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Ungebrochen. Mahienour el Massry saß nach einer Demonstration selbst in Haft. Ihr rechtes Auge verlor sie bei einem Unfall als Kind.
© Katharina Eglau
Update

Vier Jahre Ägyptische Revolution: Frühlingserstarren

Die Revolution war ihre Hoffnung. Doch Ägyptens Jugend wurde bitter enttäuscht. Am Vorabend des Revolutionstages gab es wieder eine Tote bei Zusammenstößen. Die Anwältin und Aktivistin Mahienour el Massry aber sagt: „Wir waren naiv, aber wir geben nicht auf“.

Trotz vier Monaten im Gefängnis, trotz der Gefahr, jederzeit wieder eingesperrt zu werden, wirkt die junge Anwältin Mahienour el Massry völlig unbeeindruckt. Wenn die bekannteste Aktivistin Alexandrias über die Situation der Demokratiebewegung in Ägypten redet, greift sie gerne zu Metaphern aus dem Boxsport. „Wir haben schwer eingesteckt“, sagt die 29-Jährige. „Eine Runde haben wir verloren, aber nicht den gesamten Kampf.“

Und so ist sie auch vier Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings in Ägypten weiter unterwegs. Mal verteidigt sie inhaftierte junge Muslimbrüder vor Gericht, mal wacht sie in der Polizeistation des Industriehafens Dekheila über syrische Bootsflüchtlinge, die von der Küstenwache verhaftet wurden, damit diese nicht misshandelt oder abgeschoben werden. Mal klettert sie auf schwindelnd hohe Fabrikmauern, wie bei der Arzneifirma „Pharco“, um den für mehr Lohn streikenden Arbeitern auf der anderen Seite Essen herunterzuwerfen. An diesem Vormittag harrt die zierliche Frau, die als Zweijährige ihr rechtes Auge verlor, als sie sich an dem gläsernen Fernsehtisch der Familie verletzte und der Arzt die Operation verpfuschte, zusammen mit einer Handvoll anderer Aktivisten in windiger Kälte bei den Beschäftigten der „Alexandria Textilfaser-Werke“ aus. Alle 400 Angestellten sollen entlassen werden, weil der indische Investor den ehemaligen Staatsbetrieb abreißen und das Grundstück teuer verkaufen will.

Mahie, wie ihre Freunde sie nennen, gehört zu den „Revolutionären Sozialisten“, eine der ganz wenigen säkularen Parteien, die die vom Militär erzwungene Absetzung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 nicht bejubelte, sondern ablehnte.

Ihre Tante, die Kommunistin, ist ihr Vorbild

Ihre Tante Sanaa ist Mahienours Vorbild – aktive Kommunistin und bis zu ihrem Tod 2001 eine Exotin in der ansonsten strenggläubig-islamischen Familie. Mahienours Vater, der 2009 starb, war immer strikt gegen die politische Arbeit seiner ältesten Tochter. Einmal zerrte er sie eigenhändig aus einer Demonstration, so dass ihre Freunde dachten, der wütende Mann gehöre zur Staatssicherheit. Nach dem Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 ging die Tochter zu seinem Grab, wie sie in einer Dokumentation über Frauen im Arabischen Frühling erzählt: „Vater, du hast immer gesagt, die Welt wird sich niemals ändern, es gibt keine Hoffnung, Leiden gehört zum menschlichen Dasein“, sagte sie dem Toten. „Ich wünschte, du wärst hier und könntest sehen, dass die, die du immer Sklaven genannt hast, keine Sklaven mehr sind. Ihr Leben wird besser sein, denn sie haben an ihre Träume geglaubt.“

