Opfer der Stadtentwicklung: Wenn Neubauten Gemälde verschwinden lassen
Aus einer Stadt der Baulücken wird eine ohne, den Fassadenkünstlern gehen die Brandmauern aus – und bekannte Gemälde verschwinden. So wie dieser Tage das älteste Nachkriegswandbild Berlins.
Der Baum ist tot, hoch lebe der Baum.
Wenn Bäume fallen, finden sich immer Trauergäste, Menschen, die die Natur nicht nur als Ausflugsziel lieben, sondern wissen, dass das Leben ohne Baum nicht ist. Auch bei diesem Baum, der gar kein echter Baum ist, sondern nur ein gemalter, der „Weltbaum“ nämlich, kühn und gewaltig und bunt und künstlerisch platziert auf die Brandschutzmauer eines Hauses in der Straße Siegmunds Hof, Berlin-Tiergarten, in unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofes. „Mein Freund, der Baum“, sang in den späten Sechzigerjahren Alexandra, „ist tot.“
Man muss ihn wohl noch einmal beschreiben, obwohl ihn vielleicht jeder Berliner kennt, auch jeder Berlin-Besucher, der mal S-Bahn gefahren ist zwischen Bahnhof Zoo und Bellevue, weil der Baum inzwischen in die Jahre gekommen ist, weil seine Farben verblasst sind, weil er morsch geworden und seine Symbolkraft abgeblättert ist, weil er schon jetzt kaum noch zu sehen ist und demnächst gar nicht mehr, weil ihn dann ein siebenstöckiges, 32 Meter hohes Bürogebäude verdeckt. Der Bau hat schon begonnen.
Alle sind für ihn nur „Du“, alle haben nur Vornamen
Der Baum, größer als alle echten Bäume im Tiergarten, vielarmig, er scheint zu schreien aus Angst und vor Schmerz, denn von rechts unten kommt eine Maschine, eine Rakete, ein Auspuff, was immer man darin sehen will, um ihm, um ihr, der Natur, den Garaus zu machen. Ganz oben auf dem Gemälde fuhr von rechts ein Schiff durchs Bild, das brachte neue, junge Bäume nach Berlin.
Man musste kein studierter Kunsthistoriker sein, um die Moral in der Geschichte zu erkennen: Wir zerstören die Natur, wenn wir so weiter machen, müssen wir die Natur künftig importieren. Das Hoffnung und Rettung bringende Schiff hat die Zeit und die natürliche Vergänglichkeit von Wandmalerei inzwischen abblättern und verschwinden lassen. Wer darin Resignation vor den Zeitläuften sehen will, soll es so sehen.
Mein Freund, der Baum, ist tot. Auch der Berliner Aktionskünstler Ben Wagin ist so ein Baumfreund. Er ist nicht weniger ein Menschenfreund. Was sich unter anderem darin zeigt, dass er keine Unterschiede macht: Ob fremder Reporter, ob hochrangiger Politiker, ob Bundespräsident, sie alle sind für ihn nur „Du“, sie alle haben nur Vornamen, das war bei Brandt so, „du, Willy“, das war bei Weizsäcker so, „du Richard“.
Baumpate und Pflanzer und Ahnherr des Parlaments der Bäume
Mal fasst er den Gegenüber ans Ohr, mal fasst er ihn beim Gang durch das Viertel oder seine Wohnung, vertieft in seinen Erzählfluss, an der Schulter, nicht anbiedernd, nicht unangenehm, nur herzlich und so, als wollte er seine Ansichten über den Baum, die Natur, die Kunst nicht bloß mitteilen sondern einmassieren. Er lacht, er strahlt, er lacht viel, es strahlt viel, einer, der tief mit sich im Reinen ist. „Du bist ja ein Jahrhundertmann“, sagt er zur Begrüßung, was immer das bedeuten soll, ein Gewinnersatz ist es allemal.
Ben Wagin hat den Weltbaum in Tiergarten wachsen lassen. Inzwischen ist der Künstler fast 88 Jahre alt. Er, der als Baumpate und Pflanzer und Ahnherr des Parlaments der Bäume im Regierungsviertel und Retter des Gingko-Baumes in deutschen Gefilden bekannt wurde, hat das Gemälde 1975 initiiert und zusammen mit ein paar andern Künstlern auf die Wand gebracht.
Der „Weltbaum I“, das ist der offizielle Titel, war der Pionier von inzwischen fast 750 Wandbildern in Berlin, darin nicht enthalten all die Tags von Graffiti-Produzenten, deren Werke, je nach Sichtweise, zwischen Kunst und Schmierereien einzuordnen sind. Zumindest gilt „Der Weltbaum I“ als erste Berliner Wandmalerei der Nachkriegsgeschichte, so sieht es auch Norbert Martins, der wohl alle Wandbilder Berlins dokumentiert und zwei Bücher über sie veröffentlicht hat.
