sind.
Eine halbe Million Exponate
Insgesamt lagern in Dahlem 550 000 Exponate, nur 3 Prozent zieht nach Mitte ins Humboldt-Forum um. Diese unsichtbare Verbindung zwischen realem Stück und seiner schriftlichen Hinterlegung macht es erst möglich, unter der Vielzahl etwa an Speeren, Lanzen, Pfeilen das Gesuchte in diesem Schrank oder jenem Regal wiederzufinden.
Mit gewissem Stolz greift der studierte Historiker und Museologe ein schwarz gebundenes Buch heraus, den allerersten Katalog. Als Nummer eins ist eine Keule von den Fidschi-Inseln eingetragen, 1824 eingeliefert von einem Kapitän Hadlock für das königliche Kuriositätenkabinett. Immer wieder taucht sein Name in den Listen auf – mit Harpunen, Flitzebogen, Schneidemesser, Tabakpfeifenköpfe, die er nun aus Nordamerika und Kanada mitbrachte.
Krieg und Kunst lagen nah beieinander
Hadlocks Keule von den Fidschi-Inseln aber ist nicht nur das Urstück der Berliner Südsee-Sammlung, sondern auch ein besonders schönes Exponat. Von den geschnitzten Ornamenten, den vorstehenden Höckern rund um das wulstige Ende weiß man allerdings nicht genau, ob sie dem Gegner im Kampf besonders schmerzhafte Verletzungen zufügen sollten oder als Schmuck beim rituellen Gebrauch gedacht waren. Krieg und Kunst lagen nah beieinander.
Später holt Peter Jacob die Keule selbst aus einer Vitrine hervor, in der sie neben zahllosen weiteren hängt, die ihr zum Verwechseln ähnlich sehen. Doch zunächst geht es den windungsreichen Weg des Holzobjekts durch die diversen Ozeanien-Kataloge nach, die im Laufe der nächsten knapp 200 Jahre entstanden. Die immensen Neuzugänge der Sammlung sprengten den Rahmen, ein anderes Registrierungssystem musste her. Der nächste Schritt war in den 20er Jahren die Übertragung der Daten vom Buch auf Karteikarten, um die Übersicht zu bewahren. Auch davon gibt es noch die originale Karte der Keule von den Fidschi-Inseln. Auf Din-A-5-Format steht akkurat eingetragen, wann, in welchem Zustand und durch wen das Objekt in die Sammlung gelangte.
Statt zu zeichnen legt er nun Dateien an
Als nach Auslagerung im Krieg und durch die deutsch-deutsche Teilung der Gesamtkatalog nach Leipzig verschwand, war das für die Berliner Ethnologen die Katastrophe schlechthin: Zehntausende Objekte ohne Zuordnung. Zum Glück kehrte die Karteikarten zurück nach Berlin, und die Depotverwalter machten sich am neuen Standort in Dahlem schleunigst an die Überprüfung, was von den Stücken noch vorhanden war und wo genau sie lagen. Damit begann die dritte Phase der Katalogisierung, weiterhin auf Karteikarten, nun jedoch mit Schreibmaschine geschrieben.
Mit Peter Jacob ist die Südsee-Sammlung mittlerweile im digitalen Zeitalter angelangt. Nicht anders als seine Vorgänger nimmt er sich erneut jeden Flechtkorb, jedes Fischernetz, jede Maske zur Hand und misst nach. Doch statt zu zeichnen wie noch zu Beginn fotografiert er nun die Objekte und legt für jedes Stück eine Computerdatei an. Darin können dann auch die Restauratoren und Kuratoren alles Wissenswerte eintragen - bis zuletzt die Online-Freigabe erfolgt. Zwei Millionen Datensätze will die Stiftung Preußischer Kulturbesitz digital allgemein zugänglich machen. Die Forscherwelt da draußen wartet gespannt, auch um mögliche Ansprüche auf Rückführung an die Ursprungsvölker zu klären. Bislang sind Restitutionen in der Südsee-Sammlung die Ausnahme. Als Letztes wurden „Human Remains“, eine Mumie, die der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte gehörte und im Museumsdepot lagerte, einer australischen Delegation zurückgegeben.
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Zwei Drittel der Objekte sind schon digitalisiert
„Wie viele Objekte sich in der Sammlung befinden, wissen wir erst, wenn wir jedes einzelne Stück in der Hand gehabt haben“, lautet Peter Jacobs Antwort auf die Frage, wieviel Arbeit noch auf ihn wartet. Seit er vor 13 Jahren nach Berlin ans Ethnologische Museum wechselte, hat der Depotverwalter schon Erstaunliches geleistet. An einer Regalwand hängt ein Grundriss des Ozeanien-Magazins. Zwei Drittel der darin eingezeichneten Schränke sind grün markiert, das heißt: Die Bestände sind digitalisiert.
