Wie Trump Gewalt den Boden bereitet: Folgt auf die US-Wahlschlacht der Kampf auf der Straße?
Donald Trump spricht von Wahlbetrug – und stachelt damit seine Anhänger auf. In Pennsylvania lässt sich beobachten, wie gefährlich das werden kann.
Die Stimme von Lisa Deeley hallt unwirklich durch die riesige Halle E im zweiten Stock des Kongresszentrums in der Innenstadt von Philadelphia. „Würden die Wahlhelfer bitte aufstehen und ihre rechte Hand heben.“ Deeley ist die Stadtdirektorin, die gleichzeitig dem Board of Elections vorsteht, dem Wahlgremium der Stadt. Jenes Gremium, auf das in diesen Tagen das ganze Land schaut. Und Trumps Anhänger: mit Verachtung.
Einige Männer und Frauen stehen auf, manche tragen gelbe Warnwesten und heben die Hand zum Schwur. „Schwören Sie feierlich”, sagt Deeley, „dass Sie Ihre Plichten bei der Unterstützung des Öffnens und der Zählung der Stimmen, die bei der allgemeinen und speziellen Wahl, die am Dienstag, den 3. November 2020 abgehalten wurde, gemäß den Regeln des Wahlgesetzes von Pennsylvania von 1937 ausüben werden?“ Die Männer und Frauen murmeln und nicken.
Die feierliche Zeremonie steht im krassen Gegensatz zu den Tiraden, die der Präsident in der Nacht zuvor gegen die Wahlhelfer in Philadelphia abgefeuert hat. Donnerstagabend 18.30 Uhr amerikanischer Zeit, ist Donald Trump vor die Presse getreten – nachdem er einen ganzen Tag lang nicht zu sehen gewesen war. Seine Ansprache werden US-amerikanische Faktenprüfer später als die mit der höchsten Lügenfrequenz seiner gesamten Amtszeit werten. Er wiederholt den Vorwurf des Wahlbetrugs, für den es überhaupt keine Beweise gibt. Und sagt: „Detroit und Philadelphia sind zwei der korruptesten Orte im ganzen Land.“
Im Erdgeschoss, unter Halle E, wo die Wahlhelfer soeben eingeschworen wurden, ist der Ort, an dem entschieden werden könnte, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird – und hier kulminieren auch all die Konflikte, all die Politik, das Engagement, die Angst und das Misstrauen, das die Auszählung der letzten Tage begleitet hat. Hier werden die Stimmen ausgezählt.
„Sie haben unsere Wahlbeobachter nicht zugelassen“, sagte Trump in seiner Ansprache – damit spielt er auf mehrere Rechtsstreitigkeiten in Zusammenhang mit der Wahl an.
Schon vor dem Wahltag wollten die Republikaner Beobachter auch in jene provisorischen Verwaltungsstellen schicken, in denen die Bürger von Philadelphia ihre Briefwahlunterlagen abholen und einreichen konnten. Die Stadt lehnte das ab. Ein Gericht bestätigte die Entscheidung. In dieser Woche klagte Trumps Team darauf, dass Wahlbeobachter noch näher an die Auszählenden im Kongresszentrum herandürften. Auch das lehnte die Stadt ab, auch das wurde gerichtlich bestätigt. Dem Präsidenten scheint das egal. „Die Leute, die das beobachten sollten, werden jetzt langsam wütend“, sagt er. „Sie werden langsam gewalttätig.“
[Alle Entwicklungen: Unser Liveblog]
Immer wieder hat Trump vor der Wahl und in dieser Woche Andeutungen gemacht, es könne zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen. Dabei stand die Stadt Philadelphia im Fokus. Trumps Team konnte vermuten, dass die Wahl hier in Pennsylvania und nicht zuletzt in der Stadt Philadelphia entschieden werden würde. Der Staat Pennsylvania ist überwiegend ländlich und von ehemaligen Industrieregionen und der Frackingindustrie geprägt. Diese Landesteile wählen republikanisch. Aber die Großstädte Philadelphia und Pittsburgh mit ihren Vororten sorgten schon in der Vergangenheit dafür, dass die Demokraten in Führung gehen.
Schon im ersten Fernsehduell im Oktober hatte Trump deshalb Philadelphia erwähnt und behauptet: „bad things are happening in Philadelphia“, hier passierten „schlimme Dinge“. Er hatte die rechtsextreme Gruppierung „Proud Boys“ aufgerufen: „Stand back and stand by“ – haltet euch zurück und haltet euch bereit.
In der Nacht nach Trumps Auftritt machten sich dann tatsächlich zwei bewaffnete Männer aus Virginia in einem silbernen Hummer-Geländewagen auf den Weg nach Philadelphia. Nach Angaben der Polizei bekamen die Behörden einen Hinweis. Gegen zehn Uhr abends fanden sie den Wagen in der Innenstadt – leer. Kurz darauf trafen Fahrradpolizisten auf die beiden bewaffneten Männer und nahmen sie fest. In Pennsylvania ist es erlaubt, Waffen offen zu tragen – in Philadelphia allerdings nur mit einem gesonderten Waffenschein. Keiner der Männer hatte einen solchen.