Konrad Adenauer, Friedrich der Große, Karl Marx, Rudi Dutschke
Im Hof der Esmarchstraße 26 in Prenzlauer Berg findet sich auf einer Brandschutzmauer ein gemaltes Portal, darin ein ebenfalls gemalter Baum, datiert bereits um 1890. Wandmalerei, sei es als Verschönerung von Zilles Hinterhofmilieu oder warum auch immer, existiert in Berlin also schon deutlich länger. Das Landesdenkmalamt Berlin listet zehn erhaltene großflächige Exemplare aus der Zeit um die Jahrhundertwende auf. Ihr Wert wurde – auch durch unermüdliches Engagement Berliner Bürger – von den Behörden erkannt, sie sollen ab diesem Jahr nach und nach renoviert werden.
Weil sie zu einer bedrohten Art gehören: Aus einer Stadt der Baulücken wird eine dichtens besiedelte – und es gibt verordnete Wärmedämmung. Die auf einer Wiese weidenden Kühe an einer Hauswand in der Kollwitzstraße: geschlachtet. Das einen Fußball Richtung Jahn-Sportpark kickende Berliner Bärchen in der Schönhauser Allee: ausgewandert. Die Rügener Kreidefelsen im Bötzow-Viertel – eingeebnet.
Immerhin gilt noch: Wer durch Berlin fährt oder läuft, kommt oft unweigerlich an Wandbildern vorbei. Zum Beispiel nicht weit entfernt vom „Weltbaum“ am Triptychon im Hinterhof der Uhlandstraße 187, vom Stadtbahnviadukt zu sehen, wo auf gleich drei Brandmauern Willy Brandt, Helmut Kohl, Konrad Adenauer, Friedrich der Große, Karl Marx, Rudi Dutschke und andere politische Größen zu sehen sind. Noch, denn das Wandgemälde, eines der größten Berlins, wird bald auch zugebaut werden. Eines der größten und eines der ältesten verschwinden.
Der Bausenator kam vorbei - und signierte das Werk
Die anderen wird man vorerst bewundern können, in Charlottenburg und Kreuzberg, Steglitz und Tempelhof, Gemälde, die Kunst auf die Straße und damit in die Öffentlichkeit bringen und nicht nur auf museale Leinwände.
Jedes zweite von ihnen ist prinzipiell gefährdet, wenn man dem Landesdenkmalamt glaubt, wonach nur gut die Hälfte aller dieser gelisteten Wandwerke unter Denkmalschutz steht. Es gilt: Gegen Eingriffe in die künstlerische Gestaltung schützt das Urheberrecht. Gegen eine Entfernung nicht.
„Street-Art“ ist der zeitgenössische Name für diese Bilder, und die war früher keineswegs kriminalisiert wie heutige Graffiti, sondern oft öffentlich gefördert. Nachdem Ben Wagin, nennen wir ihn ab jetzt nur noch Ben, weil ja zu seinen Eigenarten das Duzen jedweder Person gehört, als Ben also seinen „Weltbaum“ fertig gestellt hatte, kam der damalige Bausenator Harry Ristock vorbei und signierte das Werk. Damit schaffte es den Sprung vom bloßen Kunstwerk zur Stadtzugehörigkeit.
Wahrzeichen im Sinne des Brandenburger Tores, des Reichstages, des Alexanderplatzes, der Luftbrücke, sind diese Malereien gewiss nicht. Aber sie sind, vielfach nachgeahmt in anderen Städten der Republik, zumindest Zeitzeugen der Stadt, wie der Kampf der 68er, die Hausbesetzung und die Kreuzberger Nächte, die lang sind. „Berlin ohne die Bemalung der Brandschutzmauern ist denkbar“, sagt Daphne B, selbst Künstlerin und Mitstreiterin und Assistentin von Ben, „aber das ist eigentlich nicht denkbar. Der Weltbaum gehört doch nicht Ben, der gehört Berlin.“ Und dieser Weltbaum soll nun abgeholzt werden?
„20000 Euro würden reichen, um den Baum zu retten“
Ben selber wohnt gleich neben dem Weltbaum, am Rande des Hansaviertels. In einem Haus, dessen Erhaltung er, als es zum Abriss stand in den Siebzigerjahren, selber erkämpft hat, lohnend erkämpft hat, muss man wohl sagen. Die Haustür geht auf, man steht in einer Empfangshalle mit Freitreppe, von der aus wiederum eine breite Wandeltreppe empor führt, die, mal ganz subjektiv betrachtet, wohl schöner in Berlin nicht zu finden ist.
Dort steht Ben, er empfängt nicht, er begrüßt, hutzelig von Statur, groß im Herzen, und führt in seine Wohnung. Das ist in diesem Fall ein Atelier, eine Galerie, ein alleiniges Kunstwerk, ein Sammelsurium von Kunstobjekten, in dem kaum Platz ist für Sitzplätze oder Teetassen, weil alles vollgestellt ist mit Bens Kunst und seiner Naturverbundenheit. Kaum ein Werk, aus dem kein Blatt welkt, keine Skulptur, an der keine Erde klebt, alles ist Kunst, alles ist Natur.
