Dreikönigstreffen der FDP: Für Meisterschüler Christian Lindner geht es um alles
Nie wieder schrill, nie mehr Regieren um jeden Preis: FDP-Chef Christian Lindner hat von seinen Vorgängern gelernt. Heute schwört er die Partei auf die Bundestagswahl ein.
In diesem zweistündigen Gespräch gibt es nur einen einzigen, flüchtigen Augenblick, in dem Christian Lindner einen Einblick in seine Gefühle zulässt. In seinem Arbeitszimmer im dritten Stock der FDP-Parteizentrale in Berlin spricht er, seit 2013 Parteichef, über seinen Rücktritt als Generalsekretär im Jahr 2011. Er sei „damals in jeder Beziehung untergegangen, privat, körperlich, politisch“.
Aber dieser Lindner, der einen Kontrollverlust zugibt, ist sehr selten. Der andere, eigentliche Lindner übernimmt fast immer sofort die Initiative, braucht die Kontrolle.
Und so springt er bereits nach den ersten Sekunden des Gesprächs aus seinem Sessel, schnappt sich ein leeres Blatt Papier und zeichnet ein politisches Diagramm auf. Pfeil nach oben: Freiheit, Pfeil nach unten: das Konservative, Pfeil nach links: Gleichheit, Pfeil nach rechts: individualistisch.
Trotz seiner 37 Jahre durchziehen erste Furchen sein gebräuntes Gesicht. Die Augen dagegen werden wohl ewig jugendlich blicken. Er ist jetzt knapp 20 Jahre im Politikgeschäft.
Lindner zeigt auf das Diagramm und fragt, wo man die Parteien zwischen diesen Polen einordnen würde, zeichnet sie aber rasch selbst ein. Seine FDP landet natürlich als einzige zwischen Freiheit und Individualität. Lindner freut sich über sein Bild und erwähnt, dass er das kürzlich erst mit SPD-Parteichef Sigmar Gabriel gemacht habe.
Dann sagt Lindner: „Wissen Sie, was meine Kraftquelle ist? Ich bin total von unserem Weg überzeugt.“ Aber wohin wird der führen?
An diesem Freitag will er beim traditionellen Dreikönigstreffen in Stuttgart seine Partei auf den Weg ins Superwahljahr einschwören. Bringt er die FDP bei der Bundestagswahl nicht zurück ins Parlament, aus dem sie 2013 flog, ist ihre Zukunft massiv bedroht – er selbst wird die Politik verlassen müssen, die längst zu seinem Leben geworden ist. Ein Beruf als Berufung, über die er sagt: „Ich liebe das, ich will das!“
Seit 2013 ist die FDP die „Lindner-Partei“
Der Druck ist hoch; er ist Fraktionsvorsitzender in Nordrhein-Westfalen und Spitzenkandidat für die Landtagswahl im Mai, und er ist Parteichef und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl im September. Seit 2013 ist die FDP zu einer „Lindner-Partei“ mutiert. Er selbst findet, die FDP habe jetzt keine Angst mehr vor dem politischen Aus, sie sei nun „differenziert, klug, in die Zukunft orientiert. Und geschlossen“. Im Umkehrschluss heißt das: Nie wieder nur Koalitionspartei, nie wieder nur Ein-Themenpartei, nie wieder Besserwisserpartei sein. Christian Lindners neue FDP muss Widersprüche aushalten. Etwa den, dass ihre Protagonisten nach dem Wahldesaster eher zurückhaltend, fast demütig auftreten, während andererseits die Wahlplakate so bunt sind, als seien sie beim Actionpainting entstanden. Ein Plakat gewordener Schrei nach Aufmerksamkeit.
