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Macht Autos und Motorräder schöner. Ingolf Kühn ist einer der Porträtierten.
© RBB

"Die Ostdeutschen" im RBB: Einer fehlt immer

25 Nervenbahnen: Der RBB zeigt mit „Die Ostdeutschen“ starke und präzise Porträts von ehemaligen DDR-Bürgern. Nur nicht zur besten Sendezeit.

Der Rahmen ist gespannt, das Bild gemalt. Doch nicht das große Panorama, vielmehr figurieren 25 Einzelbilder, die zusammengeschaut werden müssen. „Die Ostdeutschen“, das ist weit mehr als die Summe seiner Teile. Es sind 25 Porträts von Menschen, die für „25 Wege in ein neues Land“ stehen. Eine RBB-Produktion, die sich ordentlich Programmplatz erobert hat: Vom 3. bis zum 7. November, jeweils fünf Teile nach „RBB Aktuell“ um 22 Uhr 15. Wer nur eine Stichprobe, wer spätestens das Gesamtwerk gesehen hat, weiß, dass die jeweils 80 Minuten nicht ins Spätprogramm, sondern in die beste Sendezeit gehört hätten: 21 Uhr. Es wäre die mutigere Tat, zugleich die angemessene gewesen. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg, auch er ist ein spätes Kind der Einheit, die fusionierte ARD-Anstalt aus SFB und ORB markiert einen Weg ins neue Rundfunk-Deutschland.

„Die Ostdeutschen“ – eine Risikoproduktion? Kontaminiert auf ewig und drei „Abendschau“-Jahre? Ulli Zelle hat keinen Auftritt – vergiss es! Ingolf Kühn, Andrea von Malottki, Paul und Anne-Katrin Scharlach sind im medialen Maßstab No Names. Ein Airbrush-Künstler im Landkreis Spree-Neiße – „Der Kämpfer“; die stellvertretende Leiterin der Stasiunterlangenbehörde in Schwerin – „Die Aktenfrau“; die Bibliothekarin in Minden – „Die Bewerberin“.

Was konstituiert Ostdeutschland? Gemeinsam erlebtes Leben.

Bekannte bis Prominente wie Radiomann Jürgen Kuttner, Autorin Andrea Hanna Hüninger, „Zeit“-Reporter Christoph Dieckmann, Galerist Judy Lybke kommen ebenfalls vor. Querschnitt, Durchschnitt, Hochschnitt, exemplarisch soll es im Insgesamt sein. Fehlt da wer? Einer fehlt immer. Das fehlt nicht: Erfahrungen von Verlust, Einsteigen in eine neue Gesellschaft, Eintauschen von Selbstmitleid gegen Selbermachen, Eintauchen durch Erfolg. Die Trauerarbeit über die verschwundene DDR ist geleistet, geblieben ist der skeptische Blick. Vielleicht ist es das, was Ostdeutschland konstituiert: individuelle Erinnerung an ein gemeinsam erlebtes Leben. Ein Ost-Narrativ.

Ingolf Kühn ist in der DDR Lastwagen gefahren und hat für Flohmärkte Rembrandt-Gemälde kopiert. Jetzt fährt er einen dicken Amischlitten durch Cottbus und brusht Motive auf Autos und Motorräder. Läuft prima, das Sprühen. In Abu Dhabi, in München, in Köln, es hat ihn wohlhabend gemacht. Den nächsten Schritt hat er schon getan, er ist bildender Künstler. Er besprüht Metallplatten, er bemalt sie, beschleift, er besudelt, er berserkert, er ist Grobkünstler und Feinmaler. Das Abstrakte ist sein Elixier. Ein Traum bleibt: Kühn will ins Museum, unbedingt. „Ich habe so viel Kraft, darum leuchten die Farben so sehr.“ Ingolf Kühn ist jetzt über 60.

25 Porträtfilme, Lebenslinien, Adern, Nervenbahnen, gestrippt in der DDR, die nicht mehr die DDR ist. Eine Summierung schreit immer nach Doppelpunkt, Überschrift, nach dem einen Begriff für Masse. Funktioniert hier nicht. Die 25 Produktionen sind zu eigen. Gefertigt im Kollektiv unter der künstlerischen Leitung von Lutz Pehnert, in der redaktionellen Hoheit von Rolf Bergmann und Jens Stubentauch, in der Oberhoheit des RBB-Dokumentaristen Johannes Unger. Sie alle wussten, was sie taten, sie alle konnten, was sie taten. Kollektivismus im Kreativquadrat. Ein Wasserzeichen drückt durch die unterschiedlichen Handschriften hindurch: das Fernsehen des sehr genauen Blicks, des präzisen Hinschauens bekommt eine liquide, zuweilen fluide Form. Das geht von feuilletonistisch bis flott. Das geht nicht so weit, dass der Mensch zum Material wird. Verdeutlichung statt Verfremdung, der Mensch bleibt Mensch.

