Flüchtlinge in Berlin: Gebt mir das Lageso!
„Wer, wenn nicht ich?“, fragte die Berliner Professorin Anja Lüthy und stieg in die Flüchtlingshilfe ein. Sie ist Expertin für Zeitmanagement, hat Platz, Geld, Familie – und unerschöpfliche Energie.
Es war einer dieser Lageso-Tage, kurz vor Weihnachten, draußen die traurige Schlange, drinnen die überforderten Mitarbeiter, als Anja Lüthy, mit Perlenkette und roten Lippen, Shaza und Ashraf Mahmoud an den Händen packte und an den wartenden Menschen vorbeirauschte.
„Ich habe einen Termin“, rief sie laut, obwohl sie keinen hatte, verwies lächelnd auf Shazas Babybauch, passierte vierzehn Security-Männer im Laufschritt, und schrie dem Sachbearbeiter schließlich Paragraphen entgegen.
So kamen die Syrer Shaza und Ashraf Mahmoud, 33 und 43 Jahre, am 21. Dezember 2015 an eine der schnellsten Kostenübernahmen der Lageso-Geschichte. Nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Berlin beziehen die beiden eine eigene Wohnung. Das Amt zahlt.
Es sind ziemlich viele Puzzleteile nötig, bis das im aktuellen Berliner Behördenchaos möglich ist. Und es braucht eine Puzzlerin wie Lüthy. In einer Zeit, in der sich von Amts wegen kaum jemand verantwortlich fühlt für frierende Menschen, verschwundene Kinder, für ein unglaubliches Behördenversagen, sagt diese Frau: Gebt mir das Lageso, ich kann das besser. Beziehungsweise: Gebt mir das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das erst noch geschaffen werden soll.
Seit diesem Montag vertritt Sebastian Muschter von der Unternehmensberatung McKinsey den abgelösten Lageso-Chef Franz Allert – zumindest für ein paar Monate. Anja Lüthy lädt sich seinen Lebenslauf aufs Handy, „endlich haben die was kapiert“, sagt sie. Was sie nicht sagt, aber findet: Besser wäre eine Frau. Besser wäre sie.
„Ich will mich hier mal umsehen“
Lüthy, 53, ist Diplompsychologin, Professorin für allgemeine Betriebswirtschaftslehre an einer Brandenburger Fachhochschule, sie lehrt auch Dienstleistungsmanagement. Sie coacht Firmen wie Ikea oder McDonald’s. Unikliniken lassen sich von ihr Führung beibringen.
Oft hat sie die anderen Ehrenamtlichen, die nachts am Lageso heißen Tee ausschenken, Musteranträge entwerfen und ihre Betten Flüchtlingen überlassen, gefragt: Macht ihr mit? Geht ihr mit mir in die Verwaltung? Niemand wollte mit hinein in diesen Dschungel.
Fast vier Monate ist es her, dass Anja Lüthy das erste Mal beim Landesamt für Gesundheit und Soziales in Moabit vorbeifuhr. Sie wollte sich die Schlangen, von denen die Zeitungen schrieben, selbst ansehen. Erst brachte sie Mandarinen und Müsliriegel. Dann Kleidung. Dann ihre Freundinnen. Drei Tage später googelte sie Nuk, Notunterkunft Berlin, zog ihren Mann ins Auto und landete am Wannsee. Wie das da wohl ist? „Ich bin Anja Lüthy, ich will mich hier mal umsehen“, sagte sie zur Begrüßung. Flüchtlinge zwischen Yachten. Flüchtlinge ausgestattet mit den abgetragenen Designerjacken der Yachtenbesitzer. Zehn Minuten später hielt sie eine ägyptische Näherin, Mutter von vier Kindern, im Arm. In den nächsten Tagen fuhr sie durch die Stadt und verteilte Toilettenpapier in Notunterkünften.
„Jetzt bin ich reif, jemanden aufzunehmen“, sagte sie Anfang Dezember und suchte nach einem Paar, vielleicht mit Kind. Sie traf dabei Menschen, die ihre Parzelle in einer Turnhalle nicht verlassen wollten, aus Angst den begehrten Platz an der Wand zu verlieren. Auf Facebook, in der Gruppe „Place4Refugees“, las Lüthy schließlich von einer Schwangeren mit Ehemann, die unter 1200 Geflüchteten in Messehalle 26 still vor sich hinlitt. „Die will ich“, rief Lüthy und gab der jungen Familie Mahmoud ein neues Zuhause.