Auf seinem Polit-Diagramm steht die FDP, die sich mittlerweile „Freie Demokraten“ nennt, zwischen Freiheit und Individualität, aber in seinen Reden will Lindner die „Mitte befreien“, will also dorthin, wo alle etablierten Parteien Stimmen holen wollen. Das ist schwierig, denn der Kern der FDP ist nicht so leicht in laute Forderungen zu übersetzen. Vielleicht kann man sagen, dass die FDP vor allem eine Partei mit klarer Haltung sein will. Eine Denkhaltung, für die der Leitsatz stehen soll: Mehr Chancen durch mehr Freiheit.
Christian Lindner geht in seinem Büro zurück zu seinem Sessel und erklärt, was denn so falsch läuft im Land. „Die zunehmende Bürokratisierung entmündigt Bürger, weil der Staat signalisiert, dass er dem Individuum nicht traut“, sagt Lindner. Nein, er hat seine Partei nicht neu aufgestellt, auf dass sie sozialer werde; sie bleibt eine wirtschaftsorientierte Partei, die auf Wachstum setzt. Lindner formuliert dann so, dass es einigen in der FDP zu unkonkret ist: „Die Wirtschaft schlägt die Pflöcke ein, an dem das soziale Netz aufgehängt wird.“
Offen kritisiert das niemand, denn seit 2013 haben die Liberalen eine Art Reinigungsprozess vollzogen, es wird jetzt nicht mehr unnötig gestritten. Zudem hat sich die FDP weder Euro-Skeptikern noch Rechtspopulisten geöffnet. Das hat Lindner im bürgerlichen Lager glaubwürdig gemacht. Langsam kletterte die FDP, auch nach gewonnenen Landtagswahlen, bundesweit auf mehr als fünf Prozent. Und der FDP-Parteivorsitzende ist wieder ein gern gesehener Gast auf den Wirtschaftspodien.
An einem verregneten Tag im Herbst steht Lindner neben dem Grünen-Parteichef Cem Özdemir auf der riesigen Bühne des Estrel Hotels in Berlin-Neukölln. Arbeitgebertag 2016. Vor ihnen 400 Zuschauer in gediegenen Anzügen. Gerade haben der Arbeitgeberpräsident und die Bundeskanzlerin mäßig aufregende Reden gehalten. Jetzt also die beiden parteipolitischen Antipoden von Gelb und Grün. Eine Bühne, ob groß oder klein, mit vielen oder wenigen Zuschauern, das ist Lindners Ding.
Lindners Taktik: die Liberalen als hübsches Versprechen
Er ist perfekt vorbereitet wie immer; mal klug und ernsthaft, mal witzig und pointiert. Über Özdemir sagt er: „Er ist der Richtige, wenn sie jemanden wollen, der konstruktiv ist, aber er ist der Falsche, wenn sie einen Repräsentanten der grünen Partei brauchen.“ Gelächter, Applaus. Der Moderator fragt ihn, welches seine wichtigsten Wahlkampfthemen seien. Bildung, Digitalisierung, öffentliche Verwaltung, Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Wie er konkret die Politik verändern will, sagt Lindner nicht. Aber das ist auch nicht der Plan.
Seine Kritiker in der Partei sagen, er habe die FDP zu einer Projektionsfläche gemacht. Tatsächlich wirkt Lindners Taktik so, als wolle er die Liberalen als hübsch verpacktes Versprechen präsentieren, das für jeden etwas enthalten könnte. Er legt diese interessante Verpackung in eine aufgewühlte Parteienlandschaft hinein und eine Gesellschaft, die sich in vielen Grundüberzeugungen nicht mehr einig ist. Lindner sieht eine Marktlücke für seine FDP, und diese Lücke soll gefüllt werden mit, wie er sagt, „Vernunft“.
Ein paar Tage später ist Lindner in seiner Heimat Nordrhein-Westfalen beim Landesparteitag der FDP in Neuss. NRW ist neben Baden-Württemberg der wichtigste Landesverband, hier waren Jürgen W. Möllemann und Guido Westerwelle politisch beheimatet. Lindner konnte sie studieren und analysieren, und er hat seine Lehren gezogen. Dass die FDP nie mehr schrill daherkommen darf, ist eine davon.
