Start-ups in Israel: Tel Aviv - die Hauptstadt der genialen Ideen
Die Welt staunt über Innovationen aus Israel. Eine Software, die auf Fotos die Intelligenz von Menschen erkennt? Eine Greifzange, die Hundekot pulverisiert? Zu Besuch bei Start-ups in Tel Aviv.
Das Gerät sieht aus, als werde es bei nächster Gelegenheit auseinanderfallen. Ans Brillengestell haben sie eine schmale Plastikstange geschraubt, an deren Ende ist eine Kamera montiert. Die Linse zeigt Richtung Brille. „Ist ja nur ein Prototyp“, sagt Or Retzkin. „Wir haben noch Arbeit vor uns.“
Mit der Konstruktion, die an diesem Sonntagmittag vor ihm auf dem Wohnzimmertisch liegt, will Or Retzkin einer Menge Menschen das Leben erleichtern. Am liebsten allen 600 000. So viele leiden weltweit unter dem Locked-in-Syndrom, einer fast vollständigen Lähmung, bei der die Betroffenen ihren eigenen Körper als Gefängnis erleben. Sie sind bei vollem Bewusstsein, können sich aber nicht verständlich machen, allenfalls mit den Augen blinzeln. Genau darauf setzt Retzkin: Seine Spezialbrille soll Locked-in-Patienten ermöglichen, mit der Außenwelt zu kommunizieren.
„Eyecontrol“ heißt seine kleine Firma. Sie ist eine von 1200 Start-ups Tel Avivs. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es, bezogen auf die Einwohnerzahl, so viele junge Unternehmen mit erfolgreichen Geschäftsideen im Technologiesektor. Etliche Gründer der vergangenen Jahre haben inzwischen Milliarden verdient. Gleich nach dem Silicon Valley gilt Tel Avivs Großraum als Start-up-freundlichste Region der Welt – und wird immer wieder als Vorbild für Berlin genannt. Wie hat die Mittelmeerstadt, die erst vor rund 100 Jahren gegründet wurde, das geschafft? Und vor allem: Lässt sich ihr Erfolg kopieren?
Die Eyecontrol-Zentrale befindet sich in der Wohnung von Retzkins Geschäftspartner Itai Kornberg, auf einem Hügel östlich der Innenstadt. Die meiste Zeit des Tages verbringen beide in einer Kammer neben der Küche. Fünf Bildschirme, zwei Rechner, zehn Quadratmeter. Waschmaschine und Trockner stehen ebenfalls herum. Das ist in Tel Aviv nicht anders als in Berlin: Solange kein großer Investor ins Unternehmen einsteigt, bleibt das Leben der Gründer entbehrungsreich. Immerhin sei der Weg zu seinem Bett abends nicht weit, sagt Itai Kornberg.
Der Patient blinzelt, die Maschine sagt: "Ich habe Durst"
Die Idee hinter ihrer Erfindung klingt simpel. Die Kamera registriert alle Augenbewegungen des Trägers und übersetzt sie in Worte, die dann entweder an einen angeschlossenen Lautsprecher oder per Bluetooth auf ein Smartphone übertragen werden. Der Patient kann aus 150 Standardsätzen auswählen, „Mir ist heiß“ etwa oder „Ich habe Durst“, er kann aber auch eigene Sätze formulieren. Es gibt bereits Erfindungen, die Ähnliches leisten, aber diese Geräte benötigen einen Bildschirm und lassen sich kaum unterwegs einsetzen, zudem kosten sie 5000 Dollar. Eyecontrol will seine Brillen zu einem Bruchteil der Summe anbieten.
