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„Das war ein Schock!“, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller nach der Wahl.
© imago/Stefan Zeitz

Berlins SPD-Chef: Warum Michael Müller ein Bürgermeister auf Abruf ist

Wahlergebnis, Tegel – der SPD-Chef in der Hauptstadt hat Vertrauen verspielt. Seine Gegner können warten. Aber nicht mehr lange. Eine Analyse.

Nur noch weg aus dieser Stadt. Gleich nach dem Fest zur deutschen Einheit, am 4. Oktober, fliegt Michael Müller nach Los Angeles. Der Regierende Bürgermeister reist gern, seitdem er im Roten Rathaus sitzt. In diesem Jahr war er schon in Montreal und Ulan Bator, in Moskau und Kiew. Aus der Ferne erscheint der politische Alltag in Berlin nicht ganz so katastrophal.

Dann kann Müller unter kalifornischer Sonne für einige Tage versuchen zu vergessen, dass er der unbeliebteste Regierungschef aller Bundesländer ist, seine Partei in einem Dauertief steckt und Rot-Rot-Grün im ersten Regierungsjahr das Vertrauen der Bürger fast restlos verspielt hat. Das Regieren ist für ihn zur politischen Überlebensfrage geworden. Müller ist längst ein Partei- und Regierungschef auf Abruf, aber noch findet sich keiner, der den ersten Stein wirft.

Am Montag nach der Bundestagswahl tagt in der Parteizentrale in Wedding der Landesvorstand, um das Ergebnis zu verarbeiten. 17,9 Prozent – für die Berliner SPD der schlechteste Ausgang aller Zeiten. Und dann der Volksentscheid – für den Flughafen Tegel, gegen die Pläne des Senats. Drei Stunden wird diskutiert, ein Antrag „zur Lage der Partei“, der kurzfristig von Parteilinken eingebracht worden ist, wird zurückgestellt. Viele Vorständler scheinen froh, mit Hinweis auf andere Termine vorzeitig flüchten zu können. „Wir müssen orten, wo unser größter Feind sitzt, aber haben ihn noch nicht gefunden“, spottet eine Genossin.

Und wenn er in den eigenen Reihen sitzt?

17,9 Prozent? Immerhin besser als in anderen ostdeutschen Ländern

Michael Müller ist der letzte, der mit stillem Lächeln die enge Treppe im Kurt-Schumacher-Haus heruntersteigt. Er macht nicht den Eindruck, als habe er soeben diesem chaotischen Haufen, der sich Berliner SPD nennt, in schwerer Stunde neue Kraft und Orientierung gegeben. Die schlechte Laune, die er am Wahlsonntag nach 18 Uhr ausstrahlte, ist ihm nicht mehr anzumerken. Doch mehr als ein paar Floskeln sagt er nicht: Das Profil der SPD müsse deutlicher sichtbar werden, man wolle die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Linken suchen. Überall dort, wo die Linken in Berlin am Sonntag gut abschnitten, waren die Sozialdemokraten besonders schwach.

Die Arme heben und senken sich nach jedem zweiten Satz, als suche Müller sein Gleichgewicht. Nein, es gehe nicht darum, mit der Linken in Streit zu verfallen. Auch bei der Senatskampagne gegen den Volksentscheid zu Tegel hätten doch alle drei Regierungspartner eng zusammengearbeitet. Das Ergebnis der Bundestagswahl? „Ein Schock!“ Hört sich fast wie eine Gefühlsregung an. Aber die 17,9 Prozent, sagt er gleich hinterher, seien doch immerhin besser als die Zahlen in den anderen ostdeutschen Ländern.

Ob er an Rücktritt gedacht habe? Müller grinst. Natürlich hat auch er im Tagesspiegel gelesen, dass der ehemalige SPD-Landeskassierer Harald Christ die Frage gestellt hat, ob dieser Regierende noch „der richtige Kapitän“ für Berlin sei. „Nee, hab ich nicht“, antwortet er. Der Landesvorstand sei sich einig gewesen, dass die Äußerung des Genossen „nicht von Bedeutung“ sei. Harald Christ, Versicherungsmanager und Mitbegründer des SPD-Wirtschaftsforums war ein enger Vertrauter des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit – er ist in der Bundes-SPD gut vernetzt. Und gehört zu denen, die von der eigenen Partei einen radikalen Neuanfang fordern.

Raed Saleh trifft den richtigen Ton

In der Berliner SPD beschränkt man sich vorerst darauf, einen Neuanfang für den Parteivorstand und die Bundestagsfraktion zu fordern – in der Opposition. Im Roten Rathaus soll bis 2021 rot-rot-grün weiterregiert werden. Ob und wie lange noch mit Michael Müller an der Spitze, ist eine Frage, die sich auch viele Genossen stellen.

