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Berlins Sozialsenator Mario Czaja steht weiter in der Kritik.
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Flüchtlinge in Berlin: Mario Czaja und das Lageso - Amt ohne Würde

Lageso – drei Silben, die zum Inbegriff des Berliner Behördenversagens geworden sind. Die Verwaltung ist mit den Flüchtlingen heillos überfordert. Nur einer findet, dass das Chaos noch erträglich ist: Sozialsenator Mario Czaja.

Einige stehen schon seit Stunden hier. 450 frierende Menschen, darunter auch Kleinkinder und Babys. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales nimmt am Montagmorgen um 6 Uhr erstmals im neuen Jahr wieder den Betrieb auf. Die Planen der Wartezelte haben inzwischen dicke Löcher, außerdem ist heute eine Heizung defekt. Das komme eben vor, sagt ein Security-Mann. Hier sowieso.

450 frierende Menschen vor einem Amt in Berlin. Vor einem Jahr wäre das unvorstellbar gewesen. Im Januar 2016 ist es nur der ganz normale Wahnsinn.

Lageso. Drei Silben, die zum Inbegriff des Berliner Behördenversagens geworden sind. Das Amt ist bundesweit bekannt, regelmäßig in der „Tagesschau“, welche Landesbehörde kann das von sich behaupten? Auch die „New York Times“ berichtete, beschrieb die Zustände am Lageso kürzlich als „chaotisch bis geradezu gefährlich“. Ein Besuch auf dem Moabiter Areal sei eine erschreckende Erfahrung, und das in einem Land, das doch für seine Effizienz berühmt sei.

Das Lageso ist zur Anti-Marke geworden. Ein Desaster. Ein zweiter BER.

Der Druck auf die Verantwortlichen wächst. Vier Wochen, nachdem Lageso-Chef Franz Allert um seine sofortige Ablösung gebeten hat, steht auch der zuständige CDU-Senator immer stärker in der Kritik.

Zelte wegen Kälte von Lageso-Mitarbeitern geräumt

Am Montag ist Mario Czaja im Berliner Abgeordnetenhaus, Raum 311, schwarzer Anzug, dunkle Krawatte. Als erschiene er zu seiner eigenen Beerdigung. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziales tagt, und noch bevor die Sitzung losgeht, ruft jemand: „Treten Sie zurück!?“ Gelächter. Ob es als Aufforderung oder Frage gemeint ist, wird nicht ganz klar. Czaja reagiert jedenfalls nicht darauf. Schnell ist die Situation vor dem Lageso Thema. Der Senator sieht dabei eine Verbesserung. Er weist auf die beheizten Zelte hin und darauf, dass Frauen mit Kindern, ältere Menschen und solche mit Behinderung im Gebäude warten dürften. Außerhalb der Zelte, sagt er, habe „bis auf ganz wenige Menschen“ an diesem Morgen niemand stehen müssen. Was er nicht erwähnt, ist, dass die von ihm genannten Zelte in der vergangenen Nacht von Lageso-Mitarbeitern geräumt wurden, weil es in ihnen einfach zu kalt war.

Vertrautes Bild. Die Schlange vor dem Lageso am Montagmorgen.
Vertrautes Bild. Die Schlange vor dem Lageso am Montagmorgen.
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Auch ansonsten Optimismus: „Das Abarbeiten der Wartesituation wird sich, so hoffen wir, weiter verbessern“, sagt er. Die Opposition sieht das ganze naturgemäß kritischer. „Können Sie ausschließen, dass Akten von geflüchteten Menschen in irgendwelchen Räumen an unterschiedlichen Stellen in gelben Postkisten aufbewahrt werden, die bis unter die Decke gestapelt sind?“, fragt Elke Breitenbach, die stellvertretende Vorsitzende der Linken in Berlin. Mitarbeiter des Lageso hatten im Dezember anonym von katastrophalen Zuständen in den Archiven berichtet. Mario Czaja nimmt sich viel Zeit, um der Frage auszuweichen: „Richtig ist, dass es sehr viele Akten gibt und richtig ist auch, dass für die Digitalisierung dieser Akten zusätzlicher Unterstützungsbedarf besteht. Die abgelegten Akten befinden sich dann in Räumen, in denen es auch gelbe Postkisten gibt.“ Breitenbach erwidert trocken: „Wenn das für Sie das normale Archivierungswesen ist, dann erklärt sich Einiges.“

