Freispruch in Ägypten: Gericht: Mubarak nicht für Tod von 800 Demonstranten verantwortlich
Das Strafgericht in Kairo lässt die Anklage gegen den Ex-Präsidenten Mubarak fallen. Ist Ägypten auf dem Weg in eine neue Militärdiktatur? Die Polizei ging mit Gewalt gegen Anti-Mubarak-Proteste vor.
Am Ende seines 30-minütigen Monologs war es ein einziges Wort, mit dem Richter Mahmud Kamel al Rashidi am Samstag den spektakulären juristischen Schlussstrich unter Ägyptens Arabischen Frühling zog. „Unschuldig“ verkündete der 63-Jährige live im Fernsehen, im Namen des Volkes und mit flackerndem Grinsen als Urteil im Prozess über den früheren Diktator Hosni Mubarak, dessen Söhne Gamal und Alaa, den damaligen Innenminister, Habib Adly, sowie sechs hohe Polizeigeneräle. Mubarak, Adly und die Offiziere waren angeklagt wegen Mordes und Beihilfe zum Mord an 900 Demonstranten. Mubarak und seine Söhne mussten sich darüber hinaus wegen eines umstrittenen Gasliefervertrages mit Israel verantworten. Eine Begründung für den Freispruch gab Richter al Rashidi nicht, erklärte lediglich, das 1430 Seiten lange Urteil würde den Prozessbeteiligten und der Presse per CD zur Verfügung gestellt.
Im Strafgerichtssaal brach Jubel aus, die Angeklagten im Gitterkäfig lagen sich in den Armen. Selbst Hosni Mubaraks Miene, der wie gewöhnlich steif auf einer Bahre liegend dem Geschehen folgte, hellt sich für einen Moment auf. Bereits in den nächsten Tagen oder Wochen könnte der 86-Jährige auf freien Fuß kommen. Draußen auf dem Vorplatz der Kairoer Polizeiakademie, in dessen Hörsaal der Prozess stattfand, feierten eine Handvoll Getreuer mit ägyptischen Nationalflaggen ihren Ex-Potentaten.
Nach der Einstellung des Prozesses sind ägyptische Sicherheitskräfte in Kairo mit Gewalt gegen Proteste von Gegnern des früheren Staatschefs vorgegangen. Dabei hätten sie in der Nähe des Tahrir-Platzes Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt, berichtete die ägyptische Internetseite Al-Masry al-Youm am Samstagabend. Dutzende seien festgenommen worden. Sicherheitskräfte hätten die Mubarak-Gegner gejagt, hieß es weiter. Der Tahrir-Platz selbst war zuvor abgeriegelt worden. Er war im Frühjahr 2011 das Zentrum von Massenprotesten, die zum Rücktritt Mubaraks führten.
Drei von vier Strafverfahren gegen Mubarak endeten mit Freisprüchen
Während der 18-tägigen Revolution gegen Hosni Mubarak im Januar und Februar 2011 waren nach unabhängigen Untersuchungen über 900 Menschen getötet und 6000 verletzt worden, die meisten durch Polizeikugeln. Mubarak war angeklagt worden, den Schusswaffeneinsatz gegen die Demonstranten angeordnet oder zumindest gebilligt zu haben. Im Juni 2012 hatte ein Kairoer Gericht ihn in einem ersten Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine Berufungskammer jedoch ordnete eine Neuverhandlung an, die im April 2013 begann.
Insgesamt hatte die ägyptische Justiz nach dem Arabischen Frühling vier Strafverfahren gegen den Ex-Diktator angestrengt, von denen drei mit Freisprüchen endeten. Lediglich in einem Prozess, bei dem es um 12,5 Millionen Euro veruntreute Steuergelder beim Ausbau von Mubaraks privaten Residenzen ging, bekam der Angeklagte drei Jahre. Die Staatsanwaltschaft will nun in den nächsten Tagen prüfen, ob diese Strafe mit der Untersuchungshaft bereits vollständig verbüßt ist oder nicht. Zunächst jedoch wurde der Ex-Staatschef am Samstag mit einem Hubschrauber wieder in das Militärkrankenhaus von Maadi zurückgeflogen, wo er unter Arrest steht. Auch Ex-Innenminister Adly bleibt weiter in Haft. Er war im Mai 2011 wegen Korruption und Geldwäsche zu zwölf Jahren verurteilt worden, für diesen Prozess hat das Kassationsgericht ebenfalls eine Neuverhandlung angeordnet.
Das Urteil ist auch ein Signal an die Polizei und den Präsidenten
Der Freispruch dürfte den jetzigen Weg Ägyptens in eine verkappte Militärdiktatur weiter beschleunigen. Denn das Urteil ist auch ein Signal an die Polizei und die jetzige Führung unter Präsident Abdel Fattah al-Sissi, dass sie nicht fürchten müssen, eines Tages für ihre Verbrechen gegen Oppositionelle, Demonstranten oder Gefangene zur Rechenschaft gezogen zu werden. Allein bei der gewaltsamen Räumung der Protestlager der Muslimbrüder in Rabaa Adawiyya und in Dokki nahe der Kairoer Universität wurden an einem Tag nahezu tausend Menschen erschossen, dass blutigste Massaker von Sicherheitskräften an der Zivilbevölkerung in der Geschichte Ägyptens. Über 20.000 Menschen sind seit dem Sturz von Mohammed Mursi verhaftet worden, etwa 60 Menschen bisher im Polizeigewahrsam gestorben. Folter in den Gefängnissen ist – wie zu Zeiten Mubaraks – wieder übliche Praxis
Martin Gehlen