Die Software funktioniert auf Englisch und Hebräisch, weitere Sprachen sind in Planung. „Vielleicht ist das unser erstes Erfolgsgeheimnis“, sagt Or Retzkin. „Israel ist so winzig, wir haben nur neun Millionen Einwohner. Da denken wir automatisch für andere Märkte mit. Wir denken international, weil wir es müssen.“
Die Welt staunt über die Innovationen aus Israel. Nur ein paar Erfindungen der vergangenen Jahre: ein Laser zur Kariesentfernung, der Bohren überflüssig macht. Ein Gerät, das den plötzlichen Kindstod verhindert. Methoden zur verbesserten Krebsdiagnose. Eine vibrierende Maschine, die Menstruationskrämpfe lindert. Eine Fensterscheibe, die Sonnenlicht in Strom umwandelt. Ein elektronischer Stift, der, sobald er über eine Buchseite gefahren wird, den Text einscannt und automatisch in die gewünschte Sprache übersetzt.
Von manchem technischen Gerät, das heute weltweit zum Alltag gehört, ist gar nicht bekannt, dass es in Israel erfunden wurde. Der USB-Stick zum Beispiel. Die erste Firewall wurde ebenfalls in Tel Aviv programmiert – in der Nachbarschaft des Eyecontrol-Gründers, ebenfalls in einem winzigen Appartement.
Im April dieses Jahres gab der US-amerikanische Geheimdienst FBI bekannt, es sei ihm gelungen, die verschlüsselten Nachrichten auf dem iPhone eines Terroristen zu knacken. Apple selbst hatte sich geweigert zu kooperieren, doch ein „externer Partner“ habe eine Lösung angeboten, hieß es. Die entscheidende Hilfe kam von einem israelischen Unternehmen.
"Hätte ich mehr Kaffee, ich würde die Welt beherrschen"
Um vom hiesigen Erfindungsreichtum zu profitieren, haben US-Konzerne ihre Innovationsabteilungen nach Israel verlegt: Microsoft lässt Betriebssysteme entwickeln, Intel neue Prozessoren. Amazons Kindle läuft mit Software, die in Israel programmiert wurde.
Das Streben nach Wissen, der Forschungsdrang sind hier ausgeprägter, sagt Oren Simanian. Der Mittdreißiger gilt als Guru der israelischen Start-up-Szene. Vor acht Jahren hat er „Startau“ aufgebaut, ein Gründerzentrum an der Universität Tel Aviv, das Studenten und Absolventen dabei helfen soll, Ideen in gewinnbringende Geschäftsmodelle zu übersetzen. Simanians Büro liegt etwas abseits vom Campus in einem tristen Verwaltungsgebäude. Den Flur hat er quietschgelb streichen lassen, an der Wand steht: „Hätte ich mehr Kaffee, ich würde die Welt beherrschen.“ Hinter seinem Schreibtisch hängt eine Pinnwand mit vielen hundert Visitenkarten. Eine Collage, die sagen soll: Ich kenne jeden in dieser Branche.
Simanian glaubt, die Wissensfixierung in Israel entspringe einer Notlage. Nämlich der, keine Bodenschätze zu besitzen. „Moses hat die Juden 40 Jahre durch die Wüste geführt. Wir glauben, er brauchte so lange, um auch garantiert den lebensfeindlichsten Flecken Erde zu finden.“
Mehr als die Hälfte des Staatsgebiets ist Wüste, es gibt wenig Trinkwasserquellen. Heute ist Israel weltweit führend in der Entsalzung von Meerwasser. Schon Staatsgründer Ben Gurion prophezeite: Will dieses Land überleben, muss es in Forschung investieren. Die Hochschullandschaft Israels gilt als exzellent, die Bildungsausgaben liegen über dem OECD-Durchschnitt. In den vergangenen zehn Jahren wurden sechs Forscher mit Nobelpreisen geehrt. Und der Staat unterstützt Start-ups massiv. Wer ein plausibles Geschäftsmodell vorweisen kann, erhält sechsstellige Summen. Die Macher von Eyecontrol haben die Hälfte ihrer bisherigen Gelder vom Staat erhalten.
