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Die Vereinten Nationen sprechen von 13.000 Flüchtlingen, die sich im türkischen Grenzgebiet zu Griechenland aufhalten.
© Ahmed Deeb/dpa

Flüchtende aus der Türkei: „Was bleibt uns übrig, wenn wir als Menschen leben wollen?“

Erdogan hat „die Tore geöffnet“: Tausende Menschen drängen an die griechische Grenze - dort empfangen sie Tränengas und Warnschüsse. Ein Reportage aus Pazarkule

Kurz vor der griechischen Grenze muss der junge Familienvater sich entscheiden, und seine Augen sind vor Angst und Stress geweitet. „Wenn ihr jetzt weiterfahrt, kommt ihr da nicht mehr raus“, beschwört ihn ein türkischer Taxifahrer, der seit Tagen mit Flüchtlingen aus Istanbul zur Grenze pendelt und die Lage dort kennt. „Die griechischen Soldaten nehmen euch die Schnürsenkel und Jacken weg und lassen euch im Schlamm stecken. Und zurück nach Istanbul könnt ihr dann nicht mehr. Kehrt lieber um!“

Der junge Afghane blickt zweifelnd auf seine etwa vierjährige Tochter, die im rosa Anorak am Straßenrand hampelt, während er ihr Schicksal entscheiden muss. „Bleiben können wir aber auch nicht“, entgegnet er. „In der Türkei darf ich nicht arbeiten und muss jeden Augenblick die Polizei fürchten.“

Verzweifelt blickt er zwischen dem Kind und dem Fahrer hin und her, aber die Entscheidung dürfte gefallen sein: Die Ersparnisse der Kleinfamilie stecken in ihren Reisetaschen und der Fahrt zur Grenze.

Tausende Flüchtlinge strömen seit Tagen zum Übergang Pazarkule an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Hier, am Rand der türkischen Stadt Edirne im äußersten Nordwesten des Landes, suchen sie erschöpft, verdreckt und verzweifelt ein Durchkommen, werden von den griechischen Grenztruppen aber immer wieder zurückgetrieben. „Seit Donnerstagnacht geht das so“, sagt ein Polizist an der Grenze.

Erdogan sagt: „Die Tore sind offen“

Seit März 2016 hielt die Türkei nach den Regeln ihres Flüchtlingsabkommens mit der EU die Grenze für Flüchtlinge geschlossen. Doch seit Donnerstag sind „die Tore offen“, wie Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt. In einer ganz offensichtlich koordinierten Aktion werden Syrer und andere aufgerufen, an die Grenze zu fahren. Die Organisatoren der Busfahrten für Flüchtlinge von Istanbul an die Grenze behaupten noch am Sonntag in arabischen Aufrufen im Mitteilungsdienst Telegram, Griechenland habe die Grenze geöffnet – obwohl da schon längst klar ist, dass die griechischen Behörden niemanden ins Land lassen wollen.

Die Regierung in Ankara weist jede Verantwortung von sich: „Niemand von unseren syrischen Brüdern und Schwestern ist gebeten worden zu gehen“, schreibt Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun auf Twitter. „Wenn sie wollen, können sie bleiben. Wenn sie gehen wollen, können sie das auch.“ Die Türkei sehe es aber nicht mehr ein, dass sie mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen werde.

Konkret verlangt Ankara laut Altun die Unterstützung von USA und EU bei der Schaffung einer „Sicherheitszone“ für Flüchtlinge auf syrischem Territorium. Der Westen lehnt den Plan bisher ab. Die Flüchtlinge werden zu Schachfiguren in einer politischen Auseinandersetzung zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündeten.

Mit stark übertriebenen Flüchtlingszahlen versucht Erdogans Regierung, den Europäern Angst einzujagen. Mehr als 100.000 Flüchtlinge hätten bis Sonntagabend bei Edirne die Türkei verlassen, erklärt Innenminister Süleyman Soylu. Ganz verlassen haben sie die Türkei freilich nicht: Sie harren auf türkischem Gebiet an der Grenze und im Niemandsland aus. Die Uno, die den Flüchtlingen an der Grenze mit Esspaketen hilft, spricht dagegen von 13.000 Menschen im türkischen Grenzgebiet.

