Emilia Smechowskis „Wir Strebermigranten“: Die Sichtbaren und die Unsichtbaren
Anpassung um jeden Preis? Die Journalistin und Autorin Emilia Smechowski erinnert sich, wie sie in Deutschland Polen wiederentdeckte.
Man nennt es neuerdings gern ein Memoir, das erzählende Sachbuch, in dem ein Ich aus seinem Leben berichtet. Literaturkritiker werfen sich den Begriff gerne zu, wenn sie in Abgrenzungsprobleme geraten. Ist das ein Sachbuch? Ist das Belletristik? Und spielt das überhaupt eine Rolle? Wenn der Autor dabei auch noch eine These entwickelt, die aufs Allgemeine zielt, entsteht eine praktische Zwitterform: erzählend, aber nicht fiktiv, durch die echte oder suggerierte Authentizität mit Wahrhaftigkeitsbonus geadelt, sachorientiert, aber doch nicht so hart an der Sache, dass jahrelange Recherchen oder gar wissenschaftliches Arbeiten nötig wären. Das ideale Genre für Journalisten, die sich vom Alltagsgeschäft freischreiben wollen.
Florian Illies’ „Generation Golf“ (2000) und Jana Hensels „Zonenkinder“ (2002) waren die ersten deutschen Erfolgsbücher des Genres. Beide erhoben den Anspruch, für eine ganze Generation zu sprechen, einmal in der westdeutschen, einmal in der ostdeutschen Variante. Und beide bedienten sich einer Rhetorik des „Wir“, um ihre eigenen Erfahrungen zu verallgemeinern. Die frühere „taz“-Redakteurin Emilia Smechowski legt nun ein Buch vor, das die „Wir“-Rhetorik schon im Titel trägt. „Wir Strebermigranten“ heißt das Debüt der 1983 in Polen geborenen Autorin, die 1988 mit ihrer Familie nach West-Berlin floh.
Die Familie lebte mit zwei Töchtern in einer Kleinstadt nahe Danzig und tarnte ihre Reise vor den polnischen Behörden als Italienurlaub. Tomek, der Kinderfreund, den die damals Fünfjährige ohne Abschied zurückließ, wird zum Sinnbild eines Aufbruchs, bei dem die Eltern ihre Kinder überrumpeln mussten. Nur die Großeltern väterlicherseits wussten Bescheid. Die Oma, Dekanin der medizinischen Fakultät in Danzig, war Zeit ihres Lebens für die Erzählerin die wichtigste Person, eine warme Verbindung zu einem Land, einer Sprache und einer Lebensweise, die ihre Eltern hinter sich gelassen hatten. Die Eltern, beide Ärzte, haben sich schneller integriert, als es der Tochter lieb war. Sie kamen als Aussiedler nach Westberlin, nach weniger als einem Jahr hatten sie deutsche Pässe, zogen in eine Sozialwohnung mit fünf Zimmern in Neukölln und konnten sich als Doppelverdiener bald ein eigenes Haus in Reinickendorf leisten.
Sind alle Polen „Strebermigranten“?
Der krachende Auszug der Sechzehnjährigen aus dem hart erarbeiteten Familienidyll bildet den Auftakt des Buches. Sie will Sängerin werden, auch wenn der Vater sagt, „Das schaffst du nie“. Sie jobbt und schlägt sich alleine durch. Und sie studiert tatsächlich Operngesang, fünf Jahre lang, bis sie zu einem Studium wechselt, das ihr weniger Disziplin abverlangt. Als Romanistikstudentin führt sie zum ersten Mal ein Leben ohne den permanenten Leistungsdruck, der sie bis dahin begleitet hat.
Emilia Smechowskis Urteil über ihre Eltern ist streng: Sie haben sich bis zur Selbstverleugnung angepasst, und sie haben ihren drei Töchtern, die jüngste Schwester kam 1994 zur Welt, alles Polnische ausgetrieben. Der Titel „Wir Strebermigranten“ meint zunächst nur die eigene Familie: „Wirtschaftsflüchtlinge“, die für ihren Aufstieg alles taten und sich bei allem daran orientierten, wie es „die Deutschen“ machten. Doch je mehr sie sich umhört, desto typischer kommt ihr die eigene Lebensgeschichte vor. Sind also alle Polen „Strebermigranten“?
