Jesiden im Nordirak: Hoffnung in Trümmern
Tausende Tote, Verschleppte, Versklavte: Der IS hat Idriss Ayls Volk abgeschlachtet. Er ist Jeside, doch er überlebte. Nun kehrt der Student heim. Eine Suche nach Zukunft in Sindschar.
Ein paar Mal muss Idriss Ayl Anlauf nehmen, bis er die Mauer zum Grundstück seines Elternhauses überwindet. Kurz hält er inne, springt dann auf der anderen Seite hinunter. Der Schlüssel liegt im Stall, wo früher die Ziegen waren, wo sie ihn immer versteckt haben. Von innen öffnet Ayl das Tor zum Hof. Das Quietschen zerreißt die Stille, und das orangenfarbene Licht der Autoscheinwerfer fällt auf den Garten, auf das einstöckige weiße Haus. Das Türschloss funktioniert noch, die Fensterscheibe kaputt. Drinnen sind die Schränke aufgebrochen, auf braunen Kacheln liegen unter Scherben die Fotos seiner Kindheit.
Er hebt ein Bild auf. Es zeigt ihn wie er lachend auf dem Schoß seiner Mutter sitzt. Ayl lässt es fallen und ruft seine Freundin an. Messenger Video-Anruf.
Sie lebt seit ein paar Monaten mit ihrer Familie in Deutschland. „Ich bin zu Hause“, ruft er, läuft über den Hof, die Kamera im ausgestreckten Arm auf sich gerichtet. Die Freundin kreischt vor Freude. Idris Ayl lacht laut, wirft sich auf den harten Betonboden. Dann verstummen beide, schauen sich lange über den kleinen Bildschirm an. Sie würde sich umbringen, sagt sie dann, müsste sie jemals zurück nach Khana Sor. Dann legt sie auf.
Khana Sor ist ein kleiner Ort am Rande des Sindschar-Gebirges im Irak. Keine 300 der ehemals 30.000 Einwohner sind zurückgekehrt zu diesem Schauplatz des jüngsten und immer noch andauernden Völkermordes an der religiösen Minderheit der Jesiden. Auch Idriss Ayl, gerade 24 Jahre alt, ist ein Opfer des Schreckens, den die Verbrecher des selbst ernannten „Islamischen Staates“ in der Region verbreiten. Weil sie Jagd auf die Jesiden machten, schickten die USA wieder Truppen in den Irak und Deutschland beschloss, den Kampf gegen den IS mit Waffen zu unterstützen. Als Anfang August 2014 die Terroristen kamen, hatte Ayls Familie nur Stunden zuvor das Haus verlassen, sagt er. In den folgenden Tagen töteten die IS-Anhänger mehr als 5000 Menschen, entführten 7000 Frauen und Mädchen, von denen etwa 3000 noch immer in IS-Gefangenschaft sind. Sie ermordeten auch Idriss Ayls Onkel, nahmen die Tante und fünf Cousinen mit. Ayl lebt seitdem mit Eltern und Geschwistern als Vertriebener, als Flüchtling ganz im Norden des Landes, wo der Irak an Syrien und die Türkei grenzt, Bekannte dort haben sie aufgenommen.
Er ist zum ersten Mal zurückgekehrt
Fast zwei Jahre nach dem Überfall ist Ayl zum ersten Mal in seine Heimat zurückgekehrt. Straßen und Häuser sind verwüstet. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser, Lebensmittelgeschäfte nur im Nachbarort, zehn Kilometer entfernt.
Idriss Ayl glaubt an seine Heimat, an eine Zukunft im Nordirak. Er wollte nie weg. An der Universität von Dohuk ist er Studentensprecher, er hat fast 5000 Facebook-Freunde, die meisten Jesiden wie er, aber auch viele Muslime. In seinen Posts ruft er dazu auf, nicht nach Europa zu gehen, sondern den Mittleren Osten aufzubauen. Er erklärt, dass nicht alle Muslime böse sind, nur weil viele die Jesiden Teufelsanbeter nennen, da sie den Namen Satans nicht aussprechen, keine Hölle kennen, nur die Wiedergeburt. Dass nicht alle Muslime gleichzeitig IS-Terroristen sind, die sein Volk abschlachten.