Scheitern gehört dazu
Oren Simanian sieht eine Parallele zu Berlin. Auch der deutschen Hauptstadt mangele es an natürlichen Ressourcen und traditioneller Industrie. „Das führt zu Druck, nach Alternativen zu suchen. Also zu Kreativität.“ Was Israelis von Deutschen unterscheide: „Wir sind bereit, Risiken einzugehen.“ Und somit auch zu scheitern. Um sich dann wieder aufzuraffen und nach neuen Ideen zu suchen. „Wir wissen, dass Scheitern eine Lernerfahrung ist, ein Gewinn also.“ Ihre Haltung ähnele der US-amerikanischen, sei tief verwurzelt in der israelischen wie auch auch der jüdischen Kultur. „Und sie ist eng verknüpft mit der Überzeugung, dass einen Durchsetzungswillen im Leben weiterbringt als höfliche Zurückhaltung.“
Während des Gesprächs tippt Oren Simanian ständig auf dem Smartphone herum. Von den Mails, die seit heute Morgen in seinem Postfach eingegangen sind, hat er 127 noch nicht beantwortet. „Kein Problem“, sagt er und schaut nicht hoch. „Ich bin ganz bei Ihnen.“ Simanian sagt, es gebe in Israel eine Institution, ohne die der Erfolg der Start-ups kaum denkbar wäre: die Israel Defense Forces, kurz IDF. Das Militär. Jeder männliche Staatsbürger leiste mindestens drei Jahre Wehrdienst, jede Frau zwei Jahre, und in dieser Zeit lernten junge Menschen, Verantwortung zu übernehmen, sich zu organisieren, dazu Teamwork. „Alles Dinge, die später bei der Firmengründung existenziell werden.“ Vor allem werde die Zeit beim Militär mit einer Ernsthaftigkeit durchlebt, die man in anderen Ländern, die nicht von feindlich gesinnten Staaten umgeben seien, weniger vorfinde. „Das verändert einen natürlich.“
Eine Erfindung namens "AshPoopie"
Diese Woche veranstaltet Simanian eine Konferenz, 8000 Menschen haben zugesagt. Er wird dort über Nischen sprechen, die junge Unternehmer besetzen können. Bereiche des Lebens, die es zu optimieren gilt, vielleicht mithilfe eines Hightechgeräts oder einer App. „Es fängt immer mit einem Bedürfnis an“, sagt Simanian. „Einem Problem, das uns das Leben schwermacht.“ Und der Sehnsucht nach Abhilfe. Da war der Mann, der dabei erwischt wurde, wie er den Kot seines Hundes auf der Straße liegen ließ. Er wandte sich an einen Professor, den Biotechniker Oded Shoseyov. Dieser tüftelte und erfand „AshPoopie“. Die Greifzange, mit der sich Hundekot einsammeln, binnen Sekunden erhitzen und so in Asche verwandeln lässt. AshPoopie soll noch dieses Jahr auf den Markt kommen.
Manche Start-up-Ideen klingen so abenteuerlich, ja geradezu unerhört, dass man sie zunächst für einen Scherz hält. Die Firma „White Innovation“ hat eine Box entwickelt, die wie eine Espressomaschine funktioniert. Nur dass nach Einlegen der Kapseln kein Kaffee, sondern eine Mahlzeit aus dem Gerät kommt. Noch absurder scheint, was die Macher von „Faception“ versprechen. Sie wollen ein Programm entwickelt haben, das allein durch das Vermessen von Gesichtern auf Fotos sagen kann, ob jemand ein potenzieller Terrorist ist oder ein Pädophiler – auch wenn der Betreffende nie auffällig geworden und sein Bild in keiner Kartei gespeichert ist. Moralische Bedenken haben die Erfinder nicht.
Terroristen und Pädophile am Gesicht erkennen?
Das junge Unternehmen sitzt im „Sosa“, einem schick hergerichteten Gemeinschaftsbüro für ein Dutzend Start-ups in einem ansonsten gar nicht schicken Viertel südlich der Innenstadt. Draußen riecht es aus offenen Mülltonnen, drinnen stehen Designermöbel und lange Holzbänke. Glaswände unterteilen die ehemalige Fabrikhalle in kleine Parzellen. Sosa gilt als Start-up-Eliteschmiede. Vorige Woche war der französische Premierminister in ihren Räumen zu Gast, er lobte die Tel Aviver Gründerszene und wie sehr sie die Pariser inspiriere.
