Berliner Street Art: Auf der Lauer an der Mauer
Norbert Martins fotografiert seit den siebziger Jahren die Wandbilder der Stadt. Er organisiert Führungen durch die riesige Galerie.
Als Norbert Martins die Frau des Hauswarts auf das metergroße Bild an ihrer Hauswand ansprach, wusste die nicht, wovon er redete. Martins hatte an der Haustür am Kreuzberger Südstern geklingelt, weil er mehr über das Bild herausfinden wollte. Die Frau holte ihren Mann und fragte: „Hast du da mal ein Wandbild gesehen?“ Als auch der verneinte, zog die Dame ihre Schuhe an und lief mit Martins ums Haus. „Es war dezent, aber es war ein Wandbild, 20 Meter hoch“, sagt Martins.
Was manchen über Jahre hinweg einfach entgeht, dafür hat Norbert Martins ein Auge. Seit den siebziger Jahren fotografiert der 65-Jährige die Wandbilder der Stadt. Inzwischen lebt der Elektroniker im Ruhestand in Schildow, fährt aber regelmäßig mit seiner Frau auf Entdeckungsreise nach Berlin. Rund 700 Werke hat er gesammelt, mit Informationen zu Auftraggebern und Künstlern. Er schätzt, dass etwa 300 der Bilder noch existieren, der Rest ist nur noch auf seinen Fotos. Die Bilder verwittern, verschwinden durch Wärmedämmung und wenn Baulücken geschlossen werden, „jedes schmerzt“ Martins. Jetzt hat Martins sein zweites Buch mit einer Fotoauswahl veröffentlicht.
Das erste erschien 1989, kurz darauf fiel die Mauer. „Dann ging die Arbeit wieder von vorn los“, sagt Martins, denn auch in Ost-Berlin gab es schon damals jede Menge Wandschmuck. Heute kann Martins dort sogar meist das Jahr bestimmen, in dem ein Gemälde entstanden ist – sofern es vor der Wende war. „Damals haben die Künstler nicht so viele Farben bekommen“, sagt er. Das sieht man.
Die Wandbilder gehen meist auf städtische Initiativen zurück. Besonders bunt waren Charlottenburg und Kreuzberg. Heute sind laut Norbert Martins Marzahn, Hellersdorf und Lichtenberg führend in Sachen Wandkunst. Auftraggeber sind häufig Wohnungsbaugenossenschaften. In Lichtenberg entsteht gerade das nach Angaben des Auftraggebers größte bewohnte Wandbild der Welt auf der Fassade eines Wohnkomplexes, mit 22 000 Quadratmetern Fläche. Im Sommer soll das Werk an der Ecke Am Tierpark, Alt Friedrichsfelde fertig sein.
Die Wandbilder sind für Martins wie eine riesige Galerie. „Jeder kann sie besuchen und die Werke berühmter Künstler sehen.“ In Kreuzberg bietet er Führungen an. Er ist immer auf der Suche. Einmal erspähte er sogar aus dem Flugzeug ein Werk, das ihm noch unbekannt war.
Zum Glück ist nicht jedes Bild so versteckt wie das am Südstern. Norbert Martins erinnert sich daran, wie der Berliner Künstler Gert Neuhaus 1989 sein Werk „Phoenix“ in der Charlottenburger Wintersteinstraße vollendet hatte. Ein riesiger Dampfer scheint sich seinen Weg geradewegs durch die Häuser auf die Straße hinaus zu bahnen – ein Blickfang. „Damals war da noch eine Verkehrsinsel vor dem Bild, da haben die Leute ständig die Schilder umgefahren“, sagt Martins. Die mehr als 40 Bilder, die Neuhaus an den Wänden der Stadt angebracht hat, haben es dem Ehepaar Martins besonders angetan. Ihr gemeinsames Lieblingsbild ist Neuhaus’ „Gebrochene Fassade“ in der Obentrautstraße in Kreuzberg. Auf einer glatten Brandmauer prangt eine verwinkelte Hausfassade. Darüber zieht sich ein Riss, in dem die Venus von Milo sichtbar ist.
Mit dem ersten Wandbild der Stadt begann Norbert Martins’ Sammelleidenschaft. 1975 spazierte er mit seiner Frau am „Weltbaum I“ des Künstlers und Baumpaten Ben Wagin vorbei. Das Bild ist heute noch im Hansaviertel zu sehen – wenn auch deutlich verblasst. Margrit Martins witterte ihre Chance, ihren Mann aus dem Haus zu locken. „Ich gehe so gerne spazieren, er aber äußerst ungern“, sagt sie. Sie appellierte an seinen Sammlerinstinkt, und von nun an waren die Wandbilder das gemeinsame Ziel. Auch zum zweiten Buch hat Margrit Martins ihren Mann angespornt – auch wenn es das Ehepaar im Eigenverlag einiges gekostet hat.
Ein weiteres Familienmitglied haben sie schon angesteckt. Tochter Melanie schrieb ihr Examen über Wandbilder. Wenn er mal nicht mehr so oft nach Berlin kommen kann, hofft Martins, führt seine Tochter die Sammlung fort.
Norbert und Melanie Martins: Hauswände statt Leinwände. Berliner Wandbilder, 144 Seiten, 29,90 Euro. www.norbert-martins-wandbilder-berlin.de
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