Einschläfern oder nicht?: Ein Hund fürs Leben
Das Tier leidet, es ist sofort einzuschläfern, sagt das Bezirksamt in Berlin-Pankow. Nein, sagt seine Besitzerin, es ist einfach nur alt. Schenkt ihm doch noch die paar letzten Wochen!
Als die Türglocke schrillt, schon zum zweiten Mal an diesem Augusttag, verstummt in einer Dreizimmerwohnung in Berlin-Prenzlauer Berg jedes Gespräch. Die Erwachsenen tauschen panische Blicke aus, ein dreijähriges Kind erstarrt. Ruhig bleibt nur einer. Ironischerweise ist es der, für den die Glocke schrillt: Borges, der Hund.
Der Hund gehört Elena Kasiyanova, und er ist alt. Wie alt genau, kann Frau Kasiyanova nicht sagen. 17 Jahre ist es her, dass sie ihn halb verhungert vor einer Moskauer McDonald’s-Filiale auflas, da war er noch ein Welpe, wahrscheinlich kein Jahr alt. Frau Kasiyanova nahm den Findling zu sich und päppelte ihn auf. Der Hund kam zu Kräften, auch wenn er immer recht dünn blieb, weshalb Frau Kasiyanova vermutet, dass in dem Collie-Mischling ein Anteil von Windhund steckt. Sie benannte Borges nach ihrem Lieblingsschriftsteller, dem Argentinier Jorge Luis Borges.
Als Frau Kasiyanova, die inzwischen Mitte 40 ist, ein paar Jahre später nach Berlin übersiedelte, zog Borges, der Hund, mit ihr um. Er lebte ein langes, ein ungewöhnlich langes Hundeleben, das nun erkennbar seinem Ende zugeht. Borges hört nicht mehr gut, er sieht nicht mehr viel, und er ist mager geworden, magerer als jeder Windhund. Er bekommt Herz- und Schmerzmittel, seine Zähne sind in schlechtem Zustand, den größten Teil des Tages verbringt er schlafend. Aufstehen kann er manchmal aus eigener Kraft, manchmal muss man ihm auf die Beine helfen. Wenn er steht, weiß er nicht immer genau, wo er ist, es kommt vor, dass er in eine Zimmerecke läuft und den Rückweg nicht findet. Manchmal kann er das Wasser nicht bis zum Gassigehen halten, in der Wohnung trägt er deshalb eine Windel. Draußen im Hof läuft er noch täglich ein paar Runden, auf unsicheren Beinen zwar, aber er läuft. Hat er sein Geschäft erledigt, trägt Frau Kasiyanova ihn zurück in den dritten Stock, die Treppen schafft Borges nicht mehr.
Eines Tages, etwa zwei Wochen ist es her, stieg Frau Kasiyanova die Treppen hinab, mit dem Hund in den Armen. Auf halber Strecke begegnete sie einem Nachbarn, der offenbar neu eingezogen war, Frau Kasiyanova kannte ihn nicht. Barsch richtete der Mann einen Finger auf Borges, er fragte: „Warum muss der Hund getragen werden?“ Frau Kasiyanova sah dem Nachbarn überrascht in die Augen. „Weil er alt ist“, antwortete sie. Weiter fielen keine Worte.
Wenig später, es war der 20. August, ein Mittwoch, fand Frau Kasiyanova in ihrem Briefkasten ein Schreiben des Bezirksamts Pankow vor, Abteilung Veterinär- und Lebensmittelaufsicht. Man habe sie persönlich nicht angetroffen, schrieben die Beamten, Frau Kasiyanova möge bitte einen Termin für eine erneute Visite ausmachen, es gehe um ihren Hund.
Bereits am Tag darauf ließ Frau Kasiyanova zwei Amtsärzte in ihre Wohnung. Die beiden besahen und betasteten Borges eine Weile. Der Hund, erklärten sie dann, sei einzuschläfern, unverzüglich, man werde ihn am besten gleich mitnehmen.