Integration ist eines von Lüthys Lieblingsworten
Sie hat für Shaza und Ashraf Mahmoud gekocht, die Wohnung geheizt, ihnen den Lidl gezeigt. Sie hat sie erzählen lassen. Vom Leben in Damaskus, wo die kleinen Gassen nach Jasmin duften. Von der guten Arbeit, die sie hatten, er, Jurist, Manager bei einer Firma, die PET-Flaschen abfüllt, sie als Geowissenschaftlerin an der Universität. Von ihrer Liebe auf den ersten Blick. Von der Bombe, die ihr Haus zerstörte, von der zweiten, der dritten, die sie erlebten. Von den Gliedmaßen, die zerstückelt durch die Luft flogen. Von Shazas Schwangerschaft, dem Traum von einem stillen Leben. Der Entscheidung zur Flucht. Weil das Baby eine Welt ohne Bomben verdient hat.
Anja Lüthy hörte zu, als das Paar vom Unfall berichtete, den der müde Schlepper mit dem Bus hatte, von der Angst auf dem Meer um ihr ungeborenes Kind, vom Goldschmuck der Mutter, der ihre Währung auf Reisen wurde.
Aber dann musste es losgehen. „Ich ertrage es nicht, dass Integration Monate dauern soll“, sagt Lüthy. „Bis dahin stecken die doch tief in der Depression.“ Man müsse den ersten Hype ausnutzen. Turbo-Integration. Integration ist eines ihrer Lieblingsworte.
Shaza braucht einen Ultraschall. Lüthy ruft eine ehemalige Studentin in der DRK-Klinik an. Ashraf, der seine weinrote Umhängetasche mit allen Dokumenten nie ablegt, muss Deutsch lernen. Ein Lüthy-Telefonat später ist er Übersetzer an der Grunewalder Schule von Lüthys Sohn, in der Willkommensklasse für 14-jährige Kinder. Integrationspuzzle, erster Teil. „Ich bin eben gut vernetzt“, sagt Lüthy. Wenn sie bei Freunden zu Hause ist, bei Firmenchefs und Vorstandsvorsitzenden, puzzelt sie weiter: „Du hast Ashrafs Größe, sollen wir mal gemeinsam deinen Schrank durchstöbern?“ Inzwischen hat sie in ihrer Wilmersdorfer Wohnung eine eigene Kleiderkammer. Ashraf und Shaza brauchen einen Kinderwagen, Lüthy organisiert eine Weihnachtsfeier an ihrer Fachhochschule, bittet um Spenden. Die Hälfte ihrer Studenten kann sich jetzt auch vorstellen, jemanden aufzunehmen.
Anja Lüthy, sagt Ashraf Mahmoud, sei zehn Personen in einer. Manchmal verliert er sie in der eigenen Wohnung. Und wenn er sie wiederfindet, hat Lüthy ihm schon seine Wäsche zusammengefaltet. Unheimlich ist das. Fast unmöglich neben ihr einen eigenen Willen zu behalten. Ashraf Mamoud aber fühlt sich nicht überfahren, er ist Lüthy dankbar. Am liebsten würde Lüthy den Mahmouds auch das Deutschlernen abnehmen. „Wenn es doch nur einen Chip dafür gäbe, ich würde ihn implantieren lassen!“ Stattdessen setzt sie den Direktor der Berlitz-School so lange unter Druck, bis er Shaza einen der wenigen Integrationskursplätze anbietet.
Inzwischen betreut Anja Lüthy elf Flüchtlinge. Bei Syrern wie den Mahmouds mit guter Aussicht auf eine Zukunft in Deutschland, kommt sie rasch voran. Sie probt Wohnungsbesichtigungen und Bewerbungsgespräche mit ihnen. Bei der ägyptischen Näherin, mit der sie sich kaum verständigen kann, eher nicht. Da kann sie nur wortlos trösten. Lüthys Handy ist voll mit Fotos von Aufenthaltsgenehmigungen und Laufzetteln der Behörden. In ihrem Kopf trägt sie einen Stadtplan der Bedürfnisse.
Als sie mit dem Ehepaar Mahmoud bei der Gynäkologin steht, wird ihr so langweilig, dass sie im Vorbeigehen einer Frau im Wartezimmer einen Job bei den Maltesern vermittelt. Auf dem Rückweg vom Bundesamt für Flüchtlinge könnte sie noch kurz die vielen blauen Ikea-Taschen voll Kleiderspenden loswerden, die sie im Auto mit sich fährt oder ihre Tischdecken abholen, die sie einem anderen Ehrenamtlichen für ein Willkommens-Abendessen geliehen hat.