In der Nacht bleibt es ansonsten am Kongresszentrum friedlich. Demonstranten beider Seiten haben sich versammelt. Die Versammlung vor dem Convention Center ist eine Mischung aus Party und Demonstration, die Stimmung gereizt und fröhlich gleichzeitig. Auf der Straße wird laute Musik gespielt, die Menschen tanzen – bis in die Morgenstunden und dann ab dem späten Freitagvormittag wieder. Niemand hält den Abstand von zwei Metern ein, der eigentlich in der Stadt gilt. Viele halten Schilder hoch auf denen steht: „Count every vote“ – zählt jede Stimme.
Stadtdirektorin Lisa Deeley hat geschworen, genau das zu tun.
[Mit dem Newsletter „Twenty/Twenty“ begleiten unsere US-Experten Sie durch Präsidentschaftswahl. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung: tagesspiegel.de/twentytwenty. ]
Es sind lange Tage und Nächte für sie und ihren Kollegen, Stadtdirektor Al Schmidt, ein Endvierziger mit österreichischen Wurzeln. Er nimmt sich dennoch einen Moment Zeit, um mit Reportern zu sprechen.
Es ist kurz nach neun Uhr Ortszeit am Freitag und die Stadt hat soeben das Auszählungsergebnis eines Schwungs von 30.000 Stimmen veröffentlicht. Die CNN-Reporterin, die auf dem Bürgersteig vor der Halle hinter einem kleinen Pult steht, schaltet live ins Studio und auf Millionen amerikanischer Bildschirme: Die neuen Zahlen aus Philadelphia bringen Joe Biden im Staat Pennsylvania in Führung und damit über die 270 benötigten Wahlmännerstimmen, die er braucht, um die US-Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Das Ende der Ära Trump scheint zum Greifen nah.
Noch 40.000 Stimmen seien übrig, sagt Al Schmidt, davon 15.000 bis 20.000, die gesondert geprüft werden müssen, weil etwa die Briefwahlumschläge beschädigt sind oder es Zweifel an der Identität der Wähler gab. „Ich glaube nicht, dass wir die noch schaffen“, sagt Schmidt. „Und jetzt muss leider ich runter“, sagt er. Dann ist er weg.
Je länger die Auszählung andauert, desto größer die Gefahr, dass es zu Protesten auf der Straße kommt. Massenproteste sind bislang ausgeblieben, die meisten Demonstrationen blieben klein und friedlich. In Washington D.C., Los Angeles und New York gingen in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag kleinere Gruppen von Menschen auf die Straße, diese Demonstrationen blieben weitgehend friedlich.
Am angespanntesten ist die Lage in Portland, wo seit der Tötung des Afroamerikaner George Floyd durch einen Polizisten in Minneapolis immer wieder gewaltsame Proteste ausgebrochen sind, bei denen im Sommer auch ein Angehöriger eine Trump-nahe rechten Gruppierung getötet wurde. Auch in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag kam es in Portland wieder zu Ausschreitungen. Elf Personen wurden verhaftet. Reporter berichten von Bewaffneten in der Stadt – auf der Seite linker Protestierender. Der Gouverneur hat die Nationalgarde des Staates in Bereitschaft versetzt.
In Philadelphia, auf der anderen Straßenseite vor dem Kongresszentrum, in dem die Wahlhelfer arbeiten, beginnen zwei Männer, einander anzuschreien: „Fuck you“, „You are a traitor.“ Einer von ihnen ist Thomas Turner, er ist Soldat „seit 20 Jahren, zwei Mal im Irak eingesetzt“, sagt er. Er stellt sich zu den Trump-Demonstranten.
Er sei hier, sagt er, um für eine faire Wahl zu demonstrieren. Er empört sich, dass Beobachter der Trump-Kampagne nicht näher an die Auszählenden herangelassen werden – das hatte Trumps Team am Nachmittag beantragt, die Stadt hatte abgelehnt.
Er sei bereit, Biden als Präsident zu akzeptieren, sagt er. „Aber nur, wenn der Wahlablauf in Ordnung ist.“ Und: „Das hier ist kompletter Betrug.“
Josh Silver versucht, auf die Trump-Leute zuzugehen. Er lebt in Philadelphia, arbeite in der Tourismusbranche, er sagt, er sei seit Jahrzehnten Teil „linker Bewegungen“. Jetzt unterhält er sich mit einem Mann mit „Make America great again“-Mütze, der ein Bier in der Hand hält.
Danach sagt Josh Silver: „Es gibt einen Mangel an Liebe. Mir ist wichtig, dass wir im Gespräch bleiben.“ Er sagt aber auch: „Gegen diese Leute hier wird Biden vier Jahre lang kämpfen müssen. Das wird kein Vergnügen, mit diesen Leuten im Land zu regieren.“