Vielleicht war das gelebte Leben falsch. Dafür war es echt

Andrea von Malottki ist kein Stasiopfer. Zu DDR-Zeiten war sie politisch kaum interessiert. Sie kannte keine Dissidenten, keine Stasimitarbeiter. Sie wurde Lehrerin für Englisch und Deutsch, als Staatsangestellte fühlte sie sich nicht. 1998 zog sie mit ihrer Familie von Rostock aufs Dorf, Englisch wurde nicht gebraucht. 1991 der neue Job, in der Stasiunterlagenbehörde-Außenstelle in Schwerin. Heute, viele tausend Akteneinsichten weiter, ist sie verwundert über jene, die mitgemacht haben; verwundert über jene, die nicht mitgemacht haben. Bringen Akten Abrechnung, Aufklärung, vergiften oder versöhnen sie? Andrea von Malottki hat keine vorgefertigte Antwort parat, will sie nicht parat haben. Sie sucht selber nach Antworten: Wie schwach ist der Mensch?

Kein Prototypen-Fernsehen – Menschen-Fernsehen. Weil da diese Nähe entsteht (keine Kumpanei!), dieses geglückte Amalgam aus individueller Erzählung und filmischer Übersetzung. Die Arbeiten sind weder auf Sympathie noch auf Antipathie angelegt, sie sind von Interesse getrieben und – zuweilen – von Zuneigung. Die Ostdeutschen gehen nicht auf einen Leisten, kein Ossi-Ameisenhaufen, wo der Fernsehforscher Mikroskopie betreiben kann. Zwar überwiegt der zwiespältige Blick zurück auf Irrungen und Wirrungen der Zeitenwende, Abrechnung bis Verbitterung sind selten, das gelebte Leben – mag es auch falsch gewesen sein, echt war es allemal – ist angenommen worden. Vielleicht steckt darin eine Erklärformel für 25 Jahre Ostdeutschland in Deutschland: Skepsis mal Mut.

Im Osten arbeitslos, im Westen heimatlos

Vier Millionen Ostdeutsche sollen ihr Land nach der Wende verlassen haben. Anne-Katrin Scharlach hat es auch getan, sie hatte Weißwasser in der Oberlausitz verlassen. Seit langen Jahren lebt sie in Minden, arbeitet dort in der Bibliothek der Fachhochschule. Sie lebt mit ihrem Sohn zusammen. Paul ist jetzt 28, „Lebenskünstler“ nennt ihn die Mutter, er will ein Studium beginnen. „Die Bewerberin“ ist der Schlussfilm am 7. November. Ein Zufall wird das nicht sein. Denn Anne-Katrin Scharlach plagt das Heimweh. Zwar ist der frühere Wohnblock in Weißwasser Süd abgerissen – „Erst aus dem Boden gestampft, jetzt wieder eingestampft“ –, doch die Bindungen sind intakt. Sie schreibt Bewerbung auf Bewerbung, mal gibt es eine Antwort, mal keine, doch echtes Interesse an der Arbeitskraft der Anne-Katrin Scharlach gibt es nie. Weiterschreiben, weiterbewerben, Weißwasser darf nicht zum unerfüllbaren Sehnsuchtsort werden. „25 Jahre – mein halbes Leben“, sagt Anne-Katrin Scharlach, das nächste Vierteljahrhundert muss anderes bringen als Minden. Sie sagt: „In Weißwasser war ich arbeitslos, hier bin ich heimatlos.“

Darf es noch ein PS sein? Die West-Berliner waren 28 Jahre hinter einer Mauer eingesperrt. Sie fuhren nach Westdeutschland, sie lebten ein Leben, das westdeutsch war und nicht bundesrepublikanisch. Das hat sie geprägt. Darüber sollte, darüber muss der RBB berichten, über die unterschiedlichen, verschlungenen Wege in neues Leben, das das alte nicht mehr sein konnte.

Die West-Berliner gehören wie die Ostdeutschen zur Ethnologie des Inlands.

„Die Ostdeutschen“, RBB-Fernsehen, 3. bis 7. November, jeweils 22 Uhr 15

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