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Eure Kirche, mein Körper. In Polen dürfen Frauen nicht selber über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
© imago/Pacific Press Agency

Ungewollte Schwangerschaft: Immer mehr Polinnen lassen in Berlin abtreiben

Sie hat drei Kinder, alle chronisch krank wie sie selbst. Ihr Mann sagt: Wieder schwanger? Dein Problem. Der Frauenarzt hilft nicht. Sie denkt an Selbstmord. Bis sie von „Tante Barbara“ hört.

Die Nummer einer Tante im Telefonbuch würde nicht auffallen. Und eine Tante um Hilfe zu bitten, fiele vielleicht auch weniger schwer. Also nannten sie sich Ciocia Basia, Tante Barbara. Das Handy der Tante klingelt ungefähr einmal am Tag.

Immer meldet sich eine Frauenstimme am anderen Ende. Meistens klingt sie ängstlich oder verzweifelt, bestenfalls verschwörerisch:

„Ich habe gehört, ihr wisst …“

„Ich habe echt keine Wahl.“

„Bitte helft mir.“

Und immer besteht die Antwort der Tante aus Worten, die jeder hören will, der nicht weiter weiß: „Alles wird gut.“

Jedes Jahr kommen Hunderte, wenn nicht Tausende von polnischen Frauen nach Deutschland, um abzutreiben. Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Bis 1993 kannte auch Polen ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch, seither wurde es unter dem Einfluss der katholischen Kirche immer stärker eingeschränkt. Heute darf lediglich, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist, abgetrieben werden, oder wenn für die Mutter nachweislich Lebensgefahr besteht.

Ein Büro hat Tante Barbara nicht

Eine weitere Ausnahme macht der Staat, wenn der Fötus genetische Schäden hat. Erst kürzlich jedoch bekräftigte Polens Präsident Andrzej Duda, dass er jederzeit bereit sei, ein Gesetz zu unterschreiben, welches auch solche Abbrüche verbietet. Auf alle anderen Fälle steht schon jetzt Strafe.

Die Tante am Telefon verspricht den Frauen die Unterstützung, die sie zu Hause nicht finden. Finanzielle, organisatorische. Seelische.

Ciocia Basia ist der Name eines informellen Berliner Netzwerks, das Schwangere aus Polen seit 2015 unterstützt, die in Deutschland abtreiben möchten. Sowohl Polinnen als auch Deutsche engagieren sich hier, hauptsächlich Frauen und ein Mann. Ein Büro hat Tante Barbara nicht, nur ein Handy, das verwahrt, wer gerade „im Dienst“ ist. Die Nummer ist online auf Facebook zu finden, und auf Flugblättern, die dies- und jenseits der Grenze verteilt werden.

Zosia hat fast immer ein paar dabei. Auch jetzt, beim Gespräch in einer Berliner Pizzeria. Zosia ist nicht ihr richtiger Name. Die Polin möchte anonym bleiben – wie fast alle in dieser Geschichte. Bei einer Demonstration für Frauenrechte in Berlin im April 2016 lernte Zosia Aktivistinnen von Tante Barbara kennen, Berlinerinnen solidarisierten sich damals mit polnischen Frauen, die ihrerseits auf die Straße gingen.

„Du wirst nicht alleine sein“

Der Protest richtete sich gegen den Vorstoß der konservativen Regierung, das ohnehin schon restriktive Abtreibungsrecht zu verschärfen. Wut trieb die Frauen auf die Straße – und wütend ist Zosia noch immer, auch wenn ihre zierliche Erscheinung, die kurzen blonden Haare und das mädchenhafte Lächeln das nicht sofort erkennen lassen. In Polen machte die regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) damals einen Rückzieher. In Berlin schloss sich Zosia Tante Barbara an. „Es war eigentlich das, was ich immer machen wollte. Nicht nur für Frauenrechte demonstrieren, sondern auch praktisch etwas tun.“

Oft hat sie seitdem Anrufe entgegengenommen; oft die Erleichterung gespürt, die eine Aussicht auf Hilfe auslöst: „Du wirst nicht alleine sein. Was möchtest du wissen?“

Schritt für Schritt erklärt Zosia dann Vorschriften, Voraussetzungen – und wie alles funktionieren kann. Sie macht das langsam und ruhig, damit die Frau auch alles versteht. Die wird nach Berlin kommen, jemand wird sie vom Bahnhof abholen, zum in Deutschland vorgeschriebenen Beratungsgespräch begleiten. Es wird eine Dolmetscherin geben. Und wenn kein Geld da ist, um die Reise und den Aufenthalt in Berlin zu zahlen, nimmt Tante Barbara auch diese Sorge.

