Bundeskanzlerin im Bürgerdialog mit Schülern: Angela Merkel trifft auf verzweifeltes Flüchtlingsmädchen
Wohl nicht allzu oft wird Angela Merkel so unmittelbar mit den Folgen der Politik konfrontiert. In Rostock war es jetzt ein weinendes Mädchen aus dem Libanon, das der Kanzlerin die Folgen der europäischen Flüchtlingspolitik vor Augen führte. Die Bundesregierung veröffentlichte nun eine längere Version des Videos.
Reem weint. Gerade hat das Mädchen palästinensischer Abstammung Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von ihrem Schicksal erzählt. Dass sie und ihre Familie jüngst kurz vor der Abschiebung standen und dass sie seit Jahren den Rest ihrer im Libanon lebenden Familie nicht mehr gesehen hat. Die Spannung in der Turnhalle der Rostocker Paul-Friedrich-Scheel-Schule ist an diesem Mittwoch deutlich spürbar. Die Kanzlerin wird beim Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ vor 32 Schülern im Alter von 14 bis 17 Jahren direkt mit den Folgen der EU-Flüchtlingspolitik konfrontiert.
Emotionaler Höhepunkt: Merkel geht zu der Sechstklässlerin und streichelt ihre Wange. Aber die Kanzlerin macht auch deutlich, dass sie für das hübsche und aufgeweckte Mädchen nicht mehr tun kann. Sie spricht über die Anstrengungen der Bundesregierung, das Flüchtlingsproblem in den Griff zu bekommen. „Das ist manchmal auch hart - Politik“, sagt Merkel und kommt ein wenig ins Stocken. „Du bist ein unheimlich sympathischer Mensch“, sagt Merkel. Aber Reem wisse halt auch, dass in den palästinensischen Lagern im Libanon noch Abertausende Flüchtlinge sitzen. Deutschland könne es nicht schaffen, allen Flüchtlingen im Nahen Osten oder denen in Afrika zuzurufen: „Ihr könnt alle kommen.“
Lebenswirklichkeit trifft auf Politik
„So kann man doch nicht mit einem kleinen Mädchen umgehen“, sagt eine Lehrerin im benachbarten Raum des modernen Schulzentrums, wohin der Dialog live übertragen wird. Reems Schicksal geht den Zuhörern in der Turnhalle des Schulzentrums tief ins Herz. Seit vier Jahren ist sie erst an der integrativ arbeitenden Schule, hat in dieser Zeit fließend Deutsch und Englisch gelernt, etwas Schwedisch kann sie auch. Merkel ist beeindruckt und nimmt die Chance wahr, darauf aufmerksam zumachen, wie wichtig die Sprache bei den Integrationsbemühungen sind. Der Hinweis trifft aber nicht die Lebenswirklichkeit von Reem. Ihr Vater habe früher als Schweißer gearbeitet, ohne Aufenthaltsgenehmigung dürfe er nicht beschäftigt werden. „Mir ging es hier an der Schule richtig schlecht.“ Jetzt sei zwar eine vorläufige Genehmigung da, aber noch immer sei die Familie im Wartestand. „Ich will auch meine Familie im Libanon wiedersehen“, sagt Reem.
Merkel sagt, dass künftig keiner mehr vier Jahre auf einen Bescheid zum Asylantrag warten solle. Der Libanon gelte nicht als Bürgerkriegsland. Es seien dort zwar keine sehr guten Lebensumstände, aber es gebe viele Menschen, denen es noch viel schlechter gehe. „Jetzt wollen wir ein beschleunigtes Verfahren machen, davon könntest du vielleicht profitieren.“ Reem lässt nicht locker. „Ich habe Ziele, wie alle anderen.“ Sie möchte studieren. „Es ist wirklich sehr unangenehm zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man selber halt nicht.“ Manche werden zurückgehen müssen, ist ein Teil der Kanzlerin-Antwort.
