Düzen Tekkal und Deidre Berger im Gespräch: Der ignorierte Völkermord des IS an den Jesiden
Die jesidische Filmemacherin Düzen Tekkal und Deidre Berger vom American Jewish Committee über Diskriminierung, Ignoranz, die Gefahren des Islamismus und die Herausforderungen einer wehrhaften Demokratie.
Düzen Tekkal reiste 2014 erstmals nach Nordirak, um mehr über ihre jesidische Herkunft zu erfahren. Doch dann fielen die IS-Kämpfer über das kleine Volk her. Seitdem versucht die 37-jährige Filmemacherin und Journalistin, auf das Schicksal der Jesiden aufmerksam zu machen. Kürzlich erschien ihr Buch „Deutschland ist bedroht – Warum wir unsere Werte verteidigen müssen“. Auch Deidre Berger ist der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte ein zentrales Anliegen. Die 62-Jährige leitet seit 16 Jahren das Berliner Büro des American Jewish Committee (AJC), das Vorurteile durch Aufklärung abbauen möchte. Das AJC legt unter anderem Schulprogramme gegen Antisemitismus auf.
Frau Berger, Frau Tekkal, wie haben Sie sich – eine Jüdin und eine Jesidin – kennengelernt?
Deidre Berger: Bei einer Veranstaltung der CDU über Antisemitismus. Ich merkte sofort, wir haben viel gemeinsam. Zum Beispiel, dass unsere Völker immer wieder marginalisiert wurden und als Sündenböcke herhalten mussten für all das, was in der Welt schiefläuft.
Düzen Tekkal: Die größte Gemeinsamkeit besteht wohl in der Erfahrung, entmenschlicht worden zu sein. Das ist die Vorstufe zum Völkermord. Die Juden haben den Holocaust erlitten – ein singuläres Verbrechen. Aber auch Jesiden sind betroffen, mitten im 21. Jahrhundert. Wir reden von einem Genozid. Wir reden davon, dass Frauen verkauft und versklavt werden. Dass sie vergewaltigt werden. Dass Kinder abgeschlachtet werden.
Von der Terrormiliz „Islamischer Staat“.
Tekkal: Über Jahrhunderte tradierte Feindbilder haben dazu entscheidend beigetragen: Die Jesiden machen unseren Islam schlecht. Die Frauen sind Teufelsbräute, tragen keine Kopftücher und Ähnliches. Derartige Vorurteile sind in der muslimischen Gesellschaft weitverbreitet, selbst bei Gemäßigten. Und die Dschihadisten haben diese Ressentiments auf perfide Weise genutzt.
Aus Nachbarn wurden Mörder?
Tekkal: Unter den Tätern waren Menschen, mit denen wir lange Zeit Tür an Tür gelebt haben. Muslimische Nachbarn haben Jesiden dem IS ausgeliefert. Berger: Nachbarn, die zu Mördern werden – das kennen wir Juden leider aus der deutschen Geschichte. Das Schicksal der Jesiden hat deshalb ein sehr großes Echo in der jüdischen Gemeinschaft gefunden.
Die deutsche Öffentlichkeit hat den Genozid 2014 kaum zur Kenntnis genommen.
Berger: Leider. Daher erheben wir als jüdische Organisation unsere politische Stimme, es ist selbstverständlich. Schließlich ist das Vorgehen des IS ein Angriff auf die Menschlichkeit. Dass die Leute davon kaum Notiz nehmen, verstört uns.
Inzwischen haben etwa 1000 Jesidinnen in Deutschland Schutz und Behandlung gefunden. Glauben Sie, dass sich damit bei der Wahrnehmung dieses Volkes etwas ändert?
Tekkal: Ich glaube vor allem, dass der IS nur so groß werden konnte, weil der Westen sich einredete: Sind ja nicht unsere Toten. Nach Würzburg und Ansbach merkt man auch in Deutschland, dass der Terror nicht vor uns Halt macht. Wir müssen hinschauen, selbst wenn es uns scheinbar nicht betrifft. Wegschauen hilft nur den Tätern. Ich vermisse die Sensibilität für die Opfer. Noch immer sind etwa 4000 Frauen und Kinder in Gefangenschaft des IS. Es sind eben nicht „nur“ Jesiden, sondern Menschen. Und die Jesidinnen, die jetzt in Deutschland leben, können über ihr Leid berichten, und wie sie damit fertig werden. Alles, was die Jesiden noch haben, ist ihre Würde. Das kann schon etwas bewegen. Denn die Angst darf uns nicht auffressen.
Bisher hat Deutschland die Jesiden allenfalls wegen sogenannter Ehrenmorde wahrgenommen. Werden die Jesiden die Katastrophe nutzen, um ihre Gemeinschaft zu modernisieren?
Tekkal: Das müssen wir. Dazu gehört, dass wir uns nicht auf eine Opferrolle reduzieren lassen dürfen.