Ein gewisses Budget haben die Aktivisten, gesammelt auf Soli-Partys und durch Spenden. „Geld soll nicht das Problem sein“, sagt Zosia, die durch gutes Zureden versucht, das letzte bisschen Skepsis zu zerstreuen: „Ja, die Abtreibung ist in Deutschland wirklich nicht strafbar.“

Sexualkunde gibt es so gut wie nicht

In Polen dagegen ist das Thema für Frauen seit der Wende zunehmend angstbesetzt. Den Schwangerschaftsabbruch infolge von Vergewaltigung muss der Staatsanwalt genehmigen. Sogenannte „soziale Gründe“ – Lebensverhältnisse und Gesundheit der Schwangeren – zählen nicht. Jede Abtreibung auf dieser Basis ist verfassungswidrig und folglich strafbar. Offiziell brechen jährlich weniger als 2000 Polinnen ihre Schwangerschaft ab.

In der Praxis erlaubt eine Gewissensklausel Ärzten in staatlichen Krankenhäusern, selbst den gesetzlich legitimierten Abbruch zu verweigern. So gibt es zum Beispiel in der großen Vorkarpaten-Woiwodschaft mit mehr als zwei Millionen Einwohnern kein einziges Krankenhaus, in dem man abtreiben kann.

Über eine ähnliche Gewissensklausel soll bald im Parlament abgestimmt werden. Sie betrifft Apotheker. Sofern ihnen ihr Glaube verbietet, die „Pille danach“ oder die Anti-Baby-Pille zu verkaufen, so weit die Idee, sollen sie das auch nicht mehr tun müssen. Besonders in der Provinz, wo es nur vereinzelt Apotheken gibt, wäre das ein riesiges Problem. Der Einfluss der katholischen Kirche, die sämtliche Verhütungsformen abseits natürlicher Vorkehrungen für Sünde hält, ist groß. Sexualkunde gibt es in polnischen Schulen so gut wie nicht.

Die Kleiderbügel sind ein grausiges Symbol

Gute Voraussetzungen für ungewollte Schwangerschaften, sagt Zosia. Sie weiß: Frauen aus der polnischen Mittelschicht schaffen es allein. Sie kennen die Sprache, die Welt und haben genug Geld, um sich eine Abtreibung im Ausland zu leisten. Es sind die Ärmeren, die dringend Hilfe brauchen, bevor sie den Abbruch mit „Hausmitteln“ herbeizuführen versuchen und dabei auch sich selbst gefährden. Immer wieder werden Frauen deswegen schwer verletzt in Krankenhäuser eingeliefert.

Darum bringen Frauen Kleiderbügel mit zu Demonstrationen. So auch am vergangenen Sonntag, als Hunderte vor dem Sitz der Warschauer Erzdiözese und andernorts im Land gegen eine weitere Verschärfung des Abtreibungsgesetzes protestierten – eine Klausel, nach der auch der Abbruch bei Fehlbildungen des Fötus verboten sein soll. Die Kleiderbügel sind ein grausiges Symbol. Mit dem auseinandergebogenen Draht wurden früher illegal Schwangerschaften beendet – und werden es aus Verzweiflung vereinzelt noch immer. Viele Frauen sind infolgedessen schon verblutet.

Bis zu vier Frauen hilft Tante Barbara jede Woche in Berlin. Intern ist jede ein Fall, ohne Namen und Vornamen. So soll vermieden werden, dass die Aktivistinnen eine persönliche Verbindung zu ihren Klientinnen aufbauen. Trotzdem berühren sie die Geschichten der Frauen natürlich.