Es kam zur Auseinandersetzung, Tränen flossen
Frau Kasiyanova, die nicht recht wusste, wie ihr geschah, widersprach. Es kam zu einer Auseinandersetzung, Tränen flossen. Sie sei als „selbstsüchtig“ beschimpft worden, sagt Frau Kasiyanova, einer der Ärzte habe ihr vorgeworfen, sie tue ihrem Hund „Schreckliches“ an, das Tier könne ja nicht einmal mehr stehen. Doch, widersprach Frau Kasiyanova. Borges, flüsterte sie, diese Menschen wollen dich töten, bitte zeig ihnen, dass du aufstehen kannst! Als Borges mühsam auf die Beine kam, waren die Beamten bereits auf dem Weg zur Tür. Bevor sie gingen, wiesen sie Frau Kasiyanova an, den Hund bis spätestens zwölf Uhr des Folgetages einem Tierarzt ihrer Wahl vorzuführen, das Amt sei über die erfolgte Einschläferung zu informieren.
Die Tierärztin, an die sich Frau Kasiyanova wandte, kam am nächsten Tag in die Wohnung. Sie untersuchte Borges – und gelangte zu einem anderen Schluss als die Amtsärzte. Der Hund, schrieb sie in ihrem Gutachten, befinde sich „in der letzten Lebensphase, je nach Definition kann man auch von der Sterbephase sprechen“. Die Besitzerin habe sich „bewusst für Sterbebegleitung entschieden, sich zu dem Thema belesen, sich heute erneut von mir beraten lassen. Ich akzeptiere diese Entscheidung.“
Frau Kasiyanova atmete auf. Doch die Erleichterung währte nicht lange. Er habe, erklärte ihr noch am selben Tag in einem Telefongespräch der Arzt der Veterinärbehörde, keine Begutachtung des Hundes angeordnet, sondern dessen sofortige Einschläferung. Wenn die Tierärztin dem nicht nachkomme, werde er den Hund eben selbst abholen.
Das war am Samstag vor einer Woche. Seitdem sitzt Frau Kasiyanova in ihrer Wohnung und zuckt zusammen, sobald die Türglocke schrillt. Mindestens zweimal standen im Lauf der Woche die Beamten vor der Wohnungstür, Frau Kasiyanova öffnete nicht. Wenn sie nun mit Borges in den Hof geht, halten Freunde vor dem Haus Wache, um sie vor dem Kleinbus der Veterinärbehörde zu warnen. „Ich fühle mich wie in einem schlechten Agentenfilm“, sagt Frau Kasiyanova.
Das deutsche Tierschutzgesetz, Paragraf 1, besagt: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Wie mit einem sterbenden Tier zu verfahren ist, schreibt das Gesetz jedoch nicht vor. Es legt fest, unter welchen Umständen die Tötung eines Tieres verboten ist, nicht aber, wann sie angebracht oder notwendig wäre.
Wer mit Tierärzten über die Frage spricht, bekommt Unterschiedliches zu hören. Manche plädieren früher für Einschläferung, andere später. Manche erzählen von Hunde- und Katzenhaltern, denen ihre altersschwachen Tiere lästig fallen, und von dem quälenden Gefühl, ein Tier zu früh eingeschläfert zu haben, nur weil der Halter darauf gedrängt hat. Behördenmitarbeiter, sagen solche Ärzte, führen Einschläferungen selten persönlich durch, die müssen sich mit solchen Gefühlen nicht herumschlagen.
"Im Zweifel entscheidet der Amtsarzt"
Lutz Zengerling, Abteilungsleiter bei der Veterinäraufsicht Pankow und der direkte Vorgesetzte der beiden mit dem Fall betrauten Amtsärzte, verweist auf das Tierschutzgesetz, um das Vorgehen seiner Behörde zu begründen. „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Leiden zufügen“, sagt er, „und der Sterbeprozess ist nun mal mit Leiden verbunden.“ Verständigt worden sei das Amt aufgrund einer polizeilichen Anzeige, sagt Zengerling, der sich nicht daran erinnern kann, schon einmal mit einem ähnlichen Fall zu tun gehabt zu haben. Das Gegengutachten der Tierärztin tut er als „Einzelmeinung“ ab. Er räumt zwar ein, dass Veterinärmediziner mangels festgelegter Kriterien zur Einschläferung durchaus zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen können. „Aber die Rechtsprechung sagt nun mal, dass im Zweifel der Amtsarzt entscheidet.“
Borges, der Hund, wird bald sterben. Man könnte den Weg abkürzen. Viele würden es tun, auch Frau Kasiyanova hat oft darüber nachgedacht. Aber ist es angebracht, ist es notwendig?