Wie wollen Sie das bewerkstelligen?
Tekkal: Wir müssen Unabhängigkeit einfordern. Zumindest brauchen Jesiden Schutz in ihren irakischen Siedlungsgebieten, von der Staatengemeinschaft garantiert. Dazu gehört auch eine mögliche Bewaffnung. Die Jesiden sind anders als die Juden, die ihre Tora haben, auf die Region Sindschar angewiesen. Dort haben sie ihr spirituelles Zentrum. Genau das wollte der IS zerstören.
Berger: Die Vereinten Nationen empfehlen zu Recht, diesen Massenmord einen Genozid zu nennen. Schließlich versucht der IS, ein ganzes Volk zu vernichten. Es ist wichtig, zu erkennen, dass das nicht etwas ist, das weit weg passiert. Das hat sehr wohl mit dem Westen, mit Deutschland zu tun. Hierzulande leben etwa 100 000 Jesiden, ein Zehntel des ganzen Volkes. Das ist die größte Gemeinde im Ausland. Wenn Minderheiten das Gefühl haben müssen, keinen Schutz zu haben, dann kann man als Demokrat nicht ruhig leben.
Und wie können wir hier für das Schicksal der Jesiden sensibilisiert werden?
Tekkal: Wir haben mit dem IS einen gemeinsamen Gegner, der einen Krieg gegen unsere Werte und gegen Säkularisierung führt. Dass dies meist 3500 Kilometer entfernt passiert, heißt keinesfalls, dass es unsere innere Sicherheit nicht bedroht. Es war fahrlässig, vor zwei Jahren zu meinen, dass uns das nichts angeht.
Sie werfen der Politik Untätigkeit vor?
Tekkal: Ich werfe den Volksparteien auch vor, dass sie die Ängste nicht ernst nehmen. Es gab ja die Befürchtung, dass mit den Flüchtlingen radikalisierte Islamisten nach Deutschland kommen. Es hat sich bewahrheitet. Selbst die geretteten Jesidinnen, die jetzt hier leben, haben keine Garantie, dass sie ihren Peinigern nicht wiederbegegnen. Dass nun auch mein Deutschland bedroht ist, besorgt mich sehr. Wo soll ich denn sonst noch hin?
Was hilft gegen die Angst?
Tekkal: Vernunft, Anständigkeit und Differenzierung. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Für uns Jesiden wäre es ein Leichtes, den Islam zu dämonisieren. Aber damit spielen wir nur den Radikalen in die Hände. Wir müssen den säkularen Kräften im Islam abfordern, dass sie sich von der Gewalt distanzieren und mithelfen, ihre Religion zu modernisieren. Wir brauchen zum Beispiel eine quellenkritische Einordnung des Korans. Denn wer sich dem IS anschließt, glaubt ja, gottgefällig zu handeln.
Berger: Die deutsche Öffentlichkeit bräuchte eine größere Sensibilität für die Gefahren des Salafismus und andere Formen des Extremismus. Das ist sicher nicht der Islam an sich. Aber man darf die Ängste nicht ignorieren, vor allem jetzt, nachdem Terroristen diese Gesellschaft erstmals angegriffen haben. Eine Million Flüchtlinge kamen in kurzer Zeit nach Deutschland, darunter viele junge Männer, die in einer anderen Welt groß wurden. Und die andere Gefahr: Angriffe auf Flüchtlingsheime. Mehr als 1000 Attacken gab es bisher, kaum jemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Wir müssen ein Bewusstsein für den Islamismus entwickeln – aber auch für die Hassverbrechen gegen Minderheiten.
Lässt sich aus der Nachkriegsgeschichte etwas für die Integration lernen?
Berger: Die Nachkriegsgesellschaft war nach der nationalsozialistischen Indoktrination antisemitisch eingestellt. Dennoch lässt sich aus der Zeit lernen, wie man demokratische Werte einbringen kann. Nach den Integrations- und Sprachkursen gibt es heute kaum noch Angebote der politischen Bildung für Zugewanderte. Das ist ein Fehler.
Mit politischer Bildung ist es nicht getan, wenn Flüchtlinge seit einem Jahr in großen Hallen ohne Privatsphäre darauf warten, ihren Asylantrag abgeben zu dürfen.
Tekkal: Wir haben es den Hasspredigern ziemlich leicht gemacht. Wenn es Menschen zum IS zieht, ist das eine Bankrotterklärung unserer Gesellschaft. Wir können nicht auf der einen Seite sagen: Das darfst du nicht. Und auf der anderen Seite keine Angebote machen.
Lassen sich diese Versäumnisse überhaupt noch aufholen?
