Winterquartier Zitadelle: Spandaus Fledermäuse und ihr Flugbegleiter
Weniger Futter, kaum noch Schlafplätze: Der Bauboom gefährdet Berlins Fledermäuse. Zum Glück für Abendsegler und Mausohren gibt es die Gewölbe der Zitadelle Spandau, wo sie zu Tausenden überwintern. Und wo Jörg Harder ihren Schlaf bewacht.
Wozu brauchten die Spandauer eine derart große Zitadelle? Gegen die Berliner!, glauben die einen. Gegen die Türken, glauben die anderen. Der große italienische Festungsbaumeister Francesco Chiaramella de Gandino übernahm um 1560 persönlich die Planung und Bauleitung der Zitadelle Spandau. 200 Landsleute brachte er mit, denn im Grund seiner Seele glaubte er nicht, dass die Zivilisation es jemals über die Alpen geschafft hatte.
In den Ohren der Fledermäuse Europas hat der Name Francesco Chiaramella de Gandino noch immer einen guten Klang. Sie halten seine Festung, zu Tausenden, und zwar so, wie man jede Festung halten sollte: im Schlaf. Das ist ihre Zitadelle, niemand kennt sie so gut wie sie. Und Jörg Harder.
Harder ist der oberste Fledermausbeauftragte. Er begutachtet die Post des Vormittags, seine Augenbrauen bilden zwei beredte Bögen des mittleren zivilisatorischen Verdrusses. Das neue Jahr ist noch nicht sehr alt, und wer schreibt? Das Finanzamt. Wahrscheinlich versteht es nicht, wozu ein Wald- und Wiesenverein wie der seine eine Scheune irgendwo in Brandenburg braucht. Gekauft als Kinderstube für das Große Mausohr? Die intellektuelle Leidensfähigkeit des Fiskus kennt durchaus Grenzen.
Die Kleine Hufeisennase - eine Berühmtheit
Jenseits der Zitadelle ist der Fledermausobmann Polizeihauptkommissar, aber gemessen an den Nachtgestalten, die er in seinem Beruf trifft, sind ihm die hier lieber. Harders rechte Hand streichelt fortwährend die linke. Nein, falsch. Da klemmt etwas zwischen Daumen und Zeigefinger. Eine äußerst winzige Winzigkeit, aber die hat Augen, Ohren, Eckzähne und sieht über die Maßen missvergnügt aus.
Eine Fransenfledermaus, auch kurz „die Franse“ genannt?
Der Polizeihauptkommissar möchte jetzt nicht unhöflich sein, aber das hier ist nun wirklich niemals eine Franse. Wahrscheinlich gilt ihm die Unfähigkeit von Menschen, eine Franse von einem Großen Abendsegler oder einer Mopsfledermaus zu unterscheiden, durchaus als Spezialfall des Analphabetismus. Alles Glattnasen. Hufeisennasen dagegen gibt es im hohen Norden nicht, die meiden Berlin.
Die Kleine Hufeisennase ist die vielleicht berühmteste Fledermaus der jüngeren deutschen Geschichte. Um ein Haar hätte sie den Bau der Dresdner Waldschlösschenbrücke verhindert und dem Unteren Elbtal seinen Unesco-Status als Kulturerbe der Menschheit bewahrt. Dann wurde die Brücke doch gebaut, aber schneller geht es oft trotzdem nicht.
Von April bis Oktober gilt auf der Brücke von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang Tempo 30, damit das Rhinolophus hipposideros jeder Windschutzscheibe rechtzeitig ausweichen kann. Aber muss man Rücksicht nehmen auf jemanden, den es gar nicht gibt? Die Kleine Hufeisennase bringt ihre Nachkommen hängend zur Welt und fängt sie im freien Fall auf. Vielleicht klappt das nicht immer, zumindest wurde noch nie eine Kleine Hufeisennase auf der Dresdner Waldschlösschenbrücke gesehen.
