Finale von DSDS: Dieter Bohlen hat den Basic Instinct
Heute steigt das Finale der elften Staffel von "Deutschland sucht den Superstar". Gefunden wurde bislang nur ein einziger Star: Dieter Bohlen.
Kurz nach Mitternacht hockt Yasemin Kocak auf ihrem Stuhl, oben in der Büroetage im dritten Stock, dort, wo die Kandidaten jeden Samstagnachmittag vor der Sendung aufwendig geschminkt werden und nach Show-Ende ihr Weiterkommen feiern. Oder, wie jetzt Yasemin Kocak, ihr Aus verkraften müssen. Dabei hatte sie der Juror, Rapper Kay One, doch vorhin noch angegrinst und ihr bestätigt: „Du hast alles, was man als Popstar braucht – Titten, Arsch und Stimme.“
Ist das nicht unangenehm, wenn einem in der Livesendung vor Millionenpublikum Titten- und Arschqualitäten attestiert werden, Frau Kocak?
„Kommt drauf an“, sagt sie. „Die Yasemin, die ich letztes Jahr noch war, die hätte gedacht: Was für ein sexistischer Idiot!“ Aber nun, nach all dem Vorsingen, nach Casting und Recall, nach dem Workshop auf Kuba und anschließend vier Entscheidungsshows, da wisse sie derartige Bemerkungen richtig einzuordnen. „Er wollte halt sagen, dass ich einen schönen Körper habe.“ Auch Konkurrentin Aneta Sablik mag sich an ihrer Jury-Wertung („drei Punkte und einen harten Ständer“) nicht weiter stören. Eines kann man „Deutschland sucht den Superstar“ ganz bestimmt nicht vorwerfen: dass die Kandidaten keine Entwicklung durchmachten.
Wenn an diesem Samstag die elfte Staffel von Deutschlands erfolgreichster Castingshow zu Ende geht, werden nicht nur die verbliebenen Kandidaten dazugelernt haben. Auch die Verantwortlichen von RTL. Unklar ist bloß, ob das hilft. Ob die neuen Erkenntnisse die Sendung retten werden – und den erstaunlichen, für viele unerhörten Siegeszug von Dieter Bohlen verlängern.
Der Musiker und Produzent ist zweifellos der große Profiteur der langlebigen Show. Vor DSDS wurde er in Deutschland gern von oben herab belächelt. Zigfacher Plattenmillionär war er auch da schon, keine Frage, aber eben genauso: der Fönfrisurträger mit der Kastratenstimme, der Nichtganzsoschöne von Modern Talking, Verona Feldbuschs Kurzzeitgatte. Der Typ, der öffentlich über seinen Penisbruch plauderte. Seit DSDS wird Bohlen, in diesem Jahr 60 geworden, respektiert und gefürchtet. Deutschland hat in ihm endlich erkannt, was er schon immer war: Macher, Geldscheffler, Durchblicker, Branchenprimus.
Und mit jeder erfolgreichen Staffel wächst sein Ansehen weiter. Das Problem ist nur, dass inzwischen viele bestreiten, dass DSDS noch ein Erfolg ist. Bevor im Januar die erste Folge ausgestrahlt wurde, meldeten sich die Pessimisten und Schlechtreder zu Wort, die behaupteten, dass DSDS nun bald eingestellt werde. Dass diese Sendung, ach was: diese deutsche Institution, an der lange niemand vorbei kam, über die montags auf den Pausenhöfen und in Großraumbüros gesprochen wurde, nicht mehr maßgeblich sei.