Selbst jene Funktionäre aber, die nicht zum Müller-Lager gehören, scheuen sich vor den schwer kalkulierbaren Konsequenzen eines Putsches. Das hatte vor wenigen Monaten noch anders ausgesehen.

Der Senat hatte sich gerade um Michael Müller sortiert, als Raed Saleh im Abgeordnetenhaus mit einer Rede Ver- und Bewunderung erregte. Es war die erste Plenarsitzung nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz, bei dem zwölf Menschen starben. Saleh traf nicht bloß emotional den richtigen Ton. Er brach auch ein Polit-Tabu, das die rot-rot-grüne Koalition zusammenhält. „Beim Thema Videoüberwachung müssen wir uns ehrlich machen“, forderte er, „niemand versteht, warum Videoüberwachung auf Bahnhöfen erfolgreich ist, aber auf kriminalitätsbelasteten Plätzen nicht erlaubt sein soll. Das passt nicht zusammen.“

Saleh sprach von der Notwendigkeit, Imame an deutschen Universitäten auszubilden, von der Abschiebung von Gefährdern, vom Kontrollverlust im Umgang mit Flüchtlingen, lauter Themen, mit denen man in der rot-rot-grünen Koalition besser nicht provozierte. In Partei und Fraktion kam das nicht gut an, auch Linke und Grüne waren konsterniert. „Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU und der AfD“, heißt es im Parlamentsprotokoll.

Ganz Wowereit – und das Gegenteil von Müller

Raed Saleh: Einer, der nicht zulassen wollte, dass seine SPD in der neuen Koalition gleich unsichtbar wird. Einer, der glaubt, dass er es besser kann als Müller. Raed Saleh gilt noch als Mann im Wartestand, auch wenn sich innerparteilich die Zweifel mehren, ob er den Sprung noch rechtzeitig wagt.

Vor ein paar Tagen steht Saleh auf einem der grässlichsten Plätze Berlins, dem Kurt-Schumacher-Platz. Im Fünf-Minuten-Takt donnern die landenden Passagierflugzeuge über ihn hinweg. Ein paar hundert Meter weiter beginnt die Landebahn. Eben hat Saleh mit Antje Kapek und Silke Gebel von den Grünen und Carola Bluhm und Udo Wolff von der Linken ein „Tegel schließen“-Transparent in die Kameras gehalten. Jetzt schlendert er durch die wabernde Mischung aus Abgasen und Pommesbudendunst und redet mit jedem, der mit ihm reden will. Das sind so einige.

Eine alte Frau steht vor Raed Saleh und hält ihm die Hand hin. Zwei Tage vor der Bundestagswahl und der Tegel-Abstimmung wirbt der Fraktionschef für die Position des Senats. Saleh nimmt die Hand der Frau und fragt, wie sie abstimmen werde. „Für die Schließung“, sagt sie. Saleh lächelt und fragt, woher sie komme. „Reinickendorferin“, sagt sie stolz, „seit 81 Jahren!“ - „Was?! Das glaube ich nicht!“, sagt Saleh. Jetzt lächelt auch die Frau.

Da ist Saleh das Gegenteil von Müller, ganz wie Klaus Wowereit: kein Wunsch nach Abstand, kein Schritt zurück, eher die Hand, die sich auf den Arm des Gegenübers legt. Ein Mann fragt, warum der Senat erst so spät auf die Pro-Tegel-Kampagne der FDP reagiert habe. „Sie haben Recht“, sagt Saleh. Man habe spät reagiert, dann aber mit Wucht.

Saleh will AfD-Anhänger zurückgewinnen

Raed Saleh wollte Parteichef werden. Jetzt hält er sich zurück.
Raed Saleh wollte Parteichef werden. Jetzt hält er sich zurück.
© picture alliance / dpa

Nicht abweichen von der Senatslinie, Loyalität zum Regierenden Bürgermeister, Geschlossenheit und Stabilität: Es scheint, als habe Raed Saleh keine Ambitionen mehr, in einer Partei den Volkstribun zu geben, die in Berlin den Kontakt zu den Berlinern verloren hat.

Bei jener viel beachteten Rede hatte Saleh sein Smartphone gezückt. Darauf eine Grafik, die die Erfolge der AfD bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus vor ziemlich genau einem Jahr zeigte. Für den Mann aus Spandau, der sich seit langem mit Besuchen in Spandauer Kneipen über das informiert, was die Leute so denken und sagen, sind viele AfD-Anhänger verlorene Freunde einer bodenständigen SPD. Sie wollen Ordnung, Sicherheit, einen Staat, der gut funktioniert. Die könne man zurückgewinnen, für die SPD, sagte er überzeugt.