Muss sie mal kurz nachdenken, wie sie das logistisch löst. Bei einem Latte Macchiato. Integrationspuzzeln ist ihre intellektuelle Stimulation. Sie schlägt dazu ihren rot-weiß karierten Kalender auf. Quetscht Termine zwischen Zeilen. Quetscht Glück neben Rettung. Sobald man ihr einen Stift gibt, malt sie Tabellen auf, Zeitpläne, Grundrisse. Wenn man sie fragt, warum sie das alles tut, ob sie da vielleicht doch etwas zu kompensieren habe, schreit sie einem die Antwort entgegen. „Wer, wenn nicht ich?“
"Wir schaffen das" ist Lüthys Mantra geworden
Sie ist gesund, hat zwei fast erwachsene Söhne, eine sichere Stelle als Beamtin, sie hat Platz, Geld, einen Mann, der ihr hilft. Sie ist belastbar, und sie hat das Organisieren gelernt. Sie ist Expertin für Zeitmanagement. In ihren Seminaren verspricht sie eine Stunde Zeitersparnis dank ihrer Regeln. „Ich halte mich selbst an alle davon!“ Vor dem Einschlafen schreibt sie Listen für den nächsten Morgen, Aufgaben erledigt sie in Blöcken, 60 Prozent des Tages verplant sie fest, den Rest hält sie für Spontanes und Unvorhergesehenes bereit.
Merkels „Wir schaffen das“ ist Anja Lüthys Mantra geworden, ob sie Umzugskartons schleppt oder sich durch die Formulare quält. Manche ihrer Bekannten fragen sie, wann sie wieder damit aufhört. „Jetzt geht es doch erst los, jetzt weiß ich ja, wo bei Lageso die Tür ist.“
Was am Lageso schief läuft, glaubt Lüthy in diesen Monaten genau beobachtet zu haben. “Spätestens am 2. November hätte das laufen müssen.“ Man habe die Zahlen ja gekannt. Aber es läuft noch immer nicht. Es bräuchte festgelegte transparente Prozesse, dazu eine Software, die ermittelt, wie lange welcher Mitarbeiter womit beschäftigt ist. „Das kann jede Arztpraxis.“ Die Akten müssten endlich digitalisiert werden, statt in gelben Postkisten verloren zu gehen. 700 statt 300 Sachbearbeiter. Die müssten auch mal gelobt werden. „Management by walking around“, schlägt Lüthy vor, wie in der Haribo-Fabrik üblich: Der Chef dreht Runden und fragt seine Mitarbeiter, woran es noch fehlt. „Wann hat der Senator für Soziales, Mario Czaja, das schon gemacht?“ Aber sind Flüchtlinge mit Gummibärchen zu vergleichen?
"Ich bin nicht auf der Welt, um zu warten"
Lüthys Mann hat sich daran gewöhnt, dass sie nachts im Bett noch Gute-Nacht-Nachrichten wie am Fließband verschickt. Nur ihr Sohn bittet sie, ab und an auch eine Stunde allein mit ihm zu verbringen.
„Sie brauchen wohl noch ein bisschen. Ich melde mich wieder“, droht Lüthy einem Klinikchef, der einem Flüchtling kein Praktikum anbieten will. Lüthy spricht Lösungen aus, bevor einer sein Problem formuliert hat. Sie hat keine Zeit auf das Ende des Satzes zu warten. „Ich bin dominant“, sagt sie, ohne sich zu schämen. Auf einer Veranstaltung der Bundesregierung zum demographischen Wandel setzte sie sich ungebeten auf ein Podium. Weil da nur Männer waren. Geht gar nicht. „Ich habe gute Sachen zu sagen. Ich werde mich nicht blamieren“, dachte sie damals spontan. Sie durfte bleiben. Ihr Erfolg hat sie selbstbewusst gemacht. Eine Flucht macht das nicht.
Am dringendsten benötigen die Mahmouds nun eine Wohnung. Wichtigstes Puzzleteil. Über eine Freundin überzeugte Lüthy einen Vermieter. Zwei Zimmer, Stuck an der Decke, schönstes Friedenau. Wer Lüthy lange zuhört, sagt ihr schnell etwas zu, wonach sie gar nicht gefragt hat. Einen Kleiderschrank für Ashraf und Shaza? Gebe ich Ihnen.
