Ein Jahr Schmähgedicht: Warum die Böhmermann-Affäre vermeidbar gewesen wäre
Majestätsbeleidigung? Mit dem Schmähgedicht über Präsident Erdogan begann das Ende der guten deutsch-türkischen Beziehungen. Die Bundesregierung legte sich früh auf eine Interpretation fest.
Der Anfang vom Ende der guten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lässt sich recht genau datieren, es ist der 31. März des vergangenen Jahres. Der Fernsehunterhalter und Satiriker Jan Böhmermann geht am späten Abend mit seinem „Neo Magazin Royale“ auf Sendung. Rund 370.000 Zuschauer schalten ein. Böhmermann trägt seine „Schmähkritik“ vor, ein satirisches Arrangement, das in Spottversen gipfelt: „Sackdoof, feige und verklemmt ist Erdogan, der Präsident …“
Danach ist nichts mehr, wie es war im deutsch-türkischen Verhältnis. Angela Merkel rügt den Auftritt als „bewusst verletzend“ und liefert den Künstler damit internationalen Proteststürmen aus. Ein Fehler, sagt sie später, um darauf den nächsten zu begehen. Dessen Folgen noch schwerer wiegen. Aber den sie bis heute verteidigt.
Ein verhängnisvolles Missverständnis
Die Bundesregierung hätte die Strafverfolgung Jan Böhmermanns wegen der umstrittenen „Majestätsbeleidigung“ von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nicht zulassen müssen und, mit Blick auf die politische Entwicklung, wohl auch besser nicht zugelassen. Aus internen Regierungsdokumenten, die das Auswärtige Amt (AA) nach erfolgreichen Tagesspiegel-Klagen offenlegen musste, geht hervor, welche Auswege sich boten. Die Unterlagen zeigen, wie zur Staatsaffäre gemacht wurde, was nüchtern betrachtet keine hätte werden dürfen. Und wie die Spitzen der Exekutive einen Konflikt auf die Justiz übertrugen, den sie selbst hätten lösen müssen.
Bereits am 1. April beschwert sich die türkische Regierung bei der deutschen Botschaft in Ankara. Als zwei Tage nach der Sendung Eier auf das ZDF-Studio in Istanbul fliegen und die regierungsnahe Tageszeitung „Sabah“ Böhmermanns Rauswurf fordert, beugen sich im Berliner AA Götz Schmidt-Bremme und Ernst Reichel über das Corpus Delicti. Der Rechts- und der Türkeibeauftragte, heute Botschafter in der Ukraine, nehmen mit einem weiteren AA-Vertreter und einem Strafrechtsexperten aus dem Justizministerium das umstrittene Video in Augenschein. Inklusive Böhmermanns Einleitungssätzen, darauf legt das AA Wert.
Sie war nicht überflüssig. Im Gegenteil. Es war keine Affäre, sondern zeigte das wahre Gesicht von Erdogan. Ich kann nur sagen, Böhmermann zeigte Zivilcourage, ein Fremdwort in unserer heutigen Welt.
schreibt NutzerIn Schwabe61
Denn hier, ganz zu Anfang, beginnt ein verhängnisvolles Missverständnis. Für einen notorisch empörten Erdogan mag es kaum begreiflich gewesen sein, für eine abgeklärte Bundesregierung schon eher. Böhmermann hackt nicht auf Erdogan ein, sondern auf die Kollegen von „extra 3“, deren plumper Satire wegen der deutsche Botschafter in Ankara einbestellt worden war. Nun aber soll dem überempfindlichen Wüterich vorgeführt werden, wo und wie in der liberalen Bundesrepublik Grenzen überschritten werden: mit „Schmähkritik“, einer Juristenvokabel, die freie Meinungsäußerung von rechtswidriger Rede trennt. Dann folgen die vorsätzlich dreckigen Verse.
Ein „humoristisches Proseminar“ nennt der Künstler später selbst sein Werk. Keine derbe, eher eine, mindestens im Vergleich zu „extra 3“, einigermaßen komplexe Satire. „Also, wenn die Türkei oder ihr Präsident da was dagegen hätte, müsste er sich erst mal nen Anwalt suchen“, sagt Böhmermann zum Witzabschluss.
Ein Irrtum. Die Beweisbeschauer im AA erkennen ihn schnell. Einen Anwalt braucht Erdogan vorerst nicht, er hat seinen Staatsapparat. Ein Vermerk der Beamten, noch vom 2. April, weist neben einer möglichen Strafbarkeit wegen Beleidigung und übler Nachrede sogleich auf Paragraf 103 hin, einen Sondertatbestand, der hohe Vertreter ausländischer Staaten schützt. Die seitdem vielfach so genannte „Majestätsbeleidigung“: Sie hebt die mögliche Rechtsverletzung auf die Ebene von Politik und Diplomatie.