Tekkal: Wir brauchen Belohnung – für Anstrengungen. Es ist falsch, die „soziale Hängematte“ auszubreiten, ohne Gegenleistung. Es wäre wichtig, dass Flüchtlinge helfen, neue Flüchtlinge zu integrieren. Und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass man etwas tun muss, wenn man etwas erreichen will. Ich treffe oft auf Jugendliche, die sagen: Nur weil ich Ahmed heiße, ist nichts aus mir geworden. Denen sage ich: Nein. Weil du faul bist, weil du morgens nicht aufstehst. Wir müssen diese Jungs härter rannehmen. Auch Fordern hat mit Respekt zu tun.
Apropos: Welche Erfahrungen haben die jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland gemacht – und welche Lehren lassen sich darauf für die heutige Integrationsdebatte ziehen?
Berger: Nach dem Krieg war es für jene Juden, die geblieben sind, ganz schwierig. Der Antisemitismus ist ja nicht über Nacht verschwunden. Es ist allerdings eine Menge passiert. Die Sprache hat ihnen geholfen. Und die Kultur. Die Beziehungen waren stark, und nicht alle Menschen waren Nazis. Dennoch gibt es noch viele Vorurteile und Stereotypen Juden gegenüber. Normal ist das Verhältnis bis heute nicht. 70 Jahre sind eben nicht sehr lang. Es wird noch etwas dauern, bis Juden als Deutsche gesehen werden, die einfach nur eine andere Religion haben. So muss es auch mit den Muslimen werden, dass sie als Deutsche gesehen werden, die eben einen anderen Glauben haben.
Wie können die Jesiden von den jüdischen Erfahrungen in Deutschland profitieren?
Tekkal: Die jüdischen Gemeinden haben uns eine Stimme gegeben. Unser Hilferuf ist angekommen. Jeside zu sein ist jahrhundertelang mit dem Verzicht auf Bildung verbunden gewesen. Denn Bildung bedeutete Islamisierung. Erst seit 50 Jahren ist es überhaupt möglich für Jesiden, Bildung erwerben zu können, ohne um das eigene Leben zu fürchten – und zwar in der Diaspora, zum Beispiel in Deutschland. Hier dürfen unsere Kinder zur Schule gehen.
Ist die Demokratie hier wehrhaft genug?
Tekkal: Ist sie nicht – was einer falsch verstandenen Toleranz geschuldet ist. So wurden Parallelgesellschaften befördert. Das merken wir derzeit in Teilen der türkischen Gemeinschaft. Menschen, die sich vor bald 50 Jahren auf den Weg gemacht haben, sind nie hier angekommen. Strukturen wie die Islamverbände, die konservative Indoktrinierung betreiben, sollten nicht gefördert werden. Und die säkularen Muslime, die sich gegen derartige Tendenzen wehren, werden von uns im Stich gelassen. Dass sie unter Polizeischutz stehen, kann doch nicht unser Verständnis von Demokratie sein! In diesen Tagen möchte ich allerdings auch kein Moslem sein. Die Stigmatisierung trifft am Ende alle. Die vier Millionen Muslime müssen deshalb an der Demokratie mitarbeiten.
Dazu muss diese Demokratie aber ein Signal aussenden, dass dies erwünscht ist.
Tekkal: Das stimmt. Da sind beide gefragt. Der deutsche Nenner ist eben das einzige, was uns alle verbindet.
Berger: Da kann man einiges aus den USA und Israel lernen. Schon die erste Generation konnte sich mit ihrem neuen Staat identifizieren. Genau das brauchen wir auch. Zwischen der Forderung nach einer vollständigen Assimilation und Parallelgesellschaften gibt es eben noch etwas anderes. Man kann Teil der deutschen Gesellschaft sein und dennoch eigene Wurzeln haben. Wir brauchen eine Kultur des Respekts. Und es gibt Werte, die sind nicht verhandelbar. Darüber muss Einigkeit herrschen. Über alles Weitere kann man diskutieren.
Am 3.8.2014 eroberte der IS die Sindschar-Berge, Tausende jesidische Frauen und Mädchen wurden entführt, vergewaltigt, verkauft – ein Völkermord, laut UN. Bis heute sind mindestens 3200 Jesidinnen in Gefangenschaft.
Mehrere 100.000 Jesiden leben im Nordirak in Flüchtlingslagern. Die kurdische Gemeinschaft entwickelte ihre Religion aus einem 4000 Jahre alten Sonnenkult. Seit 800 Jahren werden sie unterdrückt. Laut Baba Scheich, dem spirituellen Oberhaupt, hat das Volk 73 Pogrome erlitten. Eine halbe Million Jesiden leben im Ausland – davon etwa 100.000 in Deutschland.
Jeside ist nur, wer als Jeside geboren ist. Das Drei-Kasten-System verbietet die Heirat mit anderen. Selbst vergewaltigte Frauen werden ausgeschlossen. Dass dies bei den IS-Opfern nicht geschah, ist ein großer Schritt der Gemeinschaft in die Moderne.