Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren: Die Dämonen sind längst nicht gebannt
75 Jahre nach dem Holocaust „explodiert“ der Antisemitismus. Wir müssen Gesicht zeigen. Das ist Deutschland der Zukunft schuldig. Ein Kommentar.
Die ganze Welt hätte es wissen können. Die Alliierten haben es gewusst. Sie hatten die Berichte, hatten Augenzeugen, hatten alles, was nötig war. Und sie haben sogar eine Erklärung verabschiedet, am 17. Dezember 1942, in der die bestialische, kaltblütige Politik der Nazis zur Auslöschung jüdischen Lebens verurteilt wird. Aber befreit wurde Auschwitz erst 1945, am 27. Januar.
75 Jahre ist das her. Schon. Erst. Ein Wimpernschlag in der Geschichte. Jedes Jahr ist das Gedenken eine Herausforderung, eine Aufforderung, doch in diesem Jahr ganz besonders. Und es wird von jetzt an mit jedem Jahr noch herausfordernder werden.
Wie erzählt Naftali Fürst, einer der Holocaust-Überlebenden? „Jeden Tag sterben 40 Überlebende.“ Deshalb erhebt er seit Jahren seine Stimme. Auch auf Deutsch. In der Sprache der Täter. Sein Überleben – ein Triumph über die Unmenschen. Möchte man denken. Bis Fürst sagt: „Je mehr ich davon erzähle, desto mehr Antisemiten kommen.“
Die Dämonen sind längst nicht gebannt. Warum reist der Bundespräsident nach Yad Vashem, der nationalen Gedenkstätte des Staates Israel? Um sich dort mit vielen seiner Kollegen aus aller Welt zu einer Konferenz gegen den Antisemitismus zu treffen.
Um dort darüber und mit ihnen zu reden, wie aus Worten Taten werden; Taten, die endlich von Dauer sind, länger wirken, mehr als von Jahr zu Jahr, bis dann doch nur wieder Worte kommen.
Das Mitgefühl schwindet
Als wäre es eine unlösbare Aufgabe. Als würde der Hass auf Juden nie gebannt werden. Als hörte das nie auf, dass in der Welt, in der wir heute leben, Juden immer noch dämonisiert, ihre Anliegen delegitimiert, ihr Verhalten mit doppelten Standards belegt werden.
So sehr, wie sie gelitten haben – das Mitgefühl wird rarer von Jahr zu Jahr. Dazu dieser Neid: Was haben sie nicht alles erreicht! Und der Staat Israel: Ist er nicht erfolgreich? Mächtig? Wehrhaft? Ja, wozu brauchen sie dann unser Mitgefühl, die Juden?
Alles das, was ein Glücksfall der Geschichte ist, das Überleben des Jüdischen in Deutschland und der Welt, läuft Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Gegen sie. Und da helfen dann keine Fensterreden, so gut sie gemeint sind. Dagegen muss etwas gesetzt werden. Nennen wir es: Aktion als Reaktion. Weil der Antisemitismus „explodiert“, wie Abraham Lehrer vom Zentralrat sagt.
Zu vielen sind Juden fremd
Ein „Aktionsjahr“ soll darum jüdisches Leben sichtbarer machen. Richtig so! Zu vielen sind Juden fremd. Unwissenheit, Desinteresse, Vorbehalte, Anfeindungen, Verschwörungstheorien – und das alles „salonfähig“. Immer mehr jüdische Deutsche fragen sich, ob sie hier auf Dauer sicher leben können, oder ob sie „wieder ihre Koffer packen müssen“. Weil die Gesellschaft verroht und sich in Rohheit über Deutschland hinaus vernetzt.
Das Aktionsjahr soll 2021 stattfinden. Richtig – und falsch. Es muss vielmehr, von jetzt an, jedes Jahr jüdisches Leben sichtbarer werden. Umso sichtbarer, je weniger Menschen noch leben, die der Shoah entronnen sind.
Da ist es wichtig, dass sich die Staatschefs in Yad Vashem, genau an diesem Ort, verbinden und der gemeinsamen Aufgabe vergewissern. Solidarität ist mehr als ein Wort. Solidarität hat ein Gesicht. Zum Beispiel das von Naftali Fürst. Auch wir müssen Gesicht zeigen. Das ist Deutschland der Zukunft schuldig.