Das kommt dabei heraus, wenn Regierungen über Satire richten
Der Vermerk nennt fünf nötige Voraussetzungen für die Strafbarkeit: Neben der Beleidigung muss es diplomatische Beziehungen zum betroffenen Staat geben, ein Strafverlangen der Türkei, eine „Ermächtigung“ der Bundesregierung zur Strafverfolgung sowie rechtliche Gegenseitigkeit, also ein ähnliches Gesetz: „DEU muss in TUR entsprechenden Rechtsschutz genießen.“
Es ist Sache der Justiz, dies später gültig zu entscheiden. Da aber die Regierung zur Verfolgung dieser Tat ermächtigen muss, prüft sie zunächst, ob die nötigen Voraussetzungen gegeben sind. Die AA-Beamten erstellen mit dem Berater des Justizministeriums eine „vorläufige rechtliche Einschätzung“. Der genaue Text ist bis heute geheim, doch bekannt ist, dass er knapp ausfällt. Neun Zeilen, Teil einer internen Vorlage vom 3. April. Keine Zitate, keine Schimpfworte aus dem Gedicht. Dafür ein Hinweis auf die Kunst- und Meinungsfreiheit. Das zu beurteilen, sei Sache der Gerichte. Dennoch wird nach Tagesspiegel-Informationen eine Strafbarkeit Böhmermanns mindestens für möglich gehalten.
Derart munitioniert telefoniert Merkel am Abend desselben Tages mit dem damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Details hätte niemand erfahren müssen, doch Merkel lässt sie von ihrem Sprecher Steffen Seibert am nächsten Morgen an die große Glocke hängen. Der Text sei „bewusst verletzend angelegt gewesen“, was der Sprecher später statt als amtliche Interpretation als offenkundige Tatsache verkauft. Böhmermann, sagt er, habe schließlich selbst vom Grenzübertritt gesprochen.
Das kommt dabei heraus, wenn Regierungen über Satire richten. Es ist immerhin für einen guten Zweck. Am selben Tag beginnt die Rückführung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei, der zentrale Teil des kurz zuvor eingefädelten Abkommens mit der EU. Doch Merkels Kalkül, mit der verlautbarten Deutung Erdogan zu besänftigen, geht nicht auf. Am 8. April druckt ein Fax im AA eine sogenannte Verbalnote aus, eine Nachricht im Diplomatenverkehr, in der die Türkei ausdrücklich ein Verfahren gemäß Paragraf 103 fordert.
Die AA-Juristen prüfen weiter. Genauer als im ersten Anlauf. Denn nun läuft alles auf die Frage zu, ob die Bundesregierung die nötige Erlaubnis zur Strafverfolgung erteilen wird oder nicht. Bei der Frage, ob überhaupt eine Beleidigung vorliegt, äußern sie jetzt Zweifel und erkennen das später entscheidende „Problem, dass B. seinen Beitrag als Belehrung über das, was er nicht sagen darf, aufgezogen hat“, heißt es in einem Vermerk vom 9. April zum „Schmähgedicht Böhmermann“.
Der Schutz ausländischer Staatschefs, in der Türkei ist er totes Recht
Noch einmal zwei Tage später werden trotzdem die Weichen gestellt. Die Beamten untersuchen als weitere Voraussetzung, ob die Türkei ausländische Staatsspitzen ähnlich schützt wie Deutschland mit Paragraf 103, die „Gegenseitigkeit“. Das tut sie, aber nur auf den ersten Blick. Die „Ehrverletzung“ nach türkischem Gesetz wird demnach härter bestraft, wenn sie sich gegen ein „ausländisches Staatsoberhaupt“ richtet. Doch anders als in Deutschland, wo es Präzedenzfälle gibt, fehlen solche in der Türkei.
Die Botschaft in Ankara hört sich um, befragt auch einen Strafrechtsprofessor - nichts. Ein Vermerk vom 11. April hält fest: „Antwort eines Vertrauensanwalts, der heute Morgen die juristischen Datenbanken abfragte, ist, das darin kein derartiges Verfahren zu finden ist.“ Es gebe keine „Spruchpraxis“, meldet die Botschaft. Der Schutz ausländischer Staatschefs, in der Türkei ist er totes Recht.
Damit bietet sich eine Gelegenheit, Erdogan eine Abfuhr zu erteilen. Wenn schon Zweifel an der Gegenseitigkeit bestehen, warum sollte es dann eine Ermächtigung geben? Ein juristisches Argument zwar, doch die Regierung hätte es in ihre spätere politische Entscheidung zumindest einfließen lassen können. Keine Gegenseitigkeit, keine Ermächtigung, das hätte bedeutet: Erdogan müsste selbst sehen, wie er mit seinen Anzeigen weiterkommt. Als Privatmann.
Doch wie oft in Rechtsfragen ist auch ein anderer Weg möglich, der im Vermerk ebenfalls vorgeschlagen wird: Würde die Türkei zumindest in einem „hypothetischen Vergleichsfall“ solche Delikte ahnden, könne Gegenseitigkeit angenommen werden. Theorie schlägt Praxis. Für Böhmermann wird es eng.
