Nach Holocaust-Verharmlosung des Gründers: Ist „Extinction Rebellion“ in Deutschland am Ende?
Die Berlinerin Denise N. ist einen Sommer lang Teil von „Extinction Rebellion“ – dann verharmlost der Gründer den Holocaust. Die Geschichte einer Entfremdung.
Es war ein bisschen wie frisch verliebt sein, wie in dieser frühen Sturm-und-Drang-Phase einer Beziehung. Diese Tage im Oktober, als sie singend auf Berlins Straßen saßen. Die Wochen davor, in denen sie die riesige Protestaktion vorbereiten. Eine tragische Liebe in Zeiten der Erderhitzung, vielleicht.
Jetzt, im Spätherbst, klingt Denise N. erkältet am anderen Ende der Leitung. „Mich macht krank, was aus England zu uns rüberschwappt“, sagt die 54-Jährige. Sie engagiert sich bei „Extinction Rebellion“, den Klimaschützern, die zu Tausenden Straßen blockieren. In Berlin klappte das bunt und so friedlich, wie es kaum jemand für möglich gehalten hätte.
Kritik gab es immer. An der Rhetorik des Untergangs. Zu radikal, sektiererisch oder esoterisch sei die Organisation. Vergangene Woche dann sagte der Brite und Mitbegründer Roger Hallam wiederholt Unerträgliches: Genozide wie der Holocaust seien „fast ein normales Ereignis“, zitierte ihn die „Zeit“. Im „Spiegel“: „Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das das Gas in die Gaskammer fließt.“ Diese und andere Aussagen von Mitstreitern bringen der Bewegung den Ruf ein, Anti-Demokraten und nun auch Holocaust-Verharmloser zu sein.
Die Bewegung steht deshalb an einem Scheidepunkt – zumindest in Deutschland.
Denise N., randlose Brille, schulterlanges Haar, ist in ihrem richtigen Leben Lehrerin an einer Kreuzberger Schule. Ihren vollen Namen will sie lieber nicht gedruckt sehen, eine andere Klimaaktivistin habe ihr erzählt, welcher Hass sich über sie ergoss, nachdem sie in der Zeitung zitiert wurde. Denise N. führte lange, wie sie sagt, ein bürgerliches Leben. Zwei erwachsene Kinder, Haus in Grünau, ihr Mann ist Landschaftsgärtner.
Eine Rede von Greta Thunberg bei der Klima-Konferenz im polnischen Kattowitz Ende 2018 und die Botschaft des deutschen Astronauten Alexander Gerst an seine Enkel aus der Kuppel der Raumstation ISS habe sie politisiert, sagt sie. Früher wurde zu Hause kaum über Klima-Politik geredet, jetzt geht es nicht mehr anders. Auch ihr Mann ist dabei. Erst gingen sie zu Fridays for Future. N. malte Plakate für mehr Klimaschutz. Seit April ging sie zu Extinction Rebellion, weil: „Transparente bemalen nichts mehr bringt.“
"Plötzlich bin ich Klima-Aktivistin", sagt sie und lacht ungläubig
Ein grauer Montag, Anfang Oktober. Es weht ein kühler Wind, die Sonne scheint. Erster Tag der „Rebellion Week in Berlin“. Hunderte Klimaschützer sitzen Schulter an Schulter auf dem Potsdamer Platz im Zentrum der Hauptstadt. Zwischen ihnen, in dicken Jacken, Denise N. und ihr Mann. Bis in den späten Abend sitzen sie auf dem kalten Asphalt, die Polizisten räumen erst mal ringsum. Herr N. ist Basketballer, fast zwei Meter lang. Als man sie wegträgt, klatschen die Umstehenden. Dass sie durchgezogen hat, kann N. da noch nicht ganz fassen. „Ich hatte noch nie Kontakt mit der Polizei – abgesehen von einem Strafzettel“, sagt sie. Etwas durch den Wind ist sie noch. Und: „Plötzlich bin ich Klima-Aktivistin.“ Sie lacht ein wenig ungläubig.
Bis zu 20 Stunden pro Woche hat sie seit Februar für Extinction Rebellion geopfert. Mails geschrieben, Treffen organisiert, Vorträge gehalten. Es ist eine Liebe, die Zeit kostet – und Kraft. Manchmal steht sie morgens unter der Dusche und weint. Bei Extinction Rebellion heißt das, die Angst zuzulassen. Diese Angst, dass die Welt durch die Erhitzung des Klimas eine lebensfeindlichere wird.
Ein Dienstagabend, Anfang November. Der Kreuzberger Asphalt ist nass vom Nieselregen. Hier in einem der typischen Berliner Hinterhöfe, Mülltonnen, Graffiti, rostige Fahrräder, treffen sie sich heute das erste Mal: Menschen, die mitmachen wollen bei Extinction Rebellion. Denise N. trägt einen weißen Pullover, auf der Brust prangt eine orangefarbene Sanduhr, das Zeichen von „XR“, wie hier alle sagen. Darunter steht: „Rebell for Life“. N. freut sich auf diesen Abend. „On-Boarding“, so nennen sie das. Klingt irgendwie nach Start-up.