Heute, im Ägypten von Ex-Feldmarschall Abdel Fattah al Sisi, jedoch dominieren vor allem die Albträume. Mindestens 20 000 politische Gefangene sind inhaftiert, mehr als 1800 Menschen sind nach Sisis Machtübernahme durch Polizeikugeln gestorben – die Hälfte allein am 14. August 2013 auf dem Rabaa-Adawiyya-Platz in Kairo. Dort kam es zu dem schlimmsten Massaker durch Sicherheitskräfte in der modernen Geschichte Ägyptens. Allein im vergangenen Jahr sind nach Zählung von Bürgerrechtlern etwa 100 Menschen in Arrestzellen an Folter gestorben. Andere Verhaftete bleiben für Monate verschwunden, bis sie irgendwann schwer misshandelt wieder auftauchen. In Alexandria sitzen teilweise neunzig Menschen in einer Zelle für zwanzig, darunter 14-Jährige, die ohne jeden Grund festgehalten werden, berichten Davongekommene. In Oberägypten wurden hunderte Angeklagte in bizarren Massenprozessen, die teilweise nur eine halbe Stunde dauerten, zum Tode verurteilt, darunter Teenager, Behinderte und bereits Gestorbene. Und auch am Vorabend des Revolutionstages gab es wieder eine Tote. Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften wurde eine Frau getötet worden. Die Demonstrationsteilnehmerin sei mit Schrotkugeln erschossen worden, berichtete die Tageszeitung „Al-Shorouk“ am Sonntag. Teilnehmer des Protestes würden der Polizei die Schuld am Tod der Frau geben. Das Innenministerium hingegen machte nicht näher definierte „Bewaffnete“ verantwortlich.

Die Terrorgefahr wächst

Parallel wächst die Gefahr von Terroranschlägen. Auf dem Sinai hat sich eine Filiale des „Islamischen Staates“ etabliert, auf der anderen Seite in der Wüste zu Libyen ist die Lage inzwischen so brisant, dass Touristen dort nicht mehr übernachten dürfen. Mit Einbruch der Dunkelheit müssen alle zurück in den Oasenhotels sein. Nahezu 600 Soldaten und Polizisten sind bereits durch Attentäter ums Leben gekommen, auch in der Metro von Kairo wurden mehrfach Bomben gezündet.

Wie die Ägyptische Revolution in Alexandria anfing

Ungebrochen. Mahienour el Massry saß nach einer Demonstration selbst in Haft. Ihr rechtes Auge verlor sie bei einem Unfall als Kind.
Ungebrochen. Mahienour el Massry saß nach einer Demonstration selbst in Haft. Ihr rechtes Auge verlor sie bei einem Unfall als Kind.
© Katharina Eglau

Alexandria ist eine Stadt der Widersprüche – säkular und weltoffen, seit der Antike kosmopolitischer Hafen mit Blick nach Europa, seit zwei Generationen auch Salafistenhochburg mit Blick nach Saudi-Arabien. Alexandria war Schauplatz des bisher einzigen Selbstmordattentats auf Christen in Ägypten am Neujahrstag 2010 mit 23 Toten. Alexandria ist aber auch Heimat koptischer Gemeinden, die anders als ihre Mitgläubigen in Oberägypten, selbst in den gewalttätigsten Zeiten nach Mursis Sturz keine brennenden Kirchen erlebten und nicht unter permanenten Entführungen oder Lösegelderpressungen leiden.

Hier in der Fünf-Millionen-Metropole am Mittelmeer, nicht auf dem weltberühmten Tahrir-Platz in Kairo, begann das Ende von Hosni Mubarak, sieben Monate vor seinem eigentlichen Sturz. Damals, am 6. Juni 2010, prügelten zwei Polizisten in Zivil in einem Internetcafé an der Medhat-Seif-al-Yazal-Khalifa-Straße im Stadtteil Kleopatra den Blogger Khaled Saeed zu Tode. Fotos der übel zugerichteten Leiche zirkulierten tags darauf im Internet. Der Brustkorb war zerquetscht, Schädel und Zähne eingeschlagen, der Kiefer gebrochen, das Gesicht von den Schlägen und Tritten bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Aktivisten in Alexandria begannen, Unterschriften gegen Polizeiwillkür zu sammeln, viele wurden dafür gejagt und zusammengeschlagen. „Wir sind alle Khaled Saeed“, nannte von Dubai aus der ägyptische Computerspezialist und Google-Werbechef, Wael Ghonim, seine neue Facebook-Protestseite, die bald mehr als 150 000 Sympathisanten zählte. Von dort postete Ghonim für den 25. Januar 2011 seinen ersten Demonstrationsaufruf, der Anstoß für den Arabischen Frühling in Ägypten. Das Motto: „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“.