Das Integrationspuzzle füllte sich rasch. Und schließlich kam jener Dezembertag, als Lüthy mit Ashraf und Shaza Mahmoud das Lageso überwand, vierter Stock, Zimmer 04.01, „schwanger ist ein Zauberwort“. Als sie ihre Visitenkarte verteilte – „falls Sie mal was brauchen, wir müssen doch jetzt alle zusammenhalten“ –, der Security Apfelsaft aus ihrer Handtasche anbot und dem Sachbearbeiter Weihnachtsmandeln schenkte. „Ich bin nicht auf der Welt, um zu warten, Sie bedienen mich jetzt.“
Sie fragte sich nicht, was passieren würde, wenn alle sich so aufführten, sondern holte mit schnellen Fingern aus ihrer gelben Pappmappe eine Bescheinigung des Vermieters hervor, dass er Ashraf und Shaza Mahmoud Obdach geben werde. Sie zog den Antrag auf vorzeitige Entlassung aus der EAE heraus, der Erstaufnahmeeinrichtung, in der Flüchtlinge eigentlich mindestens drei Monate bleiben sollen. „Sicher nicht mit einer schwangeren Frau, wir wollen hier keine syrischen Babys umbringen noch bevor sie geboren sind“, sagte Lüthy atemlos wie immer, und dass die Wohnung kalt nur 373,65 Euro kostet, das Land Berlin froh sein könne um jeden Flüchtling, den es nicht für teure 30 Euro am Tag unterbringen muss.
Lässt sich Lüthys Einzelfallhilfe auf Tausende übertragen?
Woher weiß ein normaler Mensch wie viel Miete das Lageso übernimmt? Lüthy wusste das auch nicht. Sie telefonierte sich durch die Helfercommunity bis sie verstanden hatte, dass sie nach Paragraf 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes sogar Gelder für Hausrat und Möbel beantragen kann und nach Paragraf 6 eine Erstausstattung für das Baby. Anja Lüthy mag ein Motor sein, aber hinter ihr steht ein Apparat.
„Ich gehe nicht mehr weg, bis das durch ist“, sagte sie an jenem Dezembertag auf dem Lageso und setzte sich. Beharrlich. Sie blätterte die Asylanträge des Paares auf den Tisch. Alles beisammen. Das Lageso bewilligte die Kostenübernahme. Das größte Puzzleteil – Lüthy hat es an die richtige Stelle gesetzt. Und dann, obwohl das selten passiert, weinte sie vor Glück.
Wo wären Shaza und Ashraf Mahmoud jetzt ohne sie? In einer Parzelle der Messehalle? Ist es gerecht, dass manche eine Anja Lüthy haben und andere nicht? Und lässt sich Lüthys Einzelfallhilfe überhaupt auf Tausende übertragen?
In letzter Zeit liest man von der Denkschule des effektiven Altruismus. Wonach es manchmal besser wäre, in der Finanzbranche unmoralisch Geld zu verdienen und das moralisch zu spenden, als sich ehrenamtlich abzumühen. Soll Anja Lüthy also weiter ägyptische Näherinnen im Arm halten, weiter Tüten voller Wilmersdorfer Kaschmirpullover durch Berlin fahren, Tränen trocknen?
Ashraf und Shaza Mahmoud brauchen Möbel. Lüthy liest im Internet von einer Wohnungsauflösung. Sie hat inzwischen Angestellte, ohne je eine Stellenanzeige veröffentlicht zu haben. Frauen melden sich bei ihr, wollen den Umzug für die Familie übernehmen. Gut, denn Ashraf Mahmouds Führerschein wird in Deutschland nicht anerkannt. Lüthys Freundin Ulla bezahlt einen Handwerker für letzte Reparaturen. Das Paar braucht Leute, die die Möbel tragen. Lüthy bittet andere Schützlinge um Hilfe.
An einem Samstag im Januar ziehen Ashraf und Shaza Mahmoud in ihre Wohnung. Anja Lüthy stellt die Möbel um, bis jeder Zentimeter optimal genutzt ist. Sie kann sich nicht zurückhalten, wenn sie glaubt, es besser zu wissen. In einigen Stunden baut sie dem Paar ein neues Leben. Bis hin zu den Staubsaugerbeuteln.
Das Mädchen, das Shaza in wenigen Wochen zur Welt bringen wird, soll Angela heißen. Weil Merkel die Grenzen öffnete. Das hatte das Ehepaar schon vor der Flucht aus Syrien festgelegt.
Jetzt haben Ashraf und Shaza Mahmoud noch einen zweiten Namen ausgesucht: Anja.