Allerdings gibt es auf seinem Plan wie bei den Landkarten der frühen Entdecker auch weiße Flecken. Dahinter verbergen sich vornehmlich jene später erst hinzugekommenen Schränke, in denen sich der Inhalt von rund 2000 Kisten befindet, die nach dem Mauerfall aus dem Leipziger Grassi-Museum nach Berlin zurückkehrten. „Wir gehören ebenfalls zu den ,Wendeopfern'“, sagt Peter Jacob mit gespielter Verzweiflung angesichts der entstandenen Enge. Der Umzug von 17 000 Objekten ins Humboldt Forum kommt ihm gelegen, gewinnt das Depot doch dadurch wieder Raum.
Außerdem mag Peter Jacob Entdeckungen. Nach seinem Lieblingsobjekten befragt, holt er eine große Schachtel hervor, in der sich Kinderspielzeug befindet, das ihn besonders entzückte, als er es das erste Mal in den Händen hielt: aus Palmblättern gebaute Windmühlen und Krabben. Und dann gibt es da noch einen Karton, der ihn sofort faszinierte.
Schmuck aus Vogelbälgern
Als er die Lade mit Halsschmuck herauszog, erlebte er einen Moment des Schreckens und der Schönheit. Erst bei näherer Betrachtung stellte Peter Jacob fest, dass der Schmuck aus zusammengefügten Vogelbälgern bestand. Die grünen, gelben, blauen Federn irisieren im Licht. Wie ein magisches Objekt wirken jene Halsketten, deren Glieder Vogelkrallen sind. Und noch ein weiteres Objekt zählt zu seinen Lieblingen: ein Bambusrohr aus Neu-Kaledonien, in das Bildergeschichten eingeritzt und eingebrannt sind. „Wie ein Comic“, begeistert sich Jacob.
Wer mit ihm und Leonie Gärtner durch das Depot der Südsee-Sammlung streift, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Da liegen geschnitzte Krokodile, Schlangen, Menschenleiber mit durchsichtiger Folie umhüllt zwischen den Regalen: Ahnenpfähle, zu groß um im Magazin aufgerichtet zu werden. In den gläsernen Schränken hängen dicht an dicht fragile Masken aus Neu-Irland, Palmwedel und kunstvoll geflochtene Schurze. Aufwendig bemalte Pfeile liegen übereinander gestapelt. Eine Modellarmada ist hinter Glas vor Anker gegangen.
Vorsichtig hebt Leonie Gärtner eins der Boote heraus und setzt es behutsam auf einem Rolltisch ab. Es ist die Miniaturversion eines großen Auslegeboots von der Insel Luf, das in seiner Originalgröße zu den großen Attraktionen in Dahlem gehörte und auch im Humboldt Forum wieder aufgebaut sein wird.
Restauratoren kennzeichnen, was sie ergänzen
Den traurigen Teil der Geschichte verschweigt Leonie Gärtner nicht. Die Bewohnerzahl der Insel hatte sich so weit reduziert, dass die Verbliebenen nicht genügend Männer für die Besatzung zusammenbekamen, um das schwere Boot ins Wasser zu ziehen. Dass die Dezimierung mit Attacken deutscher Kriegsschiffe weniger Jahre vorher zu tun hatte, die zahlreiche Häuser und Schiffe zerstörten, davon will Leonie Gärtner allerdings nichts wissen. Das 15 Meter lange Boot sei den Deutschen zum Kauf angeboten worden, betont sie. Gut möglich, dass auch die kleinen Schiffe nicht nur zur Erinnerung, sondern eigens für den Verkauf an europäische Sammler entstanden, Spielzeug sind sie jedenfalls nicht.
Begeistert verweist die Restauratorin auf Details, auf die Verzierungen an Bug und Heck, die starke Ähnlichkeit mit dem großen Berliner Boot. Wie beim Original sind die Planken aus Bambus, ist seitlich eine Kiste für die Ladung angebracht. Nur bei der Takelage, die aus Kokosfasern bestand und vollkommen zerfallen war, musste sich Leonie Gärtner etwas Neues einfallen lassen. Sie nahm stattdessen einen gewöhnlichen Baumwollfaden, der nur auf den zweiten Blick zu erkennen ist. Während früher die Restauratoren so weit wie möglich zu rekonstruieren versuchten, werden heute die Ergänzungen kenntlich gemacht. „Schließlich könnten wir uns auch irren“, erklärt Leonie Gärtner.
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Wie es wohl sein könnte, mit diesem Boot in See zu stechen? Kurz schweifen die Gedanken ab – bis einen die Wirklichkeit im Dahlemer Depot schnell wieder einholt, wenn der Blick wandert. In den Schränken wartet noch viel Arbeit.