Ein Tag vor Weihnachten war alles vorbei

Zosia erinnert sich an eine Mutter von drei Kindern, die ungewollt wieder schwanger war. Sowohl sie als auch ihre Kinder waren chronisch krank. Ihr Partner war keine Hilfe, in seinen Augen war die Schwangerschaft allein ihr Problem. Der Arzt hingegen sah keines. „Im schlimmsten Fall wird sich Ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtern“, hatte er gesagt.

Die Frau sei zunächst in Panik geraten und bald depressiv geworden. Die einzige Lösung, an die sie habe denken können, war Selbstmord. Als Zosia mit ihr telefonierte, wiederholte sie das Wort ständig. „Ich hatte tatsächlich Angst, dass sie es tun würde“, sagt Zosia und fand schnell einen Termin bei einem der Ärzte und Familienplanungszentren, mit denen sie zusammenarbeiten. Tante Barbara bezahlte der Frau die Reise nach Berlin und den Arzt, der sie behandelte. Ein Tag vor Weihnachten war alles vorbei.

Brutales Symbol. Mit Draht-Kleiderbügeln, von Frauen zum Selbstabbruch genutzt, demonstrieren Abtreibungsbefürworter in Warschau.
Brutales Symbol. Mit Draht-Kleiderbügeln, von Frauen zum Selbstabbruch genutzt, demonstrieren Abtreibungsbefürworter in Warschau.
© J. Skarzynski/ AFP

Viele der Frauen, die nach Deutschland kommen, sind ungeplant schwanger geworden. Andere misstrauen ihrem Arzt in Polen. Sagt er wirklich die Wahrheit? Ist das Kind gesund? Sie möchten von jemandem untersucht werden, der ehrlich zu ihnen ist, wollen selber entscheiden können.

Und dann gibt es Frauen, die bereits wissen, dass ihr Kind schwerstbehindert sein wird. Obwohl sie nach dem polnischen Gesetz das Recht auf eine Abtreibung haben, fürchten sie, dass die Ärzte die Entscheidung so lange hinauszögern könnten, bis ein Abbruch nicht mehr zulässig ist. Das passiert immer wieder.

Sie wollen nicht reden. Oder ununterbrochen

Aus Warschau wurde der Fall einer Frau bekannt, die ein Kind mit unterentwickeltem Gehirn, ohne Augen und Nase gebar, das kurz darauf verstarb. Als sich bei einer Untersuchung herausgestellt hatte, dass ihr Kind nicht lebensfähig sein würde, hatten sich die Eltern für einen Abbruch entschieden. Auch der behandelnde Arzt war damit einverstanden. Nicht jedoch sein Vorgesetzter.

Er verweigerte die Abtreibung in seiner Klinik, und das anschließende Verfahren dauerte so lange, dass es für den Eingriff schließlich zu spät war. Der Chef des Krankenhauses wurde entlassen. Die Konservativen aber feierten ihn als Lebensretter.

Dass die mangelnde Freiheit, sich zu entscheiden, die Frauen vor allem psychisch belastet, erlebt Zosia immer wieder. Polinnen, die nach Berlin gekommen sind, wollen oft nicht reden. Oder sie reden ununterbrochen, als ob sie sich rechtfertigen müssten. Dafür, dass der Partner sich nicht mitverantwortlich fühlt – oder sie gar hat sitzen lassen. Dafür, dass sie nur unzureichend verhütet haben, es nicht schaffen, noch ein Kind großzuziehen. Oder dass sie die Schule abschließen möchten, bevor sie ein Kind bekommen. Tante Barbara fragt nicht viel.

„Flüsterpropaganda“ – es spricht sich herum

Die polnische Föderation für Frauen und Familienplanung, eine bekannte Nichtregierungsorganisation, schätzt, dass tatsächlich etwa 150000 Polinnen im Jahr abtreiben. Entweder illegal in Polen oder im Ausland. Dass immer mehr in Berlin Hilfe suchen, ist eine Entwicklung, die lange vor der Gründung von Ciocia Basia begonnen hat und auch mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union zu tun hat. Besonders deutlich fällt es Ilona auf, seitdem im Mai 2011 auch der deutsche Arbeitsmarkt für Polen geöffnet wurde.

