Gescheiterte Jamaika-Sondierung: Steinmeier wird zum Anwalt der Demokratie
Lange war nicht klar, was er eigentlich will mit seinem Amt als Bundespräsident. Nun steht das Land ohne Regierung da. Und plötzlich könnte Frank-Walter Steinmeier zu seiner Rolle finden.
Als Frank-Walter Steinmeier anlässlich des Jahrestages der Wiedervereinigung in der Mainzer Rheingoldhalle mahnende Worte an die Deutschen gerichtet hat, wurde er allerseits mit höflichem Beifall bedacht. Rund sieben Wochen ist das her. Er war an diesem Tag schon weit mehr als ein halbes Jahr Staatsoberhaupt. Er hatte Auslandsreisen, Inlandsreisen, allerlei Pflichttermine eines Bundespräsidenten hinter sich, hat kurz vor der Bundestagswahl warnend den Zeigefinger erhoben, weil ihm Stil und Härte der politischen Auseinandersetzung missfielen und irgendwann auch einmal erklärt, dass er die Stärkung der Demokratie zum Inhalt seiner Präsidentschaft machen wolle.
Nur eines hatte Steinmeier noch nicht vermocht: Seinen Landsleuten das Gefühl zu vermitteln, dass dieser Präsident auch eine Vorstellung davon hat, wie genau er denn die Demokratie zu stärken gedenkt, außer vielleicht mit klugen Gesprächsrunden.
Seit diesem Wochenende nun ändert sich das. Dieser Bundespräsident scheint aus dem Zustand des obersten Wortführers der Republik heraus und in die Rolle des ersten Staatsbürgers hinein zu treten. Und zwar eines ausgewiesen politischen, der in das aktuelle Geschäft der Parlamentarier eingreift und sich zum Sachwalter der Interessen der Bürger macht, indem er ihre Institutionen verteidigt und all jenen Politikern die Stirn bietet, die glauben, ein Bundestagsmandat in der Hand zu halten, legitimiere zu allem, was gefällt. „Parteiisch für die Sache der Demokratie“ wolle er sein, hatte Steinmeier nach seiner Wahl im Frühjahr versprochen. Nun will er diese Zusage einlösen.
Ruf zur Verantwortung
Die Entscheidung von FDP-Chef Christian Lindner, die Jamaika-Sondierungsgespräche mit CDU, CSU und Grünen in der Nacht zum Montag abzubrechen, zwingt Steinmeier nach dem Grundgesetz in eine aktive Rolle, die ihm die Verfassung an sonst kaum einer Stelle zubilligt. Die Kanzlerin ist noch keine Kanzlerin sondern nur geschäftsführende Regierungschefin ist. Deswegen bleibt ihr der Weg versperrt, der missglückten Bildung der schwarz-gelb-grünen Koalition und der Weigerung der Sozialdemokraten, mit ihr in großer Koalition zu regieren, durch Vertrauensfrage, die Bitte an den Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages und anschließender Neuwahl zu entfliehen. Artikel 63 des Grundgesetzes macht damit Frank-Walter Steinmeier zum Herr des Verfahrens. Denn er, und nur er, hat die Möglichkeit (und Pflicht) einen Kanzlerkandidaten zu benennen, der dann vom Bundestag gewählt – oder besser gesagt: nicht gewählt wird. Neuwahl angeschlossen.
Doch Steinmeier, die nahende Unwilligkeit der Jamaikaner zum Kompromiss nach vier Wochen zermürbender Sondiererei wohl erahnend, hatte die Handelnden schon am Sonntagmorgen in einem Interview davor gewarnt, sich die Sache zu einfach zu machen und darauf zu vertrauen er werde schon – acht Wochen nach der vergangenen Bundestagswahl – schnell mal Neuwahlen ausrufen. Zur „Verantwortung“ rief er die Unterhändler von Union, Liberalen und Grünen auf und ließ sie wissen, dass er damit meine, den „Auftrag (zur Bildung einer stabilen Regierung) nicht an die Wähler zurückzugeben“. Was zu diesem Zeitpunkt manchem noch wie eine höchst ungewöhnliche Einmischung des Bundespräsidenten in die aktuellen Politikgeschäfte vorkam, war vielmehr Steinmeiers erster Versuch, die Institutionen der Demokratie zu verteidigen. Manche mögen gedacht haben: Wo kommen wir denn hin, wenn wir immer neu wählen müssen, nur weil die da oben keine Lust auf Einigung haben? Viele dürften deshalb Steinmeiers Intervention begrüßt haben.
