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Bundeskanzlerin Angela Merkel hoffte bestimmt auf einen anderen Dialog mit ihren Bürgern.
© dpa

#merkelstreichelt: Kanzlerin Merkel und das Mädchen Reem

Plötzlich hält Angela Merkel inne. Eine Schülerin weint. Die junge Palästinenserin Reem soll vielleicht abgeschoben werden. Die Kanzlerin kann sie nur trösten. Nicht helfen. Man könne eben nicht alle aufnehmen. Selten sind Politik und Wirklichkeit so aufeinander geprallt.

Ein Kind weint, und eine ältere Frau beugt sich hinab und streicht ihm über die Wange. Das passiert wahrscheinlich in jedem Moment tausendmal auf der Welt. Aber dieses Kind ist ein Flüchtlingsmädchen, und die Frau die deutsche Kanzlerin. Angela Merkel ist dieser Tage öfter unterwegs für das „Gut Leben“-Projekt ihrer Regierung.

Im „Bürgerdialog“ soll Politik erfahren, was ihre Bürger anregt, aufregt und bedrückt – das ist der Plan. In der Rostocker Paul-Friedrich-Scheel-Schule geht er unerwartet gründlich auf. Und seither tobt auf Deutschlands Internet- und Twitter-Kanälen ein Sturm, wie er selbst an diesen rasch aufbrausenden Orten nicht allzu oft vorkommt.

Angela Merkel am Mikrofon

Aber das, was da passiert ist, kommt auch nicht oft vor. Joachim Mangler ist seit zwanzig Jahren Journalist. An diesem Donnerstag macht der 58-jährige Reporter der Deutschen Presse-Agentur sich mittags auf zur Scheel-Schule, wo Merkel 32 Kindern Rede und Antwort stehen will. Die Scheel-Schule ist ein Förderzentrum für Körperbehinderte. In der Turnhalle steht eine Sitzblock-Arena im Kreis.

Die Kanzlerin bekommt ein Mikrofon, ein Moderator führt durch die Veranstaltung, Kameras zeichnen sie auf – wer mag, kann diese Bürgerdialoge auf der Internet-Seite des Bundespresseamts verfolgen. Sigmar Gabriel hat auch schon einen absolviert, andere Minister sollen folgen.

Seit vier Jahren lebt Reem in Deutschland

Bisher war das mäßig spannend: Bürger fragen, Politiker sollen eigentlich bloß zuhören, antworten aber gewohnheitsmäßig dann doch. Auch in Rostock nimmt die Sache ihren Lauf, etwas kindgerechter, schließlich ist der Moderator vom Kinderkanal Kika ausgeliehen.

Man ist nach einer halben Stunde beim Umweltschutz, als sich Reem meldet. Die Sechstklässlerin mit den langen dunklen Haaren will etwas zur Umwelt wissen. Doch sie will, der Moderator erinnert sie daran, eigentlich etwas anderes loswerden. Reem ist Palästinenserin. Seit vier Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Deutschland.

Sie hat fließend Deutsch und Englisch gelernt und sogar ein bisschen Schwedisch. Doch seit vier Jahren lebt sie in Ungewissheit. Die Familie hat lange keine Aufenthaltsgenehmigung, neulich standen sie kurz vor der Abschiebung. „Jetzt ist erst mal ’ne Genehmigung da“, sagt das Mädchen; eine vorläufige. Aber die Ungewissheit bleibt. „Warum is’n das eigentlich so?“

Merkel fragt nach: Aus dem Libanon kommst du? „Libanon gilt jetzt nicht als’n Land, das direkt einen Bürgerkrieg hat.“ Reem nickt: „Genau!“ Und Deutschland werde nicht alle Menschen zu sich holen können, die im Libanon in Lagern lebten, „weil wir noch sehr viele haben, die direkt aus den Kriegsgebieten kommen“.

Das Mädchen stimmt zu: „Verständlich.“ Nur, das hilft ihr alles nicht. Studieren will sie, das Leben genießen, ihre Familie im Libanon wiedersehen dürfen, sich Ziele setzen können: „Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht, solange ich nicht weiß, ob ich bleiben kann.“
Merkel weiß es auch nicht. Sie versucht zu erklären, sagt, dass die Verfahren jetzt verkürzt werden, um solche jahrelangen Schwebezustände zu vermeiden, „davon könntest Du vielleicht profitieren, und dann sagt man Ja oder Nein“. Aber dass es eben auch ein Nein sein kann. Weil nicht alle kommen könnten, die in Not sind. „Das ist manchmal hart in der Politik – wenn du jetzt vor mir stehst, dann bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber ...“

Elf Minuten dauert der Dialog, Reporter Mangler wird es später noch einmal nachprüfen. Zum Schluss ein kurzes Geplänkel mit dem Moderator, da zeigt die Kamera plötzlich ein betroffenes Kanzlerinnengesicht, ein Schwenk in ihre Blickrichtung: Reem weint, hemmungslos. Eine Freundin nimmt sie in den Arm. Merkel geht auf die Mädchen zu. „Ooch komm, Du hast das doch prima gemacht!“