Ilona arbeitet seit vielen Jahren in einer Beratungsstelle von Pro Familia in Berlin. Auch sie möchte ihren vollständigen Namen nicht nennen. Vor Jahren wurde die gebürtige Polin gefragt, ob sie nicht die polnischen Klientinnen übernehmen könne. Da die immer zahlreicher kamen, wurde schließlich auch die Webseite der Beratungsstelle ins Polnische übersetzt. „Viele haben hier Familie, Freunde, Bekannte“, sagt Ilona. Die erwähnen dann mal zufällig, dass das, was in Polen nicht möglich ist, in Deutschland unkompliziert geht. So etwas spreche sich schnell herum, sagt Ilona. Sie nennt es „Flüsterpropaganda“.

Die Kosten, 340 Euro – oder 470

So wächst auch die Bekanntheit von Tante Barbara in Polen stetig. Auf ihrer Facebookseite beteuert die Tante ihr Bemühen, den Aufenthalt der Frauen in Berlin möglichst kurz zu halten. Falls es nicht anders gehe, könne bei Privatpersonen eine Übernachtung organisiert werden. 340 Euro kostet eine medikamentöse Abtreibung, 470 Euro eine chirurgische. Die Tante zieht keinen Profit aus der Vermittlung. Sie alle treibe der Wille, zu helfen, betont Zosia. Mehr nicht. „Wenn Abbruch, dann lieber unter guten Bedingungen, damit das Leben der Frau nicht gefährdet ist.“

Um auf die Notlage der Frauen in Polen aufmerksam zu machen, greifen Aktivistinnen mittlerweile auch zu sehr drastischen Methoden. In Zielona Gora etwa, zweieinhalb Autostunden von Berlin entfernt, verschickt Anita Kucharska-Dziedzic jeden Montag eine Mail an konservative Abgeordnete in der Region. Angehängt sind Fotos von missgebildeten Neugeborenen. Darunter beispielsweise Kinder, die wie das Baby der Frau in Warschau mit Trisomie 13 zur Welt gekommen sind, dem Pätau-Syndrom: ohne Oberkiefer, mit nur einem Auge mittig auf der Stirn, zurückgebildeter Nase und Ohren oder drastischen Herzfehlern.

Die Lebenserwartung der Kinder ist schlecht, je nach Schwere des Syndroms werden nur wenige älter als ein paar Wochen.

Die Arbeit ist nicht ungefährlich

„Sie sollen sehen, was für Kinder sie ,retten‘ wollen“, sagt Anita Kucharska-Dziedzic. Sie ist Vorsitzende des Frauenvereins „BABA“ in Zielona Gora, der sich um Opfer von Gewalt kümmert – und für ihre Rechte eintritt. Auch Kucharska-Dziedzic, eine energische, selbstsichere Frau, die nicht übersensibel wirkt, spürt an jedem Montag einen Kloß im Hals, wenn sie wieder einmal Fotos an eine Mail anhängt.

Selbst wenn statistisch gesehen unter 10000 gesunden Neugeborenen nur eines mit Trisomie 13 ist, erscheint dieser drastische Protest ihr nicht übertrieben, sondern notwendig. „Wir wollen, dass die Leute es endlich begreifen“, sagt sie.

Die Berliner Aktivistinnen wollen die Frauen schützen vor den Konsequenzen, die ihnen jene aufbürden, die nicht begriffen haben. Sie wissen, dass ihre Arbeit nicht ungefährlich ist. Nachdem die PiS-Regierung ihre Reform des Abtreibungsrechts im Herbst 2016 zurückgezogen hat, droht den betroffenen Frauen selbst zwar keine Gefängnisstrafe mehr. Den Ärzten und allen anderen, die sie bei ihrem Abbruch unterstützt haben, aber schon. Sie müssen eine strafrechtliche Verfolgung fürchten – selbst wenn sie im Ausland leben.

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