Die einstigen Aktivisten haben sich zerstreut

Heute lebt Wael Ghonim in Abu Dhabi, von Eiferern des Sisi-Regimefernsehens als Vaterlandsverräter geschmäht. Auch die anderen Demokratieaktivisten haben sich zerstreut. Meinungsführer wie Ahmed Maher, Alaa Abd el Fatah und Ahmed Douma sitzen im Gefängnis, während ihre Mitstreiter Ägypten schon verlassen haben oder es wollen. „Wir sind wie die Juden in der Wüste – getrieben von dem Wunsch nach einem besseren Leben“, twitterte ein junger Ingenieur, „nur dass uns ein Moses fehlt, der uns führt.“ Stattdessen tauschen sie über Facebook Tipps und Tricks aus, wie man am besten ins Ausland gehen kann – egal, ob an den Golf, nach Europa, Australien, Kanada oder sogar nach China. Infoseminare westlicher Universitäten erleben einen Bewerberandrang wie nie zuvor. Hauptsache weg aus Ägypten, scheint das Motto des demoralisierten Nachwuchses zu sein. Doch manch einer darf schon nicht mehr aus dem Land, weil fragwürdige politische Ermittlungsverfahren gegen ihn laufen.

Nur einige Aktivisten irrlichtern noch Abend für Abend wie verloren durch die Cafés von Alexandria. Ihr geliebtes Teehaus Wataniyya in der El-Mokkaddan-Straße im Stadtzentrum, wo sie in den euphorischen Monaten nach dem Arabischen Frühling ihr Domizil hatten, haben sie aufgeben müssen. Heute drücken sich zwischen historischen Fotos und verspiegelten Marmorsäulen so viele Geheimpolizisten – Männer, die alleine an den Tischlein mit den knallroten Coca-Cola-Decken sitzen, betont arglos in ihrer Zeitung blättern oder mit ihrem Smartphone spielen –, dass kein offenes Wort mehr möglich ist.

"Entweder wir werden verhaftet, oder landen im Grab"

„Entweder wir werden verhaftet, oder wir landen im Grab“, sagt Safwan in die vierköpfige Runde im „Café de la Paix“, während draußen die Wellen gegen die Promenadenmauer klatschen. Jeder, der Kritik übe oder protestiere, werde als Terrorist oder Muslimbruder denunziert. „Wir sind nur noch Karikaturen unserer selbst“, flachst sein Freund Mohammed. Galgenhumor, den seine Freunde mit dröhnendem Lachen quittieren. Den Muslimbrüdern misstrauen alle am Tisch genauso wie dem Militär. Mursi sei ein Narr gewesen, sagen sie.

Auch von ihrem einstigen Idol Mohamed el Baradei fühlen sie sich im Stich gelassen. Nach seinem kurzen Intermezzo als Post-Mursi-Vizepräsident trat er nach dem Massaker auf dem Rabaa-Adawiyya-Platz zurück und verzog sich mit seiner Frau zum Sabbatjahr an die Tufts-Universität bei Boston. „Er war sehr naiv und hat einfach nicht kapiert, zu was ein Militärregime fähig ist“, sagt Safwan, jahrelang einer der engsten Kontaktleute des Friedensnobelpreisträgers in Alexandria. Seine Solarstrom-Firma hatte ihn im November auf Druck der Staatssicherheit rausgeschmissen. Jetzt sitzt der 32-Jährige tagsüber in seinem Zimmer und büffelt Englisch. Trotzdem hütet Safwan auf seinem Tablet immer noch wie eine Ikone einen Solidaritätstweet Baradeis aus dem Jahr 2010, als er unter Mubarak im Knast saß: „Eines Tages wird alles besser – dieses inhumane System mag unsere Vergangenheit und Gegenwart sein, aber niemals unsere Zukunft.“ Tröstende Worte eines ehemaligen Vorbilds, die heute schal und geradezu irreal wirken.