Idriss Ayl begreift sich als Jeside, obwohl er nicht an die Religion seiner Eltern glaubt, sondern sich als Agnostiker bezeichnet. Die Religion bestimmt im Mittleren Osten das Leben. Das gilt auch für ihn. Er will die strengen Heiratsvorschriften der Gemeinschaft einhalten, nur eine Jesidin aus seiner Kaste zur Frau nehmen. Er studiert in Dohuk Sozialwissenschaften.
Doch in letzter Zeit hat er keine einzige Prüfung mehr bestanden, keine Hausarbeit mehr geschrieben. Statt zu studieren, sammelt er mit anderen jungen Jesiden Spenden, um Mädchen und Frauen freizukaufen, die noch in IS-Gefangenschaft sind. Und er trinkt viel.
Über die Zukunft sprechen sie nicht
Durch die zerbrochenen Scheiben seines Elternhauses schauen nun zwei seiner jesidischen Freunde ins Wohnzimmer. In den Händen halten sie Wasserpfeifen und eine Flasche Whiskey. Ihre Familien sind vor ein paar Wochen zurückgekehrt, sie haben einen Lebensmittelladen im Nachbarort aufgemacht. Bis zum Morgengrauen sitzen sie auf der Terrasse, rauchen, trinken, lachen, reden, schweigen. Über die Zukunft sprechen sie nicht.
Am nächsten Tag will Idriss Ayl über das Gebirge in die Hauptstadt von Sindschar. Die Fenster des Wagens sind weit geöffnet, kurdische Volksmusik dröhnt aus den Boxen. Am Wegrand passieren sie immer neue Flaggen. Weiße, rote, gelbe, rot-gelb-grüne, grün-weiße, mit Sternen, mit Sonnen, mit Kreisen. Immer wenn Ayl eine neue entdeckt, zeigt er mit dem ausgestreckten Arm darauf.
Die Flaggen gehören jesidischen Einheiten, der irakischen Polizei, Peschmergaverbänden der irakisch-kurdischen Opposition, den Peschmerga der regierenden kurdischen Partei, der türkischen PKK und ihrer syrischen Verbündeten, der YPG. Alle kämpfen gegen den IS, für die Befreiung der Jesiden. Und alle beanspruchen Sindschar für sich.
Er bricht zusammen. Als würde die Wirklichkeit über ihn hereinbrechen
Oben auf der Hochebene, wo 6000 Jesiden noch immer in Zelten leben, zwischen Getreidefeldern und Ackerflächen, wehen nur die gelben und grünen Flaggen der YPG und die roten der PKK. Die PKK, die in Deutschland als Terrororganisation gilt, gilt den Jesiden als Beschützerin. Ihre Milizen eilten zur Hilfe, als die Peschmerga flohen, verteidigten die Hochebene gegen die Terroristen, kämpften - mit Luftunterstützung der USA - einen Korridor frei, damit die eingekesselten Flüchtlinge den Berg verlassen konnten.
Als die Hochebene abrupt abfällt und die Straße in engen Serpentinen zur Stadt Sindschar hinabführt, sagt Idriss Ayl, „dieser Berg ist der einzige, echte Freund der Jesiden“. Der Straßenrand ist jetzt voller Autowracks, liegen geblieben in den ersten Augusttagen 2014, als die Jesiden vor den IS-Kämpfern in die Berge flohen. Die Wagen, zu schwer beladen, mit zu wenig Sprit, schafften den steilen Anstieg nicht. Oder sie wurden von den Pick-ups der Terroristen eingeholt.
Am Ortseingang von Sindschar haben die Peschmerga der kurdischen Regierungspartei einen Checkpoint errichtet, vor dem Trümmerhaufen, der mal eine Stadt war. Die Wohngebiete sind zerstört, die Kirchen, die Moscheen. Ein Labyrinth aus Schutthaufen und Betonresten. Alle paar hundert Meter grüßen Peschmerga in Tarnuniformen. Zivilisten sind nirgends zu sehen.