Knapp vierzig Menschen sitzen auf den Stühlen, vor allem junge Frauen, ein Mann mit seiner Tochter und einige ältere Kreuzberger. Mehr als eine Stunde redet N., zeigt eine selbstgestaltete Präsentation, 41 Folien. Was ist dieses „XR“?
Die Welt funktioniert eigentlich ganz anders
Die antikapitalistische Öko-Bewegung ist holokratisch organisiert. Eine Art Anti-Organisation. „Holokratie“, der Begriff stammt ausgerechnet von einem amerikanischen Software-Unternehmer. Extinction Rebellion besteht demnach aus mehr oder weniger gleichberechtigten Arbeitskreisen. Die Hierarchien sind flach, niemand soll hier Boss sein. N. selbst ist Teil der sogenannten „Talk-Gruppe“. Später wird sie sagen: „Unsere Bewegung macht den Menschen auch Angst, weil die Welt eigentlich ganz anders funktioniert.“
Insgesamt sind mittlerweile mehr als 6800 Menschen auf Mattermost angemeldet, dem zentralen Organisations- und Debattentool. Laut einem Sprecher habe „XR Deutschland“ aber mehr als 18.000 Aktive. Auf Twitter, Facebook und Instagram zusammen sind es gut 100.000 Follower, was nicht besonders viel ist. Der Parteivorstand der SPD hat allein auf Twitter dreimal so viele.
N. ist immer noch verwundert, wie das alles klappt. Sogar nachts gab es während der Protestwoche immer genug zu Essen. „Nur die Salami-Stullen wurden nie alle“, sagt sie. „Zu viele Vegetarier“.
Öffentlichkeit ist Teil des Programms
Seitdem ist die Bewegung weitergewachsen. Von Lindau bis Flensburg haben sich mittlerweile 124 Ortsgruppen gebildet. Nach dem bisherigen Höhepunkt, der Blockadewoche in Berlin, seien noch einmal fast 2000 Aktivisten hinzugekommen. Wie viele wirklich langfristig aktiv bleiben? Öffentlichkeitswirksame Aktionen gibt es momentan kaum. Beim global angekündigten „Hungerstreik für das Klima“ beteiligten sich in Deutschland gerade einmal zwei Menschen.
Immer in Bewegung: Die Struktur von Extinction Rebellion ist fließend, die Hierarchien sollen flach sein. Ein Einblick in die Organisationsstruktur als Grafik:
Anders als viele linke Bewegungen scheut „XR“ Journalisten nicht. Öffentlichkeit ist Teil des Programms. Weil sie „einen Kuschelkurs mit der Polizei“ führen, haben sich andere linke- und linksradikale Bewegungen schnell distanziert. Doch die Transparenz, die Waffe sein soll, macht sie auch angreifbar.
Es gibt Bier für zwei Euro im Kühlschrank
In einem internen Schreiben verteidigt Hallam wenige Tage nach seinen Interview seine Holocaust-Vergleiche, kündigt an, sie Anfang Dezember in London zu wiederholen. „The Harder they come at us, the harder they fall“, schreibt der 53-Jährige, der mit seinen langen, schlohweißen Haaren der gefundene Guru scheint. Es ist seine Strategie der totalen Konfrontation, die Pervertierung der Aufmerksamkeitsökonomie.
An dem Abend mit den Neumitgliedern klingt wenig nach Eskalation. Es gibt Bier für zwei Euro im Kühlschrank. Das war's.
N. spricht ruhig zum Publikum. „Wir sind eine gewaltfreie Organisation. Wären wir das nicht, wäre ich nicht hier.“
Es gibt dieses Buch. Eine Art eigenes Regelwerk, ein ideologisches Fundament. Auf Deutsch heißt das Buch „Wann wenn nicht wir“. Es enthält sehr konkrete Anweisungen zum zivilen Ungehorsam.
Mühlendammbrücke, mitten im Zentrum der deutschen Hauptstadt. Hunderte Aktivisten blockieren den Verkehr. Es ist der dritte Protest-Tag der Blockadewoche. Gleich wird hier geräumt. Polizisten in Kampfanzügen marschieren heran. Eine Demonstrantin erklärt, sie seien doch friedlich, sie bedankten sich bei Schmerzgriffen. Und es ist doch, was die Bewegung will: die potenzielle Überreaktion der Staatsmacht.
"Die Party ist vorbei." Nicken im Kreuzberger Hinterhof.
Roger Hallam beschreibt seinen Plan im Buch so: Wenn die Menschen auf den Straßen Partys feierten, stecke „die Obrigkeit“ in einem Dilemma – irgendwann müsse sie sich für Gewalt entscheiden. Hallam schreibt: „Die Arroganz der Obrigkeit verleitet sie zur Überreaktion, und die Bevölkerung, idealerweise ein bis drei Prozent, wird aufstehen und das Regime stürzen.“ Er will nicht weniger als einen gesellschaftlichen Umsturz.