Nicht durch Abstandhalten, sollte das heißen. Das wäre Müllers Methode.

Wenige Wochen nach dem Auftritt legte Saleh nach. Das Kottbusser Tor war dabei, sich vom Fixer- und Trinkertreff zum Kriminalitätsbrennpunkt zu entwickeln. Saleh sah sich dort um, abends, im Dunkeln, ohne große Begleitung. Kurz darauf platzierte die Polizei einen Mannschaftsbus auf dem Platz – Dauerpräsenz. Saleh fuhr nochmal hin, wieder abends. Ging den Kottbusser Damm hinunter bis zum U-Bahnhof Schönleinstraße. Beim ersten Besuch, erzählt er, hätten überall Dealer gestanden. Von denen war jetzt nichts zu sehen.

Wahlkampf oder Selbstmarketing?

Die Menschen kennen, die Stadt kennen – und sich bekannt machen, das ist Salehs Programm, auch 2017. Mit seinem Berater, Fraktionssprecher Markus Frenzel, hat er ein Buch mit dem Titel „Ich deutsch. Die neue Leitkultur“ verfasst. Saleh pariert für eine Kultur, die offen ist für alle, die hier ankommen und etwas werden wollen und für die konservativen Versuche, Umgangsformen festzuschreiben. Und er schreibt als SPD-Mann mit Migrationshintergrund eine Art Anti-Buschkowsky.

Der frühere Neuköllner Bezirksbürgermeister hatte vor düsteren Entwicklungen und einem Zerfall der deutschen in diverse Parallelgesellschaften gewarnt. Saleh beschreibt den Rahmen einer offenen, Migranten-freundlichen Gesellschaft mit Sätzen wie diesem: „Ordnung und klare Regeln sind etwas Gutes. Sie müssen aber auch tatsächlich gelten, und sie müssen durchgesetzt werden.“ Dies sei „momentan nicht der Fall“.

Vielleicht haben sich einige seiner Parteifreunde schon an Salehs Anspruch gestoßen, im Streit um die „Leitkultur“ mitzumischen. Ganz sicher haben vor allem die in der SPD, die weniger von ihm halten, genau beobachtet, wie eifrig er sein Buch präsentierte – und wie viel Zeit ihm für den Wahlkampf blieb. „Dem ist nur das eigene Marketing wichtig“, murrte ein Genosse.

Je matter und verzehrter der Regierende wirkt, desto stiller wird Saleh. Der Mann aus Spandau will sich offenbar nicht dem Vorwurf aussetzen, zusätzlich Unruhe in Partei und Koalition zu bringen. Manche in der SPD sagen, er könne sich zurückhalten, er müsse vorerst nichts machen – nach dem Motto: Müllers Niedergang ist nicht zu bremsen. Andere sagen: Wer weiß, ob Saleh als Regierender so viel besser wäre.

Andreas Geisel könnte neuer Parteichef werden

Ein Dreivierteljahr nach der Gründung dieser Koalition und vier Tage nach ihrer ersten großen Niederlage begnügen sich die Protagonisten des linken SPD-Flügels damit, über die „strukturelle Schwäche der europäischen Sozialdemokratie“ zu philosophieren und ein „politisches Umsteuern“ zu fordern.

Trotzdem kursieren Namen. Für den Fall, dass Müller abtritt, könnte im nächsten Mai Innensenator Andreas Geisel neuer Parteichef werden. Allerdings nicht gegen, sondern auf Empfehlung Michael Müllers, der mit dem Verzicht auf das Parteiamt Druck abbauen könnte. Ob der linke Flügel des SPD-Landesverbands dies kampflos mitmachen würde, ist fraglich. Das wissen auch Müller und seine Getreuen. Geisel verfügt in der SPD über keine sichere Hausmacht, denn er kommt aus dem kleinen Kreisverband Lichtenberg und ist nichtmal ein richtiger Linker. Um ihn trotzdem zu installieren, soll nicht ein Parteitag, sondern die SPD-Basis über den nächsten SPD-Landeschef abstimmen.

Neben Geisel ist auch die Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey für den nächsten Landesvorstand im Gespräch. Als Vize-Chefin. Anfang kommenden Jahres werden die Posten in den Kreisverbänden vergeben. Dann wird sich zeigen, wer noch auf Müllers Seite steht.

Spätestens dann.

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