Aus dem Wäschekorb in den Keller der Zitadelle
Nicht nur die Kleine Hufeisennase gilt als gefährdet, auch 17 weitere in Deutschland beheimatete Fledermausarten sind bedroht. In Berlin finden die Tiere durch die dichter werdende Bebauung weniger Nahrung, auf dem Land durch das Insektensterben, bei der Sanierung von Fassaden gehen Nischen verloren. Umso wichtiger ist ein sicheres Refugium wie die Zitadelle Spandau, eines der größten Fledermaus-Winterquartiere in Europa.
Das, was Harder da in der Hand hält, ist „noch seltener als die Hufeisennase“, wie der Kommissar frohlockt, „das ist eine Zweifarbfledermaus.“ Noch Stunden zuvor hing sie träumend im Wäschekorb einer Berlinerin. Eigentlich gab es keinen Grund, diesen Zustand zu beenden: Du wäschst und ich hänge hier ab! Keine stört die andere.
Aber der Mensch fühlt sich meist nicht recht wohl in Gesellschaft von Lebewesen, die im Gegensatz zu ihm die Testphase der Evolutionsgeschichte längst durchlaufen haben. Also steckte die Besuchte das Urviech in einen Schuhkarton und gab es auf der Zitadelle ab. Denn Harder und sein ehrenamtliches „Berliner Artenschutzteam e. V.“ leisten auch Erste-Fledermaus-Hilfe.
„Die muss jetzt was trinken!“, beschließt der Polizeihauptkommissar vor seinem Kontrollgang durch die Gewölbe der Zitadelle, wo Tausende bis zum nächsten Frühling vergessen, dass es eine Welt gibt. Bei einem Normalgewicht von Zehn-Gramm-plus ist Dehydrierung eine ernste Gefahr. Harder holt eine Pipette.
Zum ersten Mal fragt man sich, wie schwer eigentlich ein Wassertropfen ist. 0,03 Gramm, so weiß es nachher Wikipedia. Die kleine Fledermaus riskiert also kein Übergewicht, wenn sie den Tropfen, den Harder ihr ins vor Empörung weit offen stehende Maul fallen lässt, auch verschlucken würde. Aber sie will nicht. Niemand, den es womöglich schon zur Zeit der Dinosaurier gab, muss sich diesen biologischen Newcomern beugen, die neuerdings jeden Dachstuhl ausbauen und jede Ritze verfugen.
Francesco Chiaramella de Gandino hat eines der gelungensten Fledermausquartiere Europas entworfen – jede Schießscharte ist eine fehlinterpretierte Fledermauspforte –, aber was Chiaramellas fortgeschrittenste Zeitgenossen über sie dachten, deutet auf Befangenheit: „Die Fledermauß ist ein Mittelthier zwischen dem Vogel und der Mauß, also dass man sie billich eine fliegende Mauß nennen kann“, befand die große „Historia animalum“.
Man soll Fledermäuse grundsätzlich nur mit Handschuhen anfassen, denn sie tragen einen jahrmillionenalten Pool von Viren und Bakterien in sich. Wissenschaftler haben den möglichen Ursprung der letzten großen Ebola-Epidemie in Westafrika rückverfolgt bis zu einem kleinen Jungen im Dorf Meliandou in Guinea, der 2013 seine Eltern ansteckte. Dicht neben dem Haus lebten in einem hohlen Baum Mopsfledermäuse, die die Kinder gern fingen, mit denen spielten und die sie manchmal auch grillten. In diesem Baum wurde der Virus gefunden.
Harder weiß, dass er sich schützen sollte, aber das will er nicht. 50 Millionen Jahre Gattungsgeschichte in der eigenen Hand spüren! Und gegen Tollwut ist er geimpft. Es ist schön zu sehen, wie er das Fellkügelchen hält, das unter seinen Berührungen zusehends größer wird. Es pumpt sich auf und wird wärmer, sein Herz schneller. Im Winterschlaf reichen drei Schläge pro Minute sowie eine Umgebungstemperatur, die über null Grad liegen sollte; eine gefrorene Fledermaus hat falsch kalkuliert.