Diese Afghanen haben nichts mehr zu verlieren

Vor ein paar Monaten hatte Soylu selbst noch vor einer Öffnung der türkischen Grenzen zur EU gewarnt, da damit die Türkei zum Ziel von Millionen weiterer Flüchtlinge werden würde. Bisher ließ er afghanische Flüchtlinge festnehmen und in ihre Heimat deportieren. Jetzt werden ganze Reisebusse voller Afghanen nach Pazarkule gebracht. Dieselben Taxifahrer, die unter den Augen von Soylus Polizisten jetzt Afghanen, Syrer und Iraner an die Grenze fahren, hätten vor ein paar Tagen noch eine Strafe wegen Menschenschmuggels riskiert.

Für Tausende verzweifelte Menschen bedeutet der türkische Versuch, die Europäer mit einer neuen Fluchtwelle zu erschrecken, dass bei ihnen für einen Moment lang neue Hoffnung auf ein besseres Leben aufkeimt – die dann wieder zerstört wird.

Bei Edirne schleppen sich Gruppen erschöpfter Menschen den Straßengraben entlang und suchen einen Weg zur Grenze, der nicht von Polizisten abgesperrt ist. „Wir halten sie hier zurück, weil das Grenzgebiet völlig überfüllt ist und sie dort nicht mehr versorgt werden können“, sagt ein Motorrad-Polizist, der den Treck zu lenken versucht. Die schwarz-rot uniformierten Beamten treiben die versprengten Flüchtlinge auf einer Steinbrücke zusammen.

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Afghanen bilden die größte Gruppe der Verzweifelten. Anders als die Syrer, die in der Türkei einen vorläufigen Schutzstatus genießen, sind sie illegal in der Türkei und haben nichts zu verlieren.

Ein junger Mann mit kindlichem Mondgesicht ist unter den Wanderern an der Brücke, er hält seinen roten Rucksack vor sich auf dem Bauch. Seit zwei Jahren sei er alleine unterwegs nach Westen, dabei sei er erst 19 Jahre alt. Pakistan und Iran habe er durchquert, erzählt der Afghane namens Ensar, dann zwei Jahre lang im westtürkischen Balikesir als Gehilfe in einer Bäckerei gearbeitet und sei nun seit drei Tagen unterwegs zur griechischen Grenze – seit die Nachricht von der angeblichen Grenzöffnung kam. Die Nächte habe er im Freien verbracht und auf dem Boden geschlafen – „was sollen wir sonst machen?“

Wer es schafft, wird festgenommen

Auf der Wanderung habe er andere Afghanen getroffen und sich einer Gruppe angeschlossen. Gemeinsam suchen sie nun einen Feldweg oder sonst eine undichte Stelle, an der sie zur Grenze kommen. „Zurück gehe ich jedenfalls nicht mehr“, sagt Ensar. „Ich muss irgendwie hinüber, und so lange harre ich hier aus.“

Viele wie Ensar sind entlang der Grenze unterwegs. Einige versuchen sogar, trotz der Kälte durch den Grenzfluss Maritza nach Griechenland zu schwimmen, werden von den griechischen Grenztruppen aber nicht durchgelassen. Am Grenzübergang Pazarkule brechen zeitweise Straßenschlachten zwischen Flüchtlingen im Niemandsland und den griechischen Truppen aus. Die Griechen schießen mit Tränengas und geben vereinzelt auch Warnschüsse in die Luft ab, Flüchtlinge werfen Steine. Hin und wieder gelingt es kleineren Gruppen, über einen Acker oder durch die Maritza auf griechischen Boden zu gelangen. Die meisten von ihnen werden nach griechischen Angaben festgenommen. Griechenland ist wesentlich besser vorbereitet als bei der Massenflucht im Jahr 2015.

