Regierungserklärung von Michael Müller: Raed Saleh stiehlt dem Chef die Show
Es sollte Michael Müllers großer Tag werden. Dann fordert Raed Saleh mehr Ehrlichkeit seiner Koalition: Asylbewerber, die in der U-Bahn Obdachlose anzünden, hätten ihr Gastrecht verwirkt.
Er eilt ans Rednerpult und legt direkt los. In kurzen Sätzen feuert Raed Saleh seine Forderungen ab. Eine nach der nächsten. Der SPD-Fraktionschef spricht von „Brutstätten des Terrors“ und verlangt die „volle Härte des Gesetzes“. Und bei der Videoüberwachung, ruft er den eigenen Leuten im Berliner Abgeordnetenhaus zu, „müssen wir uns ehrlich machen“. Die Bürger erwarteten zurecht, dass der Senat zu einer „zeitgemäßen Lösung“ komme.
Es ist der Moment, in dem die Gesichtszüge des früheren Linken-Chefs und neuen Kultursenators Klaus Lederer in der Senatsloge erstarren. Die grüne Wirtschaftssenatorin Ramona Pop hört auf, ihr Tablet zu traktieren, und hält sich erschrocken die Hand vor den Mund.
Dann setzt der Sozialdemokrat noch eins drauf: Jugendliche, die in der U-Bahn Obdachlose anzünden wollten, hätten ihr Gastrecht verwirkt. Mit vielem war an diesem Donnerstag zu rechnen, aber wohl nicht damit, dass Saleh den Chef des Senats, der gerade erst die Richtlinien der künftigen Regierungspolitik verkündet hat, in den Schatten stellt. In den Reihen der Koalition wird geraunt und geflüstert – aber auf den Bänken der Opposition wächst sichtbar die gute Laune. Saleh redet sich in Rage. Es scheint ihm egal zu sein, dass er den Beifall zeitweise von der falschen Seite bekommt und ihm die Abgeordneten von CDU, FDP und AfD vergnügt applaudieren, während Linke und Grüne kaum einen Finger rühren.
Und Michael Müller? Er schaut kaum hoch von seinen Akten, in denen er blättert, als gäbe es Wichtigeres zu tun, als den Worten des Genossen Fraktionschef zu lauschen. Dessen Redemanuskript, so heißt es, habe Müller vorab nicht gekannt. Es gab keine Vorabsprachen und Rollenverteilungen, wie sie bei solchen Anlässen durchaus üblich sind.
Bürgermeister Müller spult 31 Minuten Pflichtprogramm ab
Schon wieder sieht es so aus, als ob Berlins Regierungschef die Politik nicht gestaltet, sondern erleidet. Nach einem Monat Rot-Rot-Grün wirkt Müller bereits gebeutelt und erschöpft. Erst der Streit um den stasibelasteten Staatssekretär Andrej Holm, dann der Terroranschlag am Breitscheidplatz. Die Regierungserklärung am Donnerstag hätte ein Befreiungsschlag werden können. Doch statt klare Akzente zu setzen, spult Müller, nach dem Gedenken des Parlaments an die Opfer vom Breitscheidplatz, ein Pflichtprogramm ab: 31 Minuten Rede zu den Richtlinien seiner Regierungspolitik.
Schwarzer Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte. „Wir leben in Zeiten, die alles andere sind als Routine“, sagt Müller. Er spricht von „Verletzlichkeit“, „Mitgefühl“ und „dem friedlichen Miteinander“, das gestärkt werden müsse. Ab und zu unterbrochen vom routinierten Beifall der Koalitionsfraktionen. „Wir werden ein Senat für die ganze Stadt sein“, verspricht er am Schluss.
Von Leidenschaft keine Spur. Selbst die Senatskollegen vertreiben sich nach einer Viertelstunde die Zeit, lesen Akten, tippen in Handys, suchen in der Handtasche nach Schokolade oder schauen versonnen in den Saal. Besonders beschäftigt wirkt Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher, Linke, die mit dem Regierenden Senatschef voraussichtlich in der nächsten Woche den Konflikt um ihren Staatssekretär Holm austragen muss. Holms Umgang mit der eigenen Biografie ärgert Müller inzwischen sehr.
Aber auch in diesem Streit verhält sich der Regierende eher zurückhaltend. Viel zu passiv, meinen einige. Es ist ja nicht so, dass Müller keine Gefühle kennt und ohne Leidenschaft ist, aber er kann sein Inneres gut verbergen. So auch an diesem Tag, als er zum ersten Mal in seiner Karriere die Senatsstrategie für fünf Jahre im Namen seines Kabinetts erklären darf. Er lässt die Chance verstreichen, die Saleh anschließend nutzt – statt dem sozialdemokratischen Regierungschef mit einem braven Vortrag zur Seite zu stehen.
Salehs Botschaft: Der Staat muss Kante zeigen
Die eigene Rede nennt Saleh einen „Appell an die Herzen“. Der SPD-Fraktionschef, der in Palästina geboren und in Spandau in einer großen Migrantenfamilie aufwuchs, war schon immer ein Geschichtenerzähler. Im Parlament spricht er über einen weinenden Imam vor der Berliner Gedächtniskirche, über den Trauergottesdienst für die Opfer des Anschlags. Und schließt mit einer Geschichte über die Schule seiner Kinder, wo bei der Weihnachtsfeier viele Kulturen und Religionen vertreten waren und gemeinsam das alte Lied sangen, in dem es heißt: „Öffnet mir die Herzen“.
Salehs Botschaft ist klar: Der „starke Staat“ muss Kante zeigen, wo dies nötig ist. Aber jenen tatkräftig helfen, die „anständig sind“ und sich integrieren wollen. Innere Sicherheit garantieren und die soziale Spaltung der Stadt überwinden. Damit umschreibt Saleh mit einfachen Worten die beiden Themen, die im bevorstehenden Bundestagswahlkampf voraussichtlich eine große Rolle spielen werden. Bei den eigenen Genossen kommt das gut an. Die große Mehrheit der SPD-Fraktion ist beeindruckt von der Rede. Das gilt auch für viele, die nicht unbedingt zu Salehs engen Freunden gehören.
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