Erdogan hält sich nicht an Abkommen mit Europa: Die EU ist schlecht gewappnet für die nächste Flüchtlingskrise
Die EU darf sich in der Syrien-Politik nicht von Erdogan erpressen lassen. Aber in der Flüchtlingspolitik hat die Gemeinschaft Nachholbedarf. Ein Kommentar.
Die Türkei hindert Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan daran, in die EU weiterzuziehen. Im Gegenzug sichern die Europäer Ankara Milliardenhilfen zu, die den Flüchtlingen in den türkischen Lagern zugute kommen sollen. So sieht im Prinzip der Flüchtlingspakt aus, welchen die EU und Ankara im März 2016 geschlossen haben. Er hat allerdings, und das war auch schon damals jedem klar, einen Haken: Die EU begibt sich in die Hände des Autokraten Recep Tayyip Erdogan.
Wie groß das Erpressungspotenzial des türkischen Präsidenten ist, zeigt sich in diesen Tagen.
Um seiner militärischen Offensive in der syrischen Region Idlib Nachdruck zu verleihen und die Nato-Partner in der EU mit seiner Forderung einer verstärkten Präsenz in der Region unter Druck zu setzen, hat Erdogan nun die „Tore geöffnet“, wie er sagt. Soll heißen, dass er die Flüchtlinge am Weiterziehen Richtung EU nicht mehr hindern will.
Es ist nicht das erste Mal, dass Erdogan damit droht, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen.
Auch als er seine militärische Invasion in Nordsyrien im vergangenen Oktober begann, verbat er sich jegliche Kritik aus der EU mit dem Hinweis, er könne die Grenzen für Flüchtlinge ja auch öffnen.
Die unmittelbare Folge von Erdogans jüngster Machtdemonstration besteht darin, dass Polizisten auf griechischem Boden Flüchtlinge mit Gewalt vom Weiterziehen abhalten. Hinter den Kulissen hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in den letzten Tagen zahlreiche Telefonate geführt. Zu ihren Gesprächspartnern zählten neben Erdogan auch Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, der bulgarische Ministerpräsident Boyko Borissow und der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Die hektische Telefondiplomatie zeugt davon, dass die EU in jedem Fall eine Situation wie während der Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 verhindern will.
Eine Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015 kann sich niemand wünschen
Wer sich nun angesichts des massiven Vorgehens griechischer Polizisten gegenüber den Flüchtlingen an der Grenze zur Türkei über die „Festung Europa“ beklagt, der sollte sich vor Augen führen, was eine Wiederholung des Krise von 2015/2016 bedeuten würde.
Deutschland, besser gesagt die hiesigen Kommunen, haben es seither einigermaßen geschafft, hunderttausende Flüchtlinge zu versorgen, ihnen eine feste Bleibe zu geben und viele von ihnen mit einer Jobperspektive auszustatten. Wer sich aber die politischen Verwerfungen in Deutschland vor Augen führt, welche die Krise damals zur Folge hatte, kann sich einen neuerlichen massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen nicht ernsthaft wünschen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der jüngste Showdown zwischen Erdogan und den Europäern demnächst auf bewährte Weise gelöst wird: mit ein paar zusätzlichen finanziellen Zusagen der Europäer, die für beide Seiten gesichtswahrend wären. Im Kern wäre das Problem allerdings nicht gelöst.
Dass Erdogan in Nordsyrien eine aussichtslose militärische Operation gestartet hat, liegt in seiner eigenen Verantwortung. Hier dürfen sich die Europäer in der Tat nicht in den Konflikt mit Syrien und Russland hineinziehen lassen.
Im Streit um die Flüchtlingsverteilung ist die EU nicht vorangekommen
Aber wenn es um eine flächendeckende Aufnahme von Flüchtlingen in der gesamten EU geht, dann muss sich die Gemeinschaft schon vorhalten lassen, dass sich ihre Handlungsfähigkeit seit der Krise von 2015 und 2016 um keinen Deut verbessert hat.
Was wäre beispielsweise, wenn Erdogan von der EU fordern würde, sie möge angesichts von insgesamt 3,7 Millionen Flüchtlingen in der Türkei bitteschön 30.000 Migranten übernehmen? Dann stünde die EU-Gemeinschaft wieder da, wo sie schon vor vier Jahren stand: beim Gezänk zwischen aufnahmewilligen Staaten und Ländern wie Ungarn und Polen, die Flüchtlinge keinesfalls ins Land lassen wollen.
An der Aufgabe, in der Flüchtlingspolitik einen Kompromiss unter den Mitgliedstaaten hinzubekommen, ist der frühere EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker angesichts der widerstrebenden Interessen in den europäischen Hauptstädten zwangsläufig gescheitert. Seine Nachfolgerin von der Leyen, die einen neuen Asylpakt der EU-Länder angekündigt hat, wird dabei alle Mitgliedstaaten in die Pflicht nehmen müssen – auch jene, die sich bislang verweigert haben.