Der Mann, der behauptet, Terroristen per Foto enttarnen zu können, heißt Itzik Wilf. Ein dünner Mann mit angegrautem Haar, seit 18 Jahren beschäftigt sich der Ingenieur mit den Möglichkeiten digitaler Gesichtserkennung. Er bittet ins Nebenzimmer, dort liegt ein anderer Jungunternehmer mit Laptop auf dem Sofa, doch kein Problem, „bin schon weg“. Itzik Wilf bietet Kaffee an, dann sagt er: „Sie sind nicht der Einzige, der unsere Idee für einen Scherz hält.“
Vor Faception hatte Itzik Wilf verschiedene andere Start-ups. Er entwickelte eine App, die jedem, der sich mit der Kamera des eigenen Smartphones filmt, die passende Kleidergröße anzeigt. Und ein Programm, das Bilder aus Überwachungskameras in Supermärkten auswertet und dem Betreiber mitteilt, zu welchen Uhrzeiten Kunden welchen Alters und welchen Geschlechts den Laden betreten – damit der Markt sie mit der passenden Werbung beschallen kann.
Die Macht der DNA
Seine Erfindungen haben ihm einiges Geld eingebracht, sagt Wilf. Das konnte er jetzt gut gebrauchen, denn die vergangenen dreieinhalb Jahre lebte er vom Ersparten, um seiner jüngsten Idee nachzugehen. Zunächst war er selbst skeptisch. Als Ingenieur glaube er an die Vernunft, „ich bin nicht sehr spirituell und lese keine Kaffeesätze“. Es gebe jedoch zwei Fakten, die er inzwischen anerkenne: „Die DNA eines Menschen hat Einfluss auf die Ausprägung des Gesichts. Und sie hat, auch wenn das lange bestritten wurde, Einfluss auf den menschlichen Charakter.“
Faception tue nichts anderes, als diese beiden Kausalzusammenhänge miteinander zu verbinden. Vor einem Pokerturnier analysierten sie die Gesichter aller 30 Teilnehmer. Ihr Programm kam zu dem Ergebnis, vier Kandidaten hätten eine Chance auf den Turniersieg. Am Ende schafften es zwei von ihnen unter die ersten drei Plätze. Sie haben auch die Bilder der Attentäter von den Pariser Anschlägen im November ausgewertet. Neun von elf stufte das Programm als potenziell terrorbereit ein. Und nein, die Bärte der Männer hätten dabei keine Rolle gespielt.
Welche Gesichtsmerkmale Faception vermisst und mit welchen Algorithmen es rechnet, verrät Itzik Wilf nicht. Er glaubt, dass Konkurrenten seine Idee bald kopieren werden, dabei möchte er nicht allzu viel helfen. Itzik Wilf sagt auch, dass seine Software noch eine 20-prozentige Fehlerquote habe.
Erschaffen Sie da nicht ein Monster, Herr Wilf? Was ist, wenn Menschen zu Unrecht bezichtigt werden?
Sollte das passieren, sagt Wilf, hätte der Anwender schlicht das Programm nicht verstanden. Denn Faception könne selbstverständlich nur eines von vielen Hilfsmitteln sein, um die Gefährlichkeit eines Menschen zu bestimmen. „Es wäre dumm, sich allein darauf zu verlassen.“ Mit einem Geheimdienst sei man bereits vertragseinig geworden. Doch das Spektrum möglicher Kunden sei viel größer. So erkenne Faception auch positive Eigenschaften wie hohe Intelligenz. Arbeitgebern könne das eine Entscheidungshilfe bei Einstellungen sein.
Vor zwei Wochen hat Wilfs Geschäftspartner Faception auf einer Konferenz in New York vorgestellt, seitdem verbreitet sich der Kurzvortrag im Internet, und die Mailbox des Start-ups ist dauerverstopft. Es melden sich Investoren, interessierte Unternehmen, vor allem aber Privatleute, die gleich ein Foto von sich mitschicken und bitten, die Firma möge das doch kurz analysieren. „Für so etwas haben wir keine Zeit“, sagt Wilf. Sie sind doch nur zehn Leute.