„Wenn wir die Klimafrage nicht lösen, werden alle anderen Probleme nebensächlich“, sagt Denise N.. Den Neu-Mitgliedern erklärt sie: „Wir haben eine Party gefeiert, sie war laut, sie war dreckig, sie hat Spaß gemacht.“ Sie macht eine Pause. „Die Party ist vorbei.“ Nicken im Kreuzberger Hinterhof.
Am Ende des Abends, es ist 22 Uhr geworden, geht eine Liste rum. Wer unterschreibt, wird auf Mattermost eingeladen. Dort gibt es für jede und jeden eine passende Chat-Gruppe: Wer blockieren will, findet seine Mitstreiter, wer das IT-System weiterentwickeln will, Pressearbeit machen, Stullen schmieren, Kinder betreuen. Es gibt auch einen Chor, der liegt aber gerade brach, heißt es. Viele Aktivisten seien noch ermattet von der harten Protest-Woche im Oktober. „Wir haben ja auch noch ein Leben neben XR“, sagt die Chorleiterin. Allerdings schwebt ihr schon etwas Neues vor: eine „interreligiöse XR-Gruppe“. In England gebe es so etwas schon. „Toll, oder?“
Denise N. vermag, was Roger Hallam nicht schafft. Die Ziele dieser Bewegung in Worte zu packen, die nachdenklich machen, ohne irgendeiner kruden Untergangsesoterik nachzuhängen. Die Dringlichkeit ist aber die gleiche. Die Erderhitzung, die im Jahr 2100 zu erwarten ist, liegt verschiedenen Studien zufolge zwischen 2 und 4 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit – selbst wenn die Klimaziele erreicht werden.
"Wir werden die schlimmsten Folgen nicht mehr erleben"
Wenn das Eis an den Polen schmilzt, der Regenwald verschwindet, wird es noch heißer. So steht es in den Folien von Denise N., so sehen das mehr als 95 Prozent der Forscher.
N. sagt: „Wir werden die schlimmsten Folgen dieser Erwärmung nicht mehr erleben, ein Kind, das heute geboren wird, ist 2100 aber erst 81 Jahre alt.“ Ihr älterer Sohn, sagt sie, habe ihr deshalb gesagt, er wolle kein Kind in diese Welt setzen. Diese, das betont sie.
Ist sie in der richtigen Bewegung, das zu ändern?
Im Online-Diskussionsforum von Extinction Rebellion haben sich nach dem Bekanntwerden von Hallams Zitaten mehr als 200 Aktivisten zusammengetan. Die Gruppe heißt „Streik!“ Es geht darin auch darum, Extinction Rebellion aufzulösen, sich abzuspalten, auszusteigen. Ein Nutzer schreibt: „Es geht schon längst nicht mehr um den Holocaust und dessen Relativierung. Dass das nicht schon zu einem Rauswurf geführt hat, wirft ein bezeichnendes Bild auf XR. Wenn aber dann auch noch die Person noch derart wirre Gewaltfantasien in die Landschaft raushaut und es reagiert niemand darauf, dann ist die Gruppe am Ende.“
Ein anderer reagiert: „Braucht es tatsächlich nur die Aussagen eines einzigen (!) Mannes, um für euch den Wert all dessen in den Schatten zu stellen??“
"Es war eine schöne Zeit, für die ich dankbar bin"
Zwei Tage später, jemand schreibt: „Ich habe jetzt lange drüber nachgedacht und ich kann beim besten Willen nicht formulieren, was passieren müsste, damit ich mich als Teil von XR weiterhin wohlfühle. (…) Es war eine schöne Zeit, für die ich dankbar bin.“
Es ist einen Moment still am Telefon. Denise N. braucht kurz, um über diese Frage nachzudenken: Will sie weitermachen? Hallams Aussagen, sagt sie, seien für sie verstörend. „Wenn wir uns auf dieses Niveau hinabbegeben, bin ich nicht mehr dabei.“ Sie hat sich erst mal zurückgezogen, ihr Engagement heruntergeschraubt. Mattermost-Diät.
Freitag, 29. November. Allein in Berlin protestieren 60.000 Schüler und Erwachsene für mehr Klimaschutz, Fridays for Future organisiert. Nur ganz vereinzelt taucht die Sanduhr auf Jacken und Fahnen auf, das Symbol von Extinction Rebellion. Die englischen Väter der Rebellion, scheint es, fressen ihre deutschen Kinder.
N. steht trotzdem vor dem Brandenburger Tor. Um den Hals baumelt ein blauer Wimpel von Fridays for Future. Ein bisschen erkältet ist sie noch. Ihr Mann steht dicht neben ihr und die beiden Söhne. Nicht als Teil von Extinction Rebellion, aber als Klima-Aktivisten. Ohne geht’s nicht mehr.