Wartende Massen nur weniger sichtbar

Mario Czaja macht keine gute Figur dieser Tage, dabei hat es durchaus Veränderungen gegeben. Die Frage ist nur, ob es auch Verbesserungen sind. Zum Beispiel die Sache mit den weißen Bändchen. Früher fand die Erstregistrierung auf dem Gelände in Moabit statt. Seit die Zweigstelle Bundesallee geöffnet hat, erhalten neu ankommende Flüchtlinge am Lageso zunächst ein weißes Bändchen und werden dann mit dem ersten freien Bus in eine Notunterkunft gefahren. Dort sollen sie auf ihren Registrierungstermin in der Bundesallee warten. Manche Flüchtlinge harren seit mehr als sechs Wochen in ihrem Heim aus. Die wartenden Massen sind also noch da, bloß weniger sichtbar. Neulich fiel auf, dass eine voll belegte Turnhalle schlicht vergessen worden war – die Flüchtlinge dort hatten mit ihren weißen Bändchen völlig umsonst auf einen Termin gewartet. 

Für 2016 hat der Senat weitere Neuerungen versprochen: etwa die Ausgabe von Gesundheitskarten, damit die Flüchtlinge sich nicht ständig neue Krankenscheine abholen müssen. Diese sind aber nur für Neuankommende vorgesehen. Zudem sollen ehemalige Postbeamte am Lageso aushelfen. Da einige von ihnen früher bei der Telekom beschäftigt waren, verfügten diese schließlich – kein Witz – über dringend benötigte IT-Kenntnisse.

Die Freiwilligen von „Moabit hilft“ bezweifeln, dass die jetzt angekündigten Maßnahmen zu entscheidenden Verbesserungen führen. „Alles Makulatur“, sagt Sprecherin Diana Henniges – schlicht nicht geeignet, um „den hier seit Monaten herrschenden Ausnahmezustand zu beenden“. Dass es die Verantwortlichen bis heute nicht einmal geschafft hätten, winterfeste Wartezelte zu organisieren, sei ein Skandal. In der Nacht zu Montag litten einige Flüchtlinge unter Erfrierungen, einem muss womöglich ein Zeh amputiert werden.

„Was wir dringend brauchen, sind kleinformatige Traglufthallen“, sagt Henniges. Völlig unverständlich sei, warum der eigentlich als beheizter Wartebereich bereitstehende Hörsaal nachts und morgens nicht geöffnet werde. Vom Lageso heißt es dazu, die Öffnung des Hörsaals sei derzeit nicht nötig, schließlich gebe es doch Zelte.

Kaltland. Seit dem frühen Morgen standen Hunderte Flüchtlinge vor dem Landesamt. Die Zelte hatten Löcher, auch die Heizung fiel aus. Im neuen Jahr soll es nun Verbesserungen geben. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Kaltland. Seit dem frühen Morgen standen Hunderte Flüchtlinge vor dem Landesamt. Die Zelte hatten Löcher, auch die Heizung fiel aus. Im neuen Jahr soll es nun Verbesserungen geben. Foto: Kay Nietfeld/dpa
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Neben Wärmeschutz fehlt es laut „Moabit hilft“ auch weiterhin an grundlegender medizinischer Versorgung auf dem Gelände sowie in den Notunterkünften. Etliche Wartende sind schon in Ohnmacht gefallen, zusammengebrochen. Es gab mehrere Fehlgeburten. Seit Herbst warnen die Ehrenamtlichen und auch die Berliner Caritas, dass es bald den ersten Toten auf dem Gelände geben könnte.

Kann man einen Senator dafür verantwortlich machen? Muss man es sogar?

Mario Czaja gilt als versierter Gesundheitspolitiker. Mediziner und Klinikleiter schätzen ihn, und mit den einflussreichen, aber nicht immer einfachen Bossen der Kassenärztlichen Vereinigung verhandelte er in den vergangenen Jahren erfolgreich. Doch der Gesundheitssenator ist eben auch für Soziales zuständig – und das heißt in Berlin: sich um die Flüchtlingsunterbringung zu kümmern.