Es wurden Änderungen bekannt. Weniger Finalshows werde es geben, dafür müssten pro Folge zwei Kandidaten ausscheiden, was heiße: größerer Stress für die Teilnehmer und mehr Grund für die Zuschauer, jede Sendung aufs Neue die kostenpflichtige Nummer anzurufen, um ihre Favoriten in die nächste Runde zu wählen. Dazu wurde die Jury mit Rapper Kay One besetzt, der wie Bohlen als Großmaul und Chauvi gilt, der so vulgär daherredet, dass Bohlen, obwohl er nicht sanfter geworden ist, wie ein Grandseigneur unter den Pöblern wirkt. Immerhin liefert der gewohnt kreative Schmähungen. „Pumuckl auf Ecstasy“ ist so eine. Seit der ersten Staffel behaupten Neider, Bohlen kämen diese Einfälle nicht spontan, sondern würden ihm per Knopf im Ohr zugeflüstert. Das Produktionsteam dementiert dies, genauso wie das Gerücht, die Kameramänner dürften an den Maestro nie näher als einen Meter herantreten, um dessen Falten nicht zu präsentieren.
Ist Dieter Bohlen wirklich ein Proll?
Im Fernsehen wirkt das DSDS-Studio stets wie ein Hexenkessel. Eine aufgepeitschte Zuschauermenge feiert dort exzessive Partys, scheint es. Wer einmal live dabei sein will, sucht den Exzess zunächst vergebens. Das Studio liegt in einem Industriegebiet im Kölner Viertel Ossendorf, wer mit der S-Bahn rausfährt, steigt an der Haltestelle „Sparkasse am Butzweilerhof“ aus. Hier soll Deutschlands schillerndste Live-Show starten?
Vorm Halleneingang müssen die Gäste ihre Jacken abgeben. Keine Angst, sagt der Ordner, da drin, mit 1200 anderen, wird es gleich sehr warm. Viel kleiner wirkt das Studio, als man es aus dem Fernsehen kennt. Schon vor Sendungsbeginn werden Jubelszenen aufgenommen. Die lassen sich später reinschneiden, damit es dramatischer wirkt. Und Vorklatscher René wird jedes Mal rechtzeitig anzeigen, wann es auszurasten gilt.
Zum Beispiel, wenn Dieter Bohlen seinem Nebenmann in der Jury einen „Playboy“ überreicht. Gern kokettiert er damit, dass viele ihn für primitiv halten. Für einen Proll, der nur durch Glück zu Ruhm gekommen sei. Und dessen Songs jeweils mit drei Akkorden auskämen.
Musiker wissen: Letzteres ist schon mal Quatsch. Dass die meisten Bohlen-Lieder arg simpel klingen, liegt nicht am Unvermögen des Komponisten, sondern ist eine bewusste Entscheidung für die Eingängigkeit. Dieter Bohlen hasst Elite wie Avantgarde. Er hat kein Interesse daran, irgendjemanden auszugrenzen. Jedenfalls keinen, der eine seiner Platten kaufen könnte.
Und seine schamlose Prolligkeit, sein Bademeister-Habitus, seine Lieblingsvokabeln „hammermäßig“ und „megageil“? Vieles spricht dafür, dass hier jemand eine Rolle spielt, eben um massentauglich zu wirken. In seinen raren Interviews erlebt man nämlich stets einen ganz anderen Dieter Bohlen. Einen wortgewandten und schlagfertigen, der ohne Anzüglichkeiten auskommt, sogar ohne Flüche. Der belesen ist und souverän Nietzsche zitieren kann, der auf Nachfrage ein Abi mit 17 einräumt. Dieter Bohlen hat eine so dezidierte Meinung zum Urheberrecht, dass der Fragensteller lieber schnell das Thema wechselt.
Das alles kann der Mann aus Tötensen bei DSDS gut verstecken. Wenn Marianne Rosenberg, die sitzt gerade ebenfalls in der Jury, sich selbst künstlerisch wertvolle Arbeit bezeugt, dann lacht Bohlen sie aus und rechnet ihr vor, wie wenige Platten sie zuletzt verkaufte. Auch das ist neu: Noch nie hatte er so wenig Hemmungen, seine Mitjuroren öffentlich zu demontieren. Wenn er findet, eine Kollegin nerve durch „Rumgesülze“, dann sagt er das genau so. Früher hat er es für sich behalten und gewartet, bis der Unliebsame nach der Staffel ausgetauscht wurde.