Viele Kommentare unter #Merkelstreichelt auf Twitter
Dann geht Merkel zu der weinenden Reem. „Du hast das doch prima gemacht“, sagt sie. Und an den Moderator gewandt: „Ich weiß, dass das eine belastende Situation ist - aber trotzdem möchte ich sie einmal streicheln.“ Moderator Felix Seibert-Daiker wechselt das Thema. Aber vorher gibt er der Kanzlerin noch eine Mahnung mit auf den Weg: „Wäre schön, wenn Sie das Gesicht des Kindes mitnehmen. Und immer wenn Sie über das beschleunigte Verfahren reden, rufen Sie sich das nette Gesicht des Kindes ins Gedächtnis.“ Kurz vor dem Geburtstag der Kanzlerin am 17. Juli ist nun auf Twitter der Hashtag #Merkelsteichelt entstanden. User zeigen sich hier teilweise empört über die Reaktion von Merkel. Viele betonen auch, wie schwierig die Situation für die Kanzlerin gewesen ist.
Unterdessen hat die Bundesregierung eine längere Version des Videos vom Bürgerdialog veröffentlicht. Sie können das Video unter diesem link sehen. Es zeigt, wie die Bundeskanzlerin dem Mädchen die Situation und den Unterschied zwischen Libyen und dem Libanon erklärt. Zunächst erzählt das Mädchen von ihrer Situation und Lage in Deutschland: "Solange ich nicht weiß, ob ich hier bleiben darf, weiß ich auch nicht, wie meine Zukunft sein wird. Ich würde so gerne in Deutschland studieren. Es ist ungerecht dabei zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man das selber nicht so machen kann", so die palästinensische Schülerin. Merkel antwortet: " ... das ist manchmal hart in der Politik – wenn du jetzt vor mir stehst, dann bist du ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber du weißt auch, in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende und wenn wir jetzt sagen ,Ihr könnt alle kommen und ihr könnt alle aus Afrika kommen und ihr könnt alle kommen', das, das können wir auch nicht schaffen. Da sind wir jetzt in diesem Zwiespalt und die einzige Antwort, die wir sagen ist: bloß nicht so lange, dass es so lange dauert, bis Sachen entschieden sind. Aber es werden auch manche wieder zurückgehen müssen." Dann sieht man das Mädchen weinen.
Bericht der Bundesregierung abgeändert
Reem und ihre Familie werden nicht in jedem Fall abgeschoben - der NDR-Ausschnitt zeigt nur die halbe Wahrheit, wie faz.de berichtet. Mehrere Minuten spricht Merkel mit dem Mädchen über Integration und Asylanträge - dies war in dem NDR-Auschnitt nicht zu sehen. Dem FAZ-Bericht zufolge wollte sich die stellvertretende Leiterin der Schule nicht zu dem Gespräch äußern. "Und über den Umgang der Kanzlerin mit dem weinenden Mädchen darf man sicher diskutieren. Aber vor einem Urteil sollte man sich den gesamten Ausschnitt angeschaut haben, nicht nur die verkürzte Version", schreibt die FAZ abschließend.
Im Blog der Sendung unter gut-leben-in-deutschland.de steht geschrieben: "Angela Merkel ging auf die Schülerin zu und tröstete sie mit den Worten: 'Du hast das ganz toll gemacht'. Daraufhin gab es großen Applaus für die junge Libanesin." Auf dem Video ist jedoch nach diesem Satz von Merkel kein Applaus zu hören. Die Sendung "Gut leben in Deutschland" in der vollständigen Länge können Sie unter diesem link der Bundesregierung sehen.
Auf der Kampagenenseite der Bundesregierung ist in einem Bericht über das Gespräch der Kanzlerin mit den Schülern eine Änderung vorgenommen worden: Nachdem es zuvor hieß, dass das Mädchen "vor lauter Aufregung weinen musste", heißt es nun: "Das Mädchen musste weinen." rok (mit dpa)