Mit Tränengas hätten griechische Soldaten auf sie geschossen, erzählt dieser Vater.
Mit Tränengas hätten griechische Soldaten auf sie geschossen, erzählt dieser Vater.
© Susanne Güsten

In Pazarkule marschiert eine afghanische Familie mit Kindern und Alten am Straßenrand auf die Grenze zu, es ist bereits ihr zweiter Versuch. „Seht mal, was die mit uns gemacht haben“, sagt ein Mann und weist mit dem Kinn auf das verweinte Kleinkind in seinen Armen. „Mit Tränengas haben sie auf uns geschossen, Kinder und alles!“ Wer war das? „Na, die griechischen Soldaten.“

Der Großvater krächzt noch nach einem Erstickungsanfall des Tränengases wegen. Trotzdem wollen sie es wieder versuchen und marschieren auf der Suche nach einem freundlicheren Empfang weiter an der Grenze entlang. „Was bleibt uns denn anderes übrig, wenn wir als Menschen leben wollen“, sagt eine rundliche Frau mit buntem Kopftuch. „Arbeit, ein Heim und dass die Kinder in die Schule gehen können – mehr wollen wir doch nicht.“ In der Türkei bekommen sie es nicht.

„Liebe Welt, bitte rette uns“

Entgeistert beobachtet der führende Migrationsforscher der Türkei die Ereignisse. Mit der Grenzöffnung schade sich die Türkei selbst, meint Murat Erdogan – der nicht mit dem Präsidenten verwandt ist. Das positive Image, das sich das Land mit seiner Versorgung der 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgebaut habe, sei dahin.

Doch der Regierung geht es nicht um Imagefragen. Sie fordert westliche Hilfe bei ihrem Militäreinsatz in der syrischen Provinz Idlib: Die Grenzöffnung wurde wenige Stunden nach dem Tod von 34 türkischen Soldaten bei einem Luftangriff in Idlib am Donnerstagabend verkündet.

Präsident Erdogan wirft Europa zudem vor, die Zusagen aus dem Flüchtlingsabkommen nicht eingehalten zu haben. Er setzt ganz auf Druck und versucht nicht einmal, Unterstützer in der EU zu finden. Bei einer Rede nach der Grenzöffnung verhöhnt er ausgerechnet Bundeskanzlerin Angela Merkel – jene Politikerin, die in der EU am meisten für die Türkei tun könnte. Merkel hatte im Januar deutsche Hilfe in Höhe von 25 Millionen Euro für den Bau winterfester Unterkünfte für Flüchtlinge in Idlib versprochen. „Das versprochene Geld kommt nicht“, habe er der Kanzlerin am Telefon vorgeworfen, berichtet Erdogan. Deshalb habe er Merkel einen Gegenvorschlag gemacht: „Wir schicken euch die Flüchtlinge und dazu 100 Millionen Euro.“

Manche Flüchtlinge fühlen sich von der Türkei benutzt. „Liebe Welt, die Türkei hat uns im Stich gelassen, bitte rettet uns“, appelliert der 32-jährige Ammar Artrash aus Aleppo, der an der griechischen Grenze gestrandet ist. „Hier sind Frauen und Kinder im kalten Winter draußen, und wir haben keine Heimat. Helft uns!“

Ihre zwei Kinder starben im Syrienkrieg

Der Chemiker und seine Frau, eine Medizinstudentin, haben ihre zwei Kinder im Krieg in Syrien verloren, sie seien bei einem Bombenangriff getötet worden. Auch seine Eltern seien tot. Seit zwei Jahren bemüht sich Artrash über das UN-Flüchtlingshilfswerk um eine Umsiedlung nach Kanada oder nach Deutschland, vergeblich. Jetzt will er über die Grenze nach Griechenland. „Bitte öffnet die Grenzen und macht der Tragödie, die wir hier erleben, ein Ende“, fleht er. „Jeder sieht, was hier passiert, aber keiner hilft – ich habe Angst!“

Während Artrash und die anderen Flüchtlinge noch einen Weg über die Landgrenze nach Griechenland suchen, sind erfahrene Menschenschmuggler an der türkischen Ägäisküste rund 250 Kilometer südlich sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Welle der Verzweifelten bei ihnen ankommt.

„Wir schauen schon mal nach einem günstigen Platz zum Ablegen“, sagt ein Schmuggler einem türkischen Kamerateam in der Nähe des Küstenortes Ayvacik gegenüber der griechischen Insel Lesbos. Der Mann spricht völlig offen über sein Geschäft, Angst vor der Polizei braucht er nicht zu haben, denn seit Erdogans Entscheidung zur Grenzöffnung glaubt er, auf Beistand von höchster Stelle zählen zu können: „Der Chef hat’s ja genehmigt.“

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