In der Zwischenzeit hat man im AA alte Fälle recherchiert: die Verbrennung einer chinesischen Flagge, die Beleidigung der früheren Schweizer Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey als „Folterschlampe“. Wer soll nun im Fall Böhmermann über eine Strafverfolgung entscheiden? „Die Bundesregierung“, heißt es im Strafgesetzbuch. Aber gemeint sind nur die zuständigen Fachministerien. Das sehen auch die AA-Beamten so. Ein erster Vermerk sieht das Justizministerium von Minister Heiko Maas (SPD) in der Pflicht „im Einvernehmen mit AA“. Später heißt es: „Herrschende Meinung und Präzedenzen sprechen für Zuständigkeit von AA bei Ermächtigung“.
Eine Show, um damit den Kritikern entgegenzukommen
So war es auch in der Vergangenheit. Das AA entschied, alles Weitere erledigte das Justizministerium. Auf Arbeitsebene, ohne Kanzleramt. Im Zweifel hätte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) also das Sagen gehabt. Doch mit ihrer öffentlichen Rüge hatte Merkel den Streit um die „Schmähkritik“ zur Chefsache erklärt. Als weiteres „Verfassungsressort“ wurde dann auch noch das Innenministerium von Thomas de Maizière (CDU) an Bord geholt.
Am 15. April tritt Merkel vor die Presse. Die Regierung habe die Ermächtigung erteilt. Merkel redet von Meinungs- und Kunstfreiheit und davon, dass es „unterschiedliche Auffassungen zwischen den Koalitionspartnern Union und SPD“ gegeben habe. Auch in dem Vierer-Gremium mit Merkel, Maas, Steinmeier und de Maizière, das damit über Böhmermanns weitere Geschicke befand? „Wegen der Stimmengleichheit entschied die Stimme der Bundeskanzlerin“, erklärt Steinmeier danach.
Derart streitig kann es aber kaum gewesen sein. Schließlich hatten Maas und Steinmeier ihr Okay gegeben, auch noch de Maizière zu beteiligen. Sie hatten für das angebliche Patt also selbst gesorgt. Viel spricht deshalb für eine andere Variante: Die Beteiligten waren sich über das Vorgehen weitgehend einig, aber einverstanden damit, ihr Votum nach außen als umstritten darzustellen.
Die Regierung sagt heute selbst, man habe sich damals „in einem nicht-förmlichen Verfahren abgestimmt“. Kein Patt also, sondern eher eine Show, um damit den Kritikern entgegenzukommen, ohne Erdogan zu brüskieren. Echte Unterstützer hatte Böhmermann möglicherweise auch unter den SPD-Ministern nicht.
Ausreden, urteilten die Gerichte
Die Kanzlerin wiederum tut so, als habe die Regierung gar nicht anders handeln können. Das grüne Licht für die Strafverfolger bedeute, „dass die rechtliche Prüfung der unabhängigen Justiz überantwortet wird“. Kein Wort davon, dass die Ermächtigung eine allein politische Entscheidung darstellt, die daher auch in einem „nicht-förmlichen Verfahren“ verhandelt werden konnte. Als Bonbon folgt die Ankündigung, die missliebig gewordene „Majestätsbeleidigung“ aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Das Verhalten der Verantwortlichen in der Affäre mag man gutheißen oder kritisieren. Gründe, aus den Abläufen und Umständen, die den Entscheidungen zugrunde lagen, ein Geheimnis zu machen, gab es nicht. Das AA hatte sein Schweigen mit dem „Kernbereich politischer Eigenverantwortung der Exekutive“ zu rechtfertigen versucht. Die deutsch-türkischen Beziehungen könnten Schaden nehmen, wenn Einzelheiten ans Licht kämen, hieß es. Die amtliche Willensbildung wäre beeinträchtigt.
Ausreden, urteilten die Gerichte. Zumal Jan Böhmermann selbst ein Informationsinteresse an den Hintergründen anmeldete und, um bei der Aufklärung zu helfen, auf seine Unschuldsvermutung verzichtete, die behördlichen Auskünften entgegenstand.
Es geht der Regierung in Fällen wie diesem wohl nicht um unbedingt notwendigen Geheimschutz. Sondern eher darum, das Bild, das sie in der Öffentlichkeit abgibt, selbst zu bestimmen. Dies steht wohl auch im Mittelpunkt der letzten noch offenen Fragen, auf die es jedenfalls nach einem Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Antworten geben muss. Hat Merkel Böhmermanns Auftritt selbst gesehen, bevor sie ihr folgenreiches Geschmacksurteil traf? Vielleicht nicht, Kanzlerinnen haben wenig Zeit. Nur: Warum darf das niemand wissen?
Dieser Text war zunächst online nur über Blendle verfügbar.
Jost Müller-Neuhof