In Neuss lässt sich beobachten, wie geschickt er im Unscharfen lässt, worum es ihm eigentlich geht. Die Stimmung unter den Delegierten ist aufgeputscht-optimistisch. Lindners Argumentation funktioniert so: Das BND-Gesetz sei falsch, weil es Sicherheit vorgaukele, während die Polizei nicht genug Leute habe, um nach einem Einbruch beim Durchschnittsbürger ordentlich zu ermitteln.
Lindner stoppt kurz bevor er populistisch wird
Oder er kritisiert, dass in Deutschland geradezu Bürokratismus herrsche, während in der Flüchtlingspolitik die Regeln des Rechtsstaats aufgegeben worden seien. Wie immer in seinen Reden greift er die Kanzlerin an, wirft ihr „durchgrünte“ Politik vor, warnt, dass es mit der Wirtschaft längst wieder bergab gehe, präsentiert die FDP als einziges Mittel gegen eine „illiberale Internationale“.
Ohnehin warnt er viel und stoppt verbal immer kurz vor dem Grenzübertritt ins grob Populistische. Dann sagt er Sätze wie: „Es geht nur noch um Flüchtlinge oder Superreiche, die Mitte wird dabei vergessen.“ Lindners Talent dafür, neue Begriffe zu erfinden, hat er mit Westerwelle gemeinsam.
Manche, die früher viel in der FDP zu sagen hatten, kritisieren aber, Lindner gebe kluge Interviews und halte sogar sehr kluge Reden – nur hätten sie eben keine Botschaft. Westerwelle habe dagegen mit den Begriffen bewusst seine Politik definiert. Er war laut, gerade dann, wenn er fürchtete, dass die FDP nicht genug wahrgenommen werde. „Ich werde eine gute Position nicht opfern aus Angst“, entgegnet Lindner, „in aktuellen Debatten nicht sichtbar genug zu sein.“
In NRW, wo er 1979 in Wuppertal geboren wurde, ist er ein Star, anerkannt auch beim politischen Gegner. Das liegt auch daran, dass er nach seinem Rücktritt als Bundes-Generalsekretär Ende 2011 durch die Auflösung des Landtags nach dem Scheitern der rot-grünen Minderheitsregierung unerwartet vor Neuwahlen stand. Lindner schaffte es, die FDP im Landtag zu halten, gewann sogar mehr als zwei Prozentpunkte dazu.
Nach seiner Rede in einem Neusser Hotel setzt Christian Lindner sich sofort hin, signalisiert mit den Händen, der Applaus möge enden. Später, am Rande, sagt er ein wenig verschämt, wie befremdlich er es immer gefunden habe, wenn früher auf Parteitagen die Zeit gestoppt wurde, um zu messen, wie lange der Applaus angehalten hat. Und: „Es hat uns an Zusammenhalt gefehlt.“ Das leicht Schüchterne und die offene Kritik an früheren Verhältnissen in der FDP hört man bei Lindner oft gleichzeitig.
Er war 15, als er in die liberale Schulgruppe eintrat, wurde mit 21 Jahren jüngster Abgeordneter im Landtag und galt als Zögling des legendären FDP-Landeschefs Jürgen W. Möllemann. Diese Version stimmte nie ganz. Möllemann nannte ihn zwar „Bambi“, aber das war ein bisschen verächtlich gemeint, denn der Junge kümmerte sich in der Fraktion um Kitas und Bildung. Als Schüler nannte sich Lindner eine zeitlang dennoch Christian W., er heißt mit Zweitnamen Wolfgang.