Merkel will das Kind streicheln

Darum, ruft der Moderator, gehe es nun wirklich nicht! Merkel wird scharf: „Das weiß ich, dass das ’ne belastende Situation ist.“ Trotzdem will sie das Kind streicheln, und sie will ihm offenkundig etwas Tröstendes sagen – was sagt man da, als Politiker? „Weil wir ja euch nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du’s ja auch schwer hast und weil du ganz toll dargestellt hast für viele, viele andere, in welche Situationen man kommen kann.“ Reporter Mangler schreibt seinen Bericht: „Politik hat Folgen, auch für eine Bundeskanzlerin.“ Auch der NDR bringt einen Ausschnitt in seiner Sendung „Aktuell“. In der Anmoderation bekommt die Szene freilich gleich einen forschen Dreh. „Jetzt soll Reem abgeschoben werden“, behauptet der Sprecher. „Das muss man einem hoffnungsvollen, jungen Menschen erst einmal erklären!“

Am nächsten Morgen explodiert das Netz. Das Twitter-Stichwort #merkelstreichelt macht blitzschnell die Runde. Witzbolde verbreiten Fotomontagen, wen Merkel noch alles streichelt – Katzen natürlich oder den Griechen Alexis Tsipras ... Aber viele Kommentare sind nicht witzig, sondern böse. Wer mag, kann sie nachlesen, nur einer als Beispiel. Er zitiert Adorno und Horkheimer: „Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand hier kann vernichten.“ Der Satz ist im Jahr 1944 aufgeschrieben worden. Nicht schwer zu erraten, wem er galt.

Angela Merkel mit ihrem Versuch die Schülerin zu beruhigen: "Ich darf sie jetzt aber dennoch mal streicheln"
Angela Merkel mit ihrem Versuch die Schülerin zu beruhigen: "Ich darf sie jetzt aber dennoch mal streicheln"
© dpa

In der Bundesregierung kriegen sie den Sturm mit. Sie kriegen auch mit, dass es einen Nebensturm gibt. Im regierungsamtlichen Bericht über den Auftritt steht nämlich der Satz „Vor lauter Aufregung musste das Mädchen schließlich weinen.“ Kurz darauf ist der Satz verschwunden, er heißt jetzt: „Das Mädchen musste weinen“. Nächste Hohn- und Spottwelle.

#nichtmeinekanzlerin ist ebenfalls wieder beliebt

Gegen Mittag setzt @regsprecher einen kurzen Tweet ab. „Ihre Chefin ist herzlos“, hat ihn „DerLaxx“ angeschrieben, „gebt dem Mädchen Asyl!“. Steffen Seibert schreibt zurück: „Es lohnt sich mal das ganze Gespräch von Kanzlerin #merkel mit der Schülerin anzusehen.“ Er hängt einen Link an. „Kein Bedarf - die 2 Minuten haben ausgereicht zum kotzen“, funkt ein „Georg Tsiolis“ zurück.

Eiskalt, keine Gefühle, wussten wir doch schon immer – „#nichtmeinekanzlerin“ hat als Twitter-Stichwort Nebenkonjunktur. Auch die Profi-Politik ist da rasch nicht mehr weit. „Die Fehler der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik kann man nicht wegstreicheln“, schreibt die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Aber da bricht sich der Shitstorm dann doch. „Was hätten Sie gemacht?“ fragt einer zurück. „Der jungen Dame ein Bleiberecht erteilt? Der Nachbarin ebenfalls und der anderen nicht?“

Das ist eine ziemlich gute Frage. Es wäre für Merkel ja simpel gewesen, sich aus der Affäre zu ziehen. Politiker machen das oft, wenn ihnen ein Bürger zu nahe kommt mit seinem Anliegen: Geben Sie mir mal Ihre Adresse, mein Büro kümmert sich. Ein Relikt aus der Feudalzeit: Früher warf sich der Untertan dem Fürsten zu Füßen und erbat Gnade vor Recht.

Aber das, sagt einer von Merkels Leuten, das gehe doch überhaupt nicht: bloß um des kurzen Beifalls willen mal eben das Recht außer Kraft setzen für ein kluges, hartnäckiges, weinendes Mädchen.

Alle wollen Reem aufspüren

Wie hat Merkel gesagt? „Das ist manchmal auch hart in der Politik.“ So etwas, sagt Reporter Mangler, hat er noch nie erlebt, „dass Politik so unvermittelt auf Wirklichkeit trifft“. Der Journalist kriegt jetzt haufenweise Anrufe von Kollegen. Alle wollen Reem aufspüren. Das kleine Mädchen mit der Gehbehinderung könnte zum Talkshow-Star werden, zur Kronzeugin für oder gegen Merkel. Besser wäre, die Suche misslingt. Sie ist jetzt schon mehr als genug Gegenstand. Und übrigens – vielleicht muss sie sich gar keine Sorgen machen. Gerade erst hat die Regierung das Bleiberecht geändert, der Bundespräsident muss nur noch unterschreiben. Gut integrierte Jugendliche und ihre Familien dürfen dann nach vier Jahren hier bleiben, nicht wie bisher nach sechs. Merkel ist das auch nicht eingefallen in diesem Moment. Folgt man der Twitter-Logik, wäre also jetzt wohl die nächste Hämewelle fällig: #muttiweissnix oder so.

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