Wie die Aktivisten jetzt neu anfangen wollen

Ungebrochen. Mahienour el Massry saß nach einer Demonstration selbst in Haft. Ihr rechtes Auge verlor sie bei einem Unfall als Kind.
Ungebrochen. Mahienour el Massry saß nach einer Demonstration selbst in Haft. Ihr rechtes Auge verlor sie bei einem Unfall als Kind.
© Katharina Eglau

Denn für den Nachwuchs sind alle Wege in die Politik blockiert, während die neuen, alten Mächtigen sämtliche internationale Kritik an ihrem Regime mit wulstiger Rhetorik an sich abperlen lassen. Die meisten Parteien sind leere Hülsen, politische Versammlungen sind praktisch unmöglich. Die Teilnahme an einer Demonstration wie die gegen das Urteil zu den beiden Mörder von Khaled Saeed kann wegen des rigiden Gesetzes schnell im Gefängnis enden. Mahienour el Massry hat es erlebt. Sie wurde angeklagt und verurteilt nach einer Demonstration im Dezember 2013. Mit anderen hatte sie dagegen protestiert, dass zwei Polizisten nur wegen Totschlags zu zehn Jahren verurteilt wurden.

„Die Haft war weniger schlimm, als ich es mir vorher ausgemalt habe“, sagt Mahienour el Massry. Doch sie hatte auch Glück. In dem überfüllten Damanhour-Frauengefängnis fand sich keine freie Zelle, in die man sie als einzige politische Gefangene in Isolationshaft hätte sperren können. Und so ließen die Wächterinnen sie als Jüngste bei ihren Mitgefangenen, die sie mütterlich umsorgten. In Block 1 sitzen nur Frauen, die Kredite nicht zurückzahlen konnten oder faule Schecks ausstellten.

Der Rückfall in die Diktatur hat selbstkritische Reflexe ausgelöst

Ägyptens Rückfall in die Diktatur hat aber auch eine selbstkritische, politische Gewissenserforschung ausgelöst. „Wir haben naiv geglaubt, wir sind die Sieger und haben jetzt die Oberhand“, erinnert sich Mahienour el Massry an die Euphorie der ersten post-revolutionären Monate. „Heute müssen wir ganz neu nachdenken – es wird nicht reichen, einfach weiter zu demonstrieren“, fügt sie ohne Bitterkeit hinzu. Sie weiß, dass ein Großteil der Bevölkerung nach vier Jahren Tumult und wirtschaftlichem Niedergang frustriert ist. Die Menschen sind ausgelaugt und erschöpft. Trotzdem ist sie absolut sicher, dass sich ihre Generation eine zweite Chance auf ein neues, freies und demokratisches Ägypten erstreiten wird. Besser vorbereitet, weniger Aktivisten-Elfenbeinturm, mehr Basisarbeit in den Armenvierteln und vor allem weniger Chaos. Das Auftreten des „Islamischen Kalifates“ habe alle Reformer aufgerüttelt, sagt sie. Jeder habe die tägliche, apokalyptische Bilderflut aus Syrien und Irak vor Augen. „Unsere tiefste Angst ist der Bürgerkrieg“, sagt die Aktivistin. „IS ist eine wirkliche Bedrohung für uns und unsere Revolution.“

Draußen am Saad-Zaghloul-Platz rumpelt quietschend eine hell erleuchtete Straßenbahn vorbei. Auf den ausgefahrenen Gleisen schafft sie kaum noch mehr als Schritttempo. Den 25. Januar 2011 empfindet Mahienour el Massry als einen Tag, der irgendwie bereits Vergangenheit ist. Den kommenden Sonntag, den vierten Jahrestag des Arabischen Frühlings, will sie daher still vorüberziehen lassen. „Trotzdem, wir wollen weiterkämpfen, das macht uns zu Menschen.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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