Kopfschütteln der Bürger
Womöglich spielte aber auch die Erinnerung dieses Präsidenten an den Sommer 2005 eine Rolle. Steinmeier war seinerzeit Kanzleramtsminister von Gerhard Schröder (SPD), der im Mai nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kurzerhand selbst das Grundgesetz in die Hand nahm und zur Neuwahl aufrief, damit er seine schwankende rot-grüne Koalition im Jahr vor der eigentlichen Bundestagswahl auflösen konnte. Was folgte, steht im Geschichtsbuch: Eine fingierte Vertrauensfrage, die Schröder wie erwünscht verlor, ein düpierter Präsident Horst Köhler, der dem hemdsärmeligen Umgang mit der Verfassung hilflos zusehen musste und schließlich im Juli 2005 Neuwahlen ausrief, weil „die Zukunft unserer Kinder auf dem Spiel steht“. Und ein entsetztes Kopfschütteln der Bürger über so viel Chuzpe eines Kanzlers und Schwäche eines Staatsoberhauptes. „Demokratie braucht Mut auf beiden Seiten“, hatte Steinmeier nach seiner Wahl gesagt, „auf der Seite der Regierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden“. Und mutig will er nun offenbar selber sein.
Bei dem, was sich Steinmeier jetzt zur Aufgabe gemacht hat – nämlich auszuloten, ob Jamaika wirklich gescheitert ist oder womöglich auch Schwarz-Rot noch geht – könnte eine zweite Lebenserfahrung des Präsidenten hilfreich sein. Acht Jahre lang war Steinmeier Außenminister (in beiden großkoalitionären Regierungszeiten von Kanzlerin Angela Merkel) und hat, außer Händeschütteln, bewiesen, dass er als Krisenmanager, etwa in der Ukraine-Krise, beharrlich um Lösungen mit einander feindlich gesinnten Parteien ringen kann, die weit schwieriger zu handhaben sein dürften als die Chefs der deutschen Parteien.
Steinmeier wird sich also für die Gespräche mit den Parteivorsitzenden von Grünen, Liberalen und CSU Einblick verschafft haben in die Papiere der Sondierungsgespräche und sich ein eigenes Bild der Lage machen. Man darf durchaus davon ausgehen, dass er Horst Seehofer seine Legende vom nahenden Durchbruch Sonntagnacht genauso wenig unkritisch durchgehen lassen wird wie Christian Lindners Wehklagen über die miese Behandlung seiner FDP. Auch Martin Schulz’ Argument übrigens, die SPD müsse sich jetzt erst einmal vier Jahre von der großen Koalition in der Opposition erholen und stehe deshalb nicht fürs Regieren zur Verfügung, dürfte Steinmeier gewiss nicht widerspruchslos hinnehmen. Auch, und vielleicht sogar gerade als Sozialdemokrat mit ruhender Mitgliedschaft, der im neuen Amt den Anspruch erhebt, der staatspolitischen Verantwortung zur Geltung zu verhelfen.
„Verpflichtung zum Gemeinwohl“
Am Montag hatte Steinmeier alle Beteiligten mit scharfem Wort aufgefordert „innezuhalten“, ihre „Haltung zu überdenken“ und sich ihrer „Verpflichtung zum Gemeinwohl“ bewusst zu werden. Möglich, dass der Bundespräsident mehrfach zu Gesprächen laden und schließlich zu weiteren Sondierungsgesprächen auffordern wird. Wobei er dabei die Klippe umschiffen muss, am Ende selbst zum Sondierer oder zumindest zum Moderator zu werden und damit seine Kompetenzen als Staatsoberhaupt zu überdehnen. Aber die Gefahr ist gering. Schließlich hat er einst auch den Vertrag zu Minsk unter Dach und Fach gebracht.
Und wenn das alles nicht hilft? Dann gibt ihm das Grundgesetz die Aufgabe, zu entscheiden, ob er einer Minderheitsregierung den Vorzug gibt oder den Bundestag auflöst. Neuwahlen also. Ob der Bundespräsident am Ende seiner Gespräche zu der Überzeugung kommt, dass die Wähler noch einmal zur Wahl gerufen werden, hat er noch nicht durchblicken lassen. Allerdings dürfte der Regierungspolitiker Steinmeier eher skeptisch gegenüber Minderheitsregierungen sein, auch aus Erfahrung. In seiner Ansprache nach dem Treffen mit Kanzlerin Merkel am Montag verwies er explizit auf die Rolle Deutschlands in einer zunehmend global vernetzten Welt und der europäischen Gemeinschaft. Mit „Unverständnis und Sorge“, mutmaßte Steinmeier, würde es außerhalb Deutschlands aufgenommen, wenn ausgerechnet im größten und wirtschaftlich stärksten Land Europas die politischen Kräfte ihrer Verantwortung nicht nachkämen. Was durchaus ein Hinweis darauf sein kann, dass Steinmeier am Ende die mangelnde Handlungsfähigkeit einer Minderheitsregierung in den komplizierten internationalen und europäischen Prozessen zum Anlass nehmen wird, um Neuwahlen auszurufen. Angela Merkel wäre eine solche Entscheidung ausgerechnet des Bundespräsidenten, den sie eigentlich nicht ins Amt heben wollte, sicher recht.
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