Borges ist gebrechlich, gewiss, aber ist sein Leiden so groß, dass man ihn erlösen müsste? Akute Schmerzen sind ihm nicht anzumerken. Wenn vertraute Stimmen mit ihm sprechen, hebt er den Kopf, in seinen Augen ist Freude, wenn auch matte. Bei seinen Runden im Hof stöbert er nach Duftmarken anderer Hunde, um seine eigenen danebenzusetzen. Wenn er schläft, scheint er von besseren Tagen zu träumen, er verfällt dann, auf der Seite liegend, in lustvolles Beingestrampel, als renne er aus voller Kraft, was ihm im echten Leben nicht mehr möglich ist.
Borges ist, das macht die Sache noch schwerer, nicht plötzlich alt geworden, sondern sehr allmählich. Seit gut zwei Jahren baut er körperlich ab, langsam, Schritt für Schritt. Soll man, muss man diesem Altern ein Ende setzen, bevor es an sein natürliches Ende kommt? Und soll den Zeitpunkt dafür ein fremder Nachbar bestimmen, ein verständigter Polizeibeamter, eine Behörde?
Elena Kasiyanova will sich lieber an die Kriterien halten, die ihr die Tierärztin mit auf den Weg gegeben hat: Wenn Borges erkennbar Todesschmerzen erleide, geäußert durch Muskelkrämpfe oder Atemnot, wenn er nicht mehr selbstständig fresse, wenn er zur Begrüßung den Kopf nicht mehr hebe, nicht mehr am Familienleben teilnehme, das Interesse an seiner Umgebung verliere – dann sei es Zeit.
Die "Euthanasie des Tieres" wurde erneut angeordnet
Bis dahin werden Elena Kasiyanova und ihre Freunde Wache schieben und beim Schrillen der Türglocke zusammenzucken, verstrickt schon jetzt in ein juristisches Gewirr aus Anwaltsschreiben und Widerspruchsbekundungen und Eilanträgen. Am Freitag hat die Veterinäraufsicht ihre Anordnung zur „Euthanasie des Tieres“ erneuert, diesmal unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 1000 Euro. Entschieden wird die Angelegenheit nun voraussichtlich vor dem Amtsgericht. Wenn Borges Glück hat, stirbt er vorher.
Die Tierärztin, die Borges nach den Behördenmitarbeitern untersuchte, schrieb in ihrem Gutachten: „Der Wunsch, seinem Tier einen natürlichen Tod zu gewähren und es dabei zu begleiten, wird immer öfter in der alltäglichen Praxis kommuniziert.“ Langfristig, fügt sie hinzu, „werden wir Tierärzte uns dem Thema stellen müssen“.
Ein Freund von Elena Kasiyanova, der mit Borges gelegentlich spazieren geht, erzählt, er sei auf der Straße mehr als einmal von anderen Hundebesitzern angesprochen worden, die ihm barsch befahlen, den alten Hund gefälligst töten zu lassen. „Ich hatte das Gefühl“, sagt der Freund, „dass die meisten dieser Leute selbst schon mal ein Tier einschläfern lassen haben, und um die Entscheidung vor sich zu rechtfertigen, wollen sie nun, dass es jeder andere auch so hält.“
Elena Kasiyanova denkt manchmal an den Tag, an dem sie Borges fand, in Moskau, vor 17 Jahren. Lass doch den Hund, sagten Passanten, der ist doch schon halb tot.
Borges, der Hund, schweigt. Bellen kann er schon eine ganze Weile nicht mehr, nur im Traum lässt er manchmal genießerisch das Maul auf und zu schnappen, als schwelge er in der Erinnerung an sein eigenes Bellen.
Borges, der Schriftsteller, schrieb dies: „Alle Kreaturen, mit Ausnahme des Menschen, sind unsterblich, denn sie wissen nichts vom Tod.“