"Flügelprellung im rechten Handgelenk, ein Finger leicht beschädigt"
Der Kommissar setzt die kleine aufgeweckte Glattnase in einen Plastikkäfig der Pension Harder, neben ihr schläft ein Großer Abendsegler, der ist schon länger da. Harders Abendsegler-Diagnose: „Flügelprellung im rechten Handgelenk, der erste Finger ist leicht beschädigt.“
Hand? Finger? Genau, bestätigt der Kommissar. Ist doch kein Vogel, die Maus. Chiroptera, wie die Säugetier-Ordnung der Fledertiere heißt, bedeutet Handflügler. Der Daumen ist zum Widerhaken verkümmert, die Finger aber, lang und filigran, reichen bis in die Flügelspitzen.
Neben dem invaliden Abendsegler steht ein Napf voller sich provokant räkelnder Mehlwürmer, fasst berühren sie schon sein Fell, aber er macht seine Augen nicht einmal ein kleines bisschen auf. Unfassbar! Der Große Abendsegler, Nyctalus noctula, Flügelspannweite bis zu 45 Zentimetern, gilt doch gemeinhin als die größte Fressmaschine weit und breit.
Der erste Fledermausmann auf der Zitadelle Spandau hatte einen großen Abendsegler zu Hause. Der Pionier der Fledermausforschung um 1930 hieß Martin Eisentraut, sein Abendsegler hieß Auguste. Auguste konnte in einer halben Stunde 115 Mehlwürmer fressen. Der Zoologe fasste ihr Temperament so zusammen: „Auguste blieb gefräßig und friedlich, offenbar zwei verwandte Eigenschaften.“
Wenn irgendwo in Berlin das Wartezimmer eines Arztes voller Fledermäuse hing, erfuhr Eisentraut das zuerst. Heute nimmt Harder die Notrufe entgegen.
Der Polizeihauptkommissar blickt auf seine Uhr – in drei Stunden beginnt seine Nachtschicht –, und er schlägt dem unaufmerksamen Angehörigen der Gattung Nyctalus noctula vor, die Würmer zu fressen, bevor sie zu Käfern werden, denn er verabscheue es, Käfer zu fangen. Auch gehen die Käfer an seine Südfrüchte, die er jede Woche kistenweise vom Fruchthof holt. Die sind für seine 30 Nilflughunde und die 120 südamerikanischen Brillenblattnasen, die als Besucherattraktion eine Kellertür weiter leben und täglich zehn Kilo Obst und Gemüse fressen.
Ich habe da was für dich!, sprach vor fast 15 Jahren eine Nachbarin zum Kommissar, in jenem leicht orakelnden Tonfall, in dem man mit wenigen Worten über das Leben anderer Menschen entscheidet. Die Worte lauteten: Der Fledermauskeller auf der Zitadelle sucht einen neuen Betreiber.
Natürlich, man hätte gleich den Naturschutzbund beauftragen können, doch die Fledermaus kommt, wie jeder weiß, nicht nur als Naturwesen infrage, sondern fast ebenso als Kulturwesen, unter der Voraussetzung, dass sowohl die Hölle als auch das Schloss des Grafen Dracula in Transsilvanien markante Kulturorte sind. Beide galten lange Zeit als eigentliche Heimat der Fledermaus.
Wie auch immer, transsilvanische Kernkompetenz traute dem Naturschutzbund keiner zu, das war die Geburtsstunde des „Berliner Artenschutzteams“, das seit 2003 unter der Leitung des Hauptkommissars den Fledermauskeller im Haus IV der Zitadelle betreibt.