Czaja wehrt sich gegen Vergleiche mit Bayern

Im Lageso aber, das dafür zuständige Amt, wurde lange vor Czaja massiv gespart. Vor zehn Jahren arbeiteten noch fast 1200 Beschäftigte dort, 200 mehr als nach Czajas Amtsantritt. Der rot-rote Vorgängersenat hatte die Schulden der Stadt abbauen wollen. Und weil damals nur rund 1000 Asylbewerber pro Jahr nach Berlin kamen, war das Lageso in Moabit ein Sparobjekt unter vielen.

Vielleicht wäre auch alles gut gegangen, wenn es beim üblichen Auf und Ab der Flüchtlingsbewegungen geblieben wäre. Beim Amtsantritt des Senators im Dezember 2011 erschütterte der arabische Frühling das Machtgefüge in Nahost und Nordafrika und mündete in Kriege, die noch heute andauern, in Syrien, Irak, Libyen, Ägypten, Jemen. Aber vielleicht wäre selbst das noch mit der unterbesetzten Berliner Verwaltung zu schaffen gewesen, hätte Deutschland nicht die Grenzen geöffnet. Im vergangenen Spätsommer sprach Czaja ebenfalls von 1000 Neuzugängen in Berlin – diesmal allerdings pro Tag.

Selbst in der Schwesterpartei haben sie nur Häme für die Hauptstadt übrig. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hat Berlin gerade „Politikversagen“ vorgeworfen. Der Metropole gelinge sogar weniger als der Stadt Passau, polterte Scheuer.

Mario Czaja wehrt sich gegen solche Vergleiche. Die Herausforderungen seien in Berlin größer als anderswo: „Oft werde ich ja mit dem ,Vorbild München’ konfrontiert.“ Doch der Vergleich hinke: „12 000 Flüchtlinge leben aktuell in Bayerns Landeshauptstadt, der Rest wurde im Land untergebracht. Berlin hat seit Anfang des Jahres 80 000 Menschen untergebracht und versorgt.”

Berlin habe also mehr Flüchtlinge zu versorgen – bei schlechterer Ausgangslage: „Es ist richtig, dass bis zu Beginn dieser Legislaturperiode in der Berliner Verwaltung massiv gespart wurde, sowohl beim Personal als auch bei Sachmitteln. Im Lageso waren es von 2001 bis 2011 alleine 500 Stellen, die wegfielen”, sagt Czaja.

Den Versuch, in der Verwaltung Prozesse digital abzuwickeln und zu archivieren, hätte viel früher beginnen sollen, gibt Czaja zu. „Das hätte uns in den vergangenen Monaten viel Arbeit und Ärger erspart.“

Erste Vorahnungen bereits 2012

Dass es dramatisch werden würde, ahnten einige bereits im Oktober 2012. Damals errichteten Flüchtlinge am Oranienplatz in Kreuzberg ein Zeltlager, um gegen mögliche Abschiebungen zu protestieren. Am Brandenburger Tor traten Flüchtlinge in einen Hungerstreik, auch die alte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg wurde besetzt. Weil die im Bezirk regierenden Grünen beide Besetzungen duldeten, gab es bald Streit – in dem sich die SPD zurückhielt. Überhaupt hatte sich Klaus Wowereit einfach nicht zur Flüchtlingskrise geäußert. Der Druck wurde groß, bis auf Spandau und Lichtenberg wehrten sich fast alle Bezirke. Niemand wollte, dass alte Kitas, Schulen, Kliniken mit Asylbewerbern belegt werden. Czaja bekam Anrufe aus Bezirksämtern, von Parteikollegen, von Gewerbetreibenden, von Sportvereinen.

Das könnte ihm jetzt zum Verhängnis werden. Kurz vor Weihnachten waren Emails zwischen Czaja und Mitarbeitern des Lageso aufgetaucht, die zu belegen scheinen, dass sich Czaja in seinen Entscheidungen nicht nur von Notwendigkeiten sondern auch von der Parteiräson hatte leiten lassen. So soll er beispielsweise 2013 einer Lageso-Abteilungsleiterin, die zwei Immobilien in Spandau als Flüchtlingsunterkünfte nutzen wollte, geantwortet haben: „Da red ich mal mit Kai Wegner, aber Sie dürfen noch nichts machen“. Kai Wegner ist CDU-Abgeordneter in Spandau. Die Opposition versteht Czajas Aussage nun so, dass er den Standort der Flüchtlingsunterkunft von der Zustimmung seines Parteikollegen abhängig machen wollte.