Zwei Millionen polnische Einwanderer in Deutschland
So weit geht sie nicht. Die steile These, die im schmissigen Titel des Buches steckt und als Formulierung auch in ihren Artikeln auftaucht, tut dennoch ihre Wirkung. Gerade in der paradoxen Verknüpfung von Selbstbezichtigung und Angeberei, die nicht nur eine gezwungene Verallgemeinerung, sondern auch eine Abgrenzung bedeutet: gegenüber weniger strebsamen Migranten. Sie überdeckt die Vorzüge des Buches, die in der Verknüpfung eigener, durchaus befangener Erfahrung und journalistischer Recherche stecken. An eine Mischung aus Angst und Scham erinnert sich die Autorin als Atmosphäre ihres Elternhauses. Und sie forscht nach, woher das kam. Im Gespräch mit den Eltern, die mittlerweile geschieden sind, in der Recherche über die Geschichte Polens und das deutsch-polnische Verhältnis entsteht so etwas wie ein Psychogramm der Empfindlichkeiten. Es sind Empfindlichkeiten, die die Generation Erasmus oft schon gar nicht mehr wahrnimmt, weil sie viel selbstverständlicher mit den verschiedensten Kombinationen von Herkunft und Zuwanderung umgeht. Das betrifft nicht nur Studenten. Überall kommt es zu vielfältigen Mischungen, die der „Integrationsturbo“ Fußball bei nahezu jedem Spiel sichtbar macht. Doch gerade die Unsichtbarkeit der polnischen Integration ist so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt der diffusen Gefühle, die Smechowski beschreibt.
Rund zwei Millionen polnische Einwanderer leben in Deutschland, sie bilden die größte Migrantengruppe nach den Türken. Sie können einerseits als Musterbeispiel gelungener Integration gelten, andererseits erkennen sie sich oft genug nicht einmal untereinander, erzählt die Autorin. Unter der Lupe eines ausgefeilten, an Identitätskritik und den Differenzierungskünsten postkolonialer Studien geschulten Diskurses könnte man diese Klage leicht aushebeln. Wozu Identitäten behaupten, die gar nicht notwendig sind? Wozu eine Sichtbarkeit einfordern, unter der andere Migranten leiden?
Verbot, auf der Straße Polnisch zu sprechen
Und doch kann man verstehen, was die Autorin meint. Von der Eindeutschung ihres Namens über das Verbot der Eltern, auf der Straße Polnisch zu sprechen, bis hin zur Scham, sich als Aussiedler auf deutsche Vorfahren berufen zu haben, um beim arrivierteren und ignoranteren Teil des Tätervolks Unterschlupf zu finden, entdeckt sie zu viele Demutsgesten, um sich in ihrer Selbstachtung nicht verletzt zu fühlen. Sie weiß, dass sie Gefahr läuft, „das Migrationsding“ für alles verantwortlich zu machen, was in ihrem Leben schiefläuft. Und in der Tat ist die Klage über Leistungsdruck so wenig migrationsspezifisch wie der Wunsch, die Anpassung nicht zu übertreiben.
Deutschland, das mit seinem Vorläufer Preußen Polen mal zerschnitt wie in den Teilungen des 18. Jahrhunderts, mal überfiel wie im Zweiten Weltkrieg und als Wohlstandsmagnet seit Jahren dort enorme Migrationsverluste erzeugt, wie der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev in seinem Essay „Europadämmerung“ jüngst zeigte, hat allen Grund, für polnische Empfindlichkeiten sensibel zu sein.
In seiner 2014 bei C.H. Beck erschienenen Studie „Wir Unsichtbaren“ hat der Historiker Peter Oliver Loew „die Geschichte der Polen in Deutschland“ umfassend dargestellt. Sie wird von Emilia Smechowski ausführlich referiert und bildet gewissermaßen das Rückgrat ihres Buches. Es ist ohne literarische Ambitionen erzählt, aber es kann eine Menge veranschaulichen: die 1980er Jahre in Polen mit den Kämpfen der Solidarnosc und den enttäuschten Hoffnungen auf Freiheit; das Gefühl des Betrugs, das die Eltern empfanden, als bald nach ihrer Flucht die Mauer fiel und die DDR-Bürger, die sich in den Übergangsheimen als etwas Besseres fühlten, geschenkt bekamen, was sie sich hart erkämpft zu haben glaubten; der übersteigerte Konsum als Kompensation der ganzen Mühen. „Wir Strebermigranten“ fördert keine neuen Erkenntnisse ans Tageslicht. Aber es ist ein gut zu lesendes Zwitterding.
Emilia Smechowski: Wir Strebermigranten. Hanser Berlin, Berlin 2017. 223 S., 22 €.
Meike Feßmann