Im früheren Heeresgasschutzlaboratorium, wo während des Zweiten Weltkriegs das Nervengas Tabun getestet wurde, empfangen die Nilflughunde und die Brillenblattnasen täglich Besuch, das Büro nicht. Trotzdem steht eine blasse Besucherin plötzlich drin und möchte einen Fledermaus-Kindergeburtstag buchen. Wahrscheinlich hat sie vom Dracula-Zimmer gehört und davon, dass das Geburtstagskind in die Höhle der Nilflughunde darf, Flügelspannweite 60 Zentimeter, und wenn es da steht und eine Banane in der Hand hält, muss es davon ausgehen, dass der Anflug sofort beginnt. Kindergeburtstag? Der Hauptkommissar schaut skeptisch in ein großes Buch und sagt, dass da vor dem nächsten Monat nichts zu machen sei.
"Der braucht wieder frisches Blut für seine Vampire"
Wer seine Primärbildung dem Kino verdankt, glaubt häufig, dass Fledermäuse Vampire sind. Das ist falsch. Nur eine südamerikanische Unterart der Blattnasen ernährt sich von Blut, das ist die Vampirfledermaus. Da Harders Vorgänger eine kleine Population auf der Zitadelle stationiert hatte, die ihn sehr durstig ansah, führte ihn fortan kein Weg an den Berliner Schlachthöfen vorbei, und alle wussten schon: „Der braucht wieder frisches Blut für seine Vampire.“ Aber wirkliche Zuneigung war es nie.
Wenn Harder es vor Dienstbeginn noch schaffen will, den Winterschlaf der Tausenden in den Gewölben der Zitadelle zu observieren, müsste er jetzt losgehen. Harder ist hier gewissermaßen auch der Nachtwächter, er schaut nach, ob alles seine tiefschlafende, stark unterkühlte, herzschlagverminderte Ordnung hat. Kurz vor der Bastion König schließt er ein Tor auf und steigt die Treppen zur unteren Feuergalerie hinab.
In den 1930er Jahren machte Eisentraut alles genauso wie Harder heute: „Mit unsern Taschenlampen leuchteten wir die Wände und Decken ab.“ Am häufigsten sind das Mausohr und die Franse, erklärt Harder vorausgehend und scheint die leise Enttäuschung seiner übrigen Expeditionsmitglieder gar nicht zu bemerken. Hatte Eisentraut nicht geschrieben: „Dicht gedrängt hingen sie, eine neben der anderen, an der Decke.“ Er zählte allein 40 Mausohren in einem Klumpen. Nun gut, er fand sie „in der hintersten Ecke eines Ganges“. Da sind wir noch nicht.
„Sehen Sie, da und da und da!“, ruft Jörg Harder aber nun fast bei jedem Spalt, in den seine Taschenlampe leuchtet. Fleder an Fleder verstopfen sie vor allem die Entlüftungslöcher, durch die einst der Pulverdampf der Kanonen abziehen sollte.
Auguste breitete am Ende doch die Flügel aus
Doch auch Fledermäuse irren, wenn sie zu Konsumbürgern werden. Seit der Napf mit den Mehlwürmern neben ihr stand, ist Eisentrauts Großer Abendsegler Auguste nie mehr geflogen, trotz der Weisheit von Jahrmillionen in ihren Genen.
Dennoch neigt Jörg Harder nicht zu anthropologischem Hochmut wie die meisten seiner Artgenossen. „Im Menschen schlug die Natur die Augen auf“, hatte der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling gesagt. Betörender kann man das gar nicht formulieren. Harder aber und die schlafenden Fledermäuse der Zitadelle Spandau wissen, dass das nur eine Notlösung war: Wer die Käfer nicht trampeln hört und nicht einmal ein Echolot besitzt, dem blieb wohl gar nichts anderes übrig.
Als Auguste nach Jahren am Boden eines Tages fotografiert werden sollte und auf einen Baum gesetzt wurde, war sie einen Augenblick lang ganz still, breitete dann ihre Flügel aus, von denen sie kaum mehr wusste, und kam nie mehr zurück.
Für den Patienten mit der leichten Flügelprellung im rechten Handgelenk soll im Frühjahr das orthopädische Probefliegen im Keller IV beginnen. Die kleine seltene Zweifarbfledermaus kehrte noch am selben Abend in den Nachthimmel über Berlin zurück.