Die Grünen-Abgeordnete Canan Bayram sieht deshalb in Czajas Handeln Anhaltspunkte für sogenannte sachfremde Erwägungen: „Es entsteht der Eindruck: Man bestellt bei Czaja und er liefert“. „Wenn Sie sachfremde Erwägungen angestellt haben, geht das in den Bereich der Untreue“, sagt sie am Montag zu Czaja, als der sich im Ausschuss zu den Vorwürfen äußert. Czaja hat Mühe, Ruhe zu bewahren. Mit verschränkten Armen weist er sämtliche Vorwürfe zurück. Er habe lediglich Hinweise von den lokalen Vertretern bekommen.

Die Vorwürfe beziehen sich auf längst vergangene Zeiten. Inzwischen kamen immer mehr Flüchtlinge – Syrer, Afghanen, Somalier, Albaner, Iraker, Libyer. Turnhallen wurden belegt und Wohncontainer aufgestellt.

Spott entlädt sich über Czaja

Michael Müller, der Ende 2014 von Wowereit den Bürgermeisterposten übernahm, meldete sich erst dann öffentlich, als schon Hunderte jeden Tag neu Asyl begehrten. Doch schon bald war Czaja das alleinige Ziel öffentlichen Spotts. In der Opposition sagt ein Abgeordneter – der Czaja-Apologie unverdächtig: „Das hat die SPD geschickt gemacht.“

Franz Allert war Chef des Lageso. Im Dezember schmiss er hin.
Franz Allert war Chef des Lageso. Im Dezember schmiss er hin.
© AFP

Während der Senator täglich Grundstücke auf ihre Asylbewerberheim-Tauglichkeit prüfen ließ, geriet im Herbst 2014 Lageso-Chef Franz Allert unter einen unangenehmen Verdacht: Sein Patensohn ist für einen Heimbetreiber tätig, so der Vorwurf, mit dem das Amt mangelhafte Verträge abgeschlossen habe. Später stellten externe Wirtschaftsprüfer fest, dass es bei fast allen geprüften, auch gemeinnützigen Heimbetreibern intransparente Verfahren gab – keine Korruption also, sondern schiere Überforderung im Lageso. Doch Czaja ließ Allert nicht fallen, er degradierte ihn bloß – seine Vorsicht nutzte ihm jedoch nichts. Die Heime wurden seinem Staatssekretär Dirk Gerstle (CDU) unterstellt, der fraktionsübergreifend respektiert wird. Allert sollte bleiben und das Chaos am Lageso in den Griff kriegen. Es gelang ihm nicht. Im Dezember trat er zurück.

Und auch über Czajas Rücktritt wird schon lange spekuliert. Im Dezember wurden Gerüchte bekannt, die Berliner SPD-Spitze habe intern über Czajas Ablösung als Senator beraten. Doch es war am Ende nur Lageso-Chef Allert, der gehen musste.

Der Senator aber wurde mehrfach angezeigt, zuletzt von 40 namhaften Anwälten wegen des Verdachtes der Körperverletzung: Czajas Verwaltung lasse die Flüchtlinge vor dem Lageso biete weder ausreichend Obdach noch Versorgung und gefährde so die Gesundheit der Asylbewerber.

Der Grüne Landesvorsitzende Daniel Wesener hat öffentlich Czajas Rücktritt gefordert, hält ihn für den „definitiv falschen Mann“ für den Aufbau des neuen Landesamts. Auch Renate Künast findet, Czaja solle sofort weg.

Für die Unterstützer der Flüchtlinge ist der Austausch des Senatorenpostens dagegen nicht die dringlichste Maßnahme. „Wir wären nicht unglücklich, wenn Mario Czaja gehen müsste“, sagt Diana Henniges von „Moabit hilft“. Das werde aber wenig helfen.

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