Dass in Sindschar alles zerstört ist, wusste Ayl, bevor er es sah. Er hatte Fotos gesehen, die Geschichten von Rückkehrern gehört. Er wusste auch, dass die allermeisten der 500 000 Jesiden aus Sindschar noch immer in der Diaspora leben, der Großteil wie er in der Region Dohuk, einige in Deutschland. Aber wie er sich in Sindschar fühlen würde, wusste er nicht.
Am Basar möchte Idriss Ayl aussteigen - noch so ein Ort seiner Kindheit. Hier hat ihm seine Mutter ein klebriges süßes Eis gekauft, und hier in einer der schmalen Teestuben hat er das erste Mal Wasserpfeife geraucht.
Ayl legt den Kopf in den Nacken, dreht sich im Kreis
Ayl legt den Kopf in den Nacken, dreht sich im Kreis, immer schneller, den Blick in den grellblauen Himmel gerichtet. Weg von den eingestürzten Mauern, dem haushohen Schutthaufen, der die Beine einer nackten Schaufensterpuppe begräbt. Weg vom Staub, der über allem liegt, über den menschenleeren Straßen. Weg von dieser Stadt in Trümmern.
Dann, als würde die Wirklichkeit über ihm hereinbrechen, fällt er in sich zusammen. Kauert lange Sekunden im Staub, das Gesicht in den Händen verborgen. Als er aufblickt, sind seine Wangen nass.
Nur weg hier.
Sie fahren weiter, immer die Front entlang, fünf Kilometer südlich von Sindschar herrscht noch der IS, auch wenn kurdische Truppen täglich weiter vorrücken. Vor Ayl erstreckt sich das Gebirge. 1483 Meter hoch, 60 Kilometer lang von Ost nach West, zehn Kilometer breit von Süd nach Nord. Er lauscht schweigend dem Rauschen des Fahrtwinds.
Nach einer Weile signalisiert Ayl dem Freund, das Taxi anzuhalten. Eine Kreuzung im Osten des Sindschar-Massivs. Die Sonne brennt heiß vom Himmel, ein paar Spatzen zwitschern. Sonst ist es still. Auf dem braunen, steinigen Boden wuchern Disteln.
Hier ist der IS vorbeigekommen, sagt Ayl
Hier ist der IS vorbeigekommen, sagt Ayl, als er aussteigt. Er streicht sich mit den Händen übers sonnenverbrannte Gesicht und durch die Haare. Da drüben liegen Hunderte, sagt Ayl, deutet auf eine Erhebung am Straßenrand, in der felsigen Ebene fällt sie kaum auf. Die Peschmerga haben die Leichen gefunden, als sie die Gegend zurückeroberten, als sie die Schützengräben aushoben.
Idriss Ayl reißt die Autotür auf, läuft hinauf auf die Erhebung, stolpert, stürzt. Breitbeinig bleibt er sitzen, minutenlang, mit starrem Gesicht. Er war zurückgekehrt nach Sindschar, weil er seine Kinder hier großziehen möchte, so hatte er es auf der Fahrt erzählt. Und dass er kein Flüchtling mehr sein wolle, das Leben immer unterwegs, immer auf Abruf, das mache ihn verrückt. Er war gekommen, um herauszufinden, ob es hier für ihn eine Zukunft gibt. Er hatte auch gesagt, dass er Angst gehabt habe herzukommen. Angst, dass seine Heimat nicht mehr seine Heimat ist. Dass der Horror sich einnistet in seinem Kopf und nicht mehr verschwindet.
Und nun hockt er hier vor dem einzigen echten Freund der Jesiden neben dem Massengrab.
Ein weißer Pick-up hält an der Kreuzung. Ein hagerer Mann steigt aus, den Ayl nicht kennt. Grauhaarig, mit dichtem weißen Bart. Um den Kopf hat er ein rot-weiß-kariertes Tuch gewickelt. Er geht zu Idriss Ayl, der zusammengesunken in den Disteln sitzen bleibt. Der Grauhaarige setzt sich stumm neben ihn, zündet zwei Zigaretten an. Schweigend rauchen die beiden und blicken auf das Gebirge, das steingrau und uralt vor ihnen in der Wüste liegt.
„Das Leben geht weiter, mein Junge“, sagt der Mann.