„Das ist ein offenes Haus“, sagt Ben, und wie zum Beweis klingelt es nicht an der Tür, wenn Mitstreiter kommen, die haben Schlüssel. Wie Daphne B, die vor zwei Jahren auf dem Mittelstreifen der Straße des 17. Juni Panzersperren als Kunstobjekt installiert hat, zur Zeit aber mehr damit beschäftigt ist, Bens gefährdeten Weltbaum zu stützen. „20000 Euro würden reichen, um den Weltbaum zu retten“, sagt sie, „20000 Euro sind ja wohl lächerlich für eine Stadt, die täglich mehr als eine Million Euro ausgibt, um einen nicht funktionierenden Flughafen zu erhalten.“ 20000 Euro erscheinen für die Erhaltung eines Zeitzeugen in der Tat überschaubar zu sein.
Wandmalerei nimmt die Vergänglichkeit in Kauf
Ben lächelt dazu. Er schimpft dann auch mal ein bisschen, spricht von den „Ratten, die jetzt die Stadt übernehmen“. Aber ob er es so böse meint, wie das Wort „Ratte“ suggeriert?
In diesem Fall wären die Ratten die HGHI-Holding des Großinvestors Harald Huth, die Baugesellschaft, die ihr Bürogebäude vor der Brandschutzmauer in Siegmunds Hof errichten wird. Rote Bauzäune verdecken schon jetzt den Blick aufs Gemälde. Dahinter steht schweres Baugerät. Ab März wird das neue Gebäude hoch gezogen, in einem Meter Abstand vom Weltbaum.
Man könnte nun bei Ben Verdruss, Empörung, Wut erwarten, weil ein Teil des Lebenswerkes unwiederbringlich zerstört wird. Weil der Kommerz die Kunst zerschmettert, weil nicht mal die Ikonen des alten Berlins heilig sind vor dem Aufbau des neuen Berlins. Aber dem ist nicht so. Das mag daran liegen, dass auch Ben selber weiß, dass dieser Teil seiner Kunst per definitionem vergänglich ist. Wandmalerei ist der Natur ausgesetzt, nimmt, wenn nicht chemisch fixiert, die Vergänglichkeit in Kauf, spielt auch mit ihr.
Aber das möchte Ben nun außer Kraft setzen. Ein Plan ist es, seine Wand zu restaurieren, sie in ihren alten Zustand zu versetzen, das abgeblätterte und Bäume importierende Schiff zu erneuern, alle Farben aufzufrischen. „Bevor Oma oder Opa in die Erde versenkt werden, werden sie doch auch aufgehübscht“, sagt er, „lasst uns doch ein Event aus der Verkleidung des Weltbaums machen.“ Oma und Opa werden dann aber auch nicht mehr zu sehen sein, aus einem Meter Abstand sind allenfalls Rudimente zu erkennen, das Gesamtgebilde verschwindet. Zumal das Projekt schleunigst zu erstellen sei, bis März müsste ein Gerüst aufgebaut sein und die Künstler ihre Arbeit vollbracht haben, angeboten haben sich die Maler von XI-Design, einer Agentur, die große Wände mit kommerzieller Werbung gestaltet.
„Wir sind keineswegs an der Zerstörung von Kunst interessiert“
Der ausgebliebene Verdruss in der Künstlerwerkstatt Ben Wagin mag aber auch daran liegen, dass sich die Ratten gar nicht wie Ratten benehmen. Anruf bei Mirco Hillmann von der HGHI-Holding. „Oh, wir sind keineswegs an der Zerstörung von Kunst interessiert“, sagt er. „Wir werden uns mit Herrn Wagin zusammensetzen.“
Keine 24 Stunden später schickt er per Mail das Ergebnis einer Unterredung mit dem Künstler. Man habe intern feststellen müssen, dass eine Sichtbarkeit des Wandbildes „Weltbaum“ aus bautechnischen Gründen zukünftig nicht gegeben sein wird. Was bei so einer engen Bebauung logisch erscheint. Man habe sich dennoch mit Herrn Wagin verständigen können. Demnach sieht die Zukunft des Weltbaums so aus: Er wird an einem anderen Ort neu gestaltet. Die Baufirma bietet ihm eine Ausgleichsfläche am Bauprojekt „Tegel Quartier“ an. Zusätzlich unterstützt sie auch den Plan, den Baum nahe dem S-Bahnhof Friedrichstraße neu zu malen. Baugerüst und Material werden zur Verfügung gestellt.
„Eine weitere Option besteht in der Projizierung des Weltbaums auf die Hausfassade im Rahmen des Festival von City of Lights. Eine Erinnerungsstele außerhalb und ein Bild innerhalb des Gebäudes sind weitere Optionen“, schreibt die Holding.
„Darüber hinaus prüfen wir auch die Bepflanzung des Stadtplatzes mit Gingkobäumen, um Herrn Wagins Baumpflanzaktion zu unterstützen.“
Ben zeigt sich bisher sehr zufrieden. Der Baum ist tot, hoch lebe der Baum.
Helmut Schümann