Dass er ein politisches Talent ist, deutete sich schon im Juni 2000 an: Damals ist er Delegierter auf dem Bundesparteitag der zerstrittenen FDP in Nürnberg. Es ist der Anfang vom Ende des Parteichefs Wolfgang Gerhardt, den Westerwelle bald ablösen wird. Möllemann will sein Projekt 18 auf Bundesebene durchsetzen. In einem Nebenraum kommt Christian Lindner zu einem Interview gelaufen, schwarzer Anzug, blaues, offenes Hemd, die blonden Haare gegelt. Er sagt Worte, die er bis heute vertritt und die nicht nur im Widerspruch zu Gerhardts Thesen stehen, sondern auch zu seinem aktuellen Parteivize Wolfgang Kubicki. „Ich glaube nicht an bestimmte Zielgruppen, an keine Klientel, ich glaube an Netzwerke, an Projekte, die parteiübergreifend funktionieren können.“
Christian Lindner will nun versuchen, woran Möllemann und Westerwelle scheiterten: die FDP befreien vom Stigma der „Partei der Besserverdiener“. Westerwelle sagte seinerzeit, der Liberalismus sei keine Einkommensklasse, sondern eine Geisteshaltung. Er wollte die FDP für alle Berufsgruppen öffnen, weil er glaubte, dass überall Wähler zu gewinnen seien. Christian Lindner hat ihm damals im Saal dafür applaudiert. Westerwelle aber hat seinen eigenen Anspruch nie eingelöst. Weil er unbedingt regieren wollte, setzte er am Ende alles auf das Thema Steuersenkung.
Kurz vor dem Absturz der Partei, noch im Wahljahr 2009 gab Lindner mit dem späteren Parteichef Philipp Rösler das „Freiheitsbuch“ heraus, indirekte Kritik am Ein-Themenweg von Guido Westerwelle. Lindner attestierte der FDP „argumentative Materialermüdung“. Er wollte ein neues Grundsatzprogramm und versuchte, der Partei seine Begriffe zu diktieren. Mit dem Wort „Fairness“ wollte er in der Debatte um soziale Gerechtigkeit die Deutungshoheit erlangen, sich gegen andere Parteien behaupten.
Früher rechtfertigte sich noch, dass er schnelle Autos liebt
Manche halten Lindner für berechnend, etwa weil er als Generalsekretär, der den Niedergang mitverantwortete, 2011 zurücktrat. Heute sagt Lindner, der Rücktritt sei „Notwehr“ gewesen, weil er nicht mehr loyal zu Parteichef Rösler stehen konnte. Wenn Lindner schwierige Momente erklärt, ist er absolut bei sich, plausibel, wachsam, gelassen. Man spürt dann seinen Drang, Dinge mitbestimmen zu wollen. Den Drang hatten Möllemann und Westerwelle auch, Lindner ist nur viel geschickter. Früher, sagt er, habe er sich gerechtfertigt, dass er schnelle Autos liebe, heute stehe er offen dazu. Man sieht Lindner auf Abendveranstaltungen genauso offen eine teure Uhr tragen oder Zigarre paffen.
Wenn Lindner Zeit hat, wie an diesem Tag kurz vor Weihnachten, diskutiert er gern die Bedeutung von Begriffen. Etwa den der „Fairness“. Es stört ihn, dass in Deutschland soziale Gerechtigkeit immer als Gleichheit definiert werde. Fairness also heiße: „Klare Regeln, ethisches Miteinander, Anerkennung von Leistung, Hilfe für Bedürftige.“ Und er findet, dass Ungleichheit „nicht per se illegitim“ sei. Denn wenn „allen Bürgern faire Chancen eröffnet werden“, wäre sie die Konsequenz individueller Freiheit.
Nach dieser Logik will auch Lindners neue FDP vor allem jene fördern, die etwas leisten. Und deshalb werden im Wahlkampf auch Forderungen nach Steuersenkungen auftauchen.
Hat denn seine FDP auch eine spezifisch soziale Botschaft?
Auf diese Frage sagt Lindner einen Satz, den manche als Drohung empfinden könnten: „Wir glauben an dich, sei stolz auf dich, du schaffst das.“
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