Zu Sendungsbeginn wird Bohlen als „der einzig wahre Poptitan“ angekündigt, „Gottkaiser“ würde hier in Köln-Ossendorf auch keinem aufstoßen. Einer seiner Lieblingssprüche lautet: „Jeder kann ja seine Meinung haben. Aber ich finde meine eben besser als deine.“
Einen Superstar – also jetzt einen, der nicht Dieter Bohlen heißt – hat Deutschland seit Sendebeginn im Herbst 2002 nicht bekommen. Dafür etliche Hits, an denen wiederum Bohlen als Komponist kräftig verdiente, und eine Armada von Halbprominenten, die früher oder später in Kochshows oder im Dschungelcamp resteverwertet wurden. Man darf den Verantwortlichen da keinen Vorwurf machen. Die Sendung heißt „Deutschland sucht den Superstar“. Von finden hat keiner etwas gesagt.
Die neue Stufe der Eskalation, die Drastik, mit der Dieter Bohlen nun auch seine Kollegen zerlegt, stört im Team außer den Geschmähten keinen. „Wenn die Jury-Mitglieder glauben, sie müssen sich so verhalten, dann ist das ihr gutes Recht“, sagt Volker Weicker diplomatisch. „Sind ja erwachsene Menschen.“ Weicker ist der Regisseur der Sendung, zwei Stunden vor der Live-Show sitzt er im abgedunkelten Studio auf der Zuschauertribüne. Es sei eben schwierig, den Kritikern zu genügen. „Wenn nichts passiert, gilt es als langweilig. Wenn etwas passiert, ist es auch nicht recht.“
Volker Weicker gilt als der erfahrenste deutsche Regisseur von Livesendungen. „Wetten, dass..?“ hat er gemacht, zahllose Fußballspiele und Talksendungen. In der heutigen Zeit falle es schwer, eine Show wie DSDS über die Jahre hinweg jung zu halten, Abnutzungserscheinungen zu kaschieren. Neue, aufregende Formate würden inzwischen binnen kurzer Zeit hemmungslos kopiert. Vor 20 Jahren sei das nicht vorgekommen, da habe es unter den Fernsehschaffenden eine Art Ehrenkodex gegeben. „Heute gibt es viel Vergleichbares, ja zu viel Gleiches.“
Nach DSDS kamen „X-Factor“, „Unser Star für Oslo“, „The Voice“. Plus die vielen Castingshows, bei denen keine Musiker gesucht werden, sondern Models oder Tänzer oder schlicht Vollfreaks. Um weiter Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, habe DSDS zuletzt weniger Pyrotechnik und andere Showeffekte eingesetzt, sei dafür näher an die Kandidaten rangegangen.
Einer hat sich gegen die Jury-Sprüche gewehrt
An Kandidaten rangehen bedeutet bei DSDS vor allem, ihre Sorgen, Nöte und Schicksalsschläge offenzulegen. Die Essstörungen, Drogensüchte, toten Eltern, noch besser aber: todkranken Eltern. Da gibt es dann eine Entwicklung, die sich zu verfolgen lohnt. Schicksalsschläge sind zwingender Bestandteil des Gesamtpakets, gehören zur Visitenkarte des Künstlers, vielleicht noch mehr als Titten und Ärsche. Da wird dann auch Dieter Bohlen mitfühlend.
Bei Kandidatin Aneta war es dieses Jahr die Mutter, die laut Teilnehmerin „einfach nicht hinter mir steht“. Die wolle nicht, dass ihre Tochter bei DSDS auftrete. „Für sie bin ich eine Null.“ Auch ein spannendes Narrativ. Ein paar Folgen später wird die Mutter dann zwecks Familienzusammenführung in die Show geladen. Dieter Bohlen sagt, das müsse ja ein tolles Gefühl sein, die eigene Mutter im Publikum! Am Ende wird sie auf der Bühne stehen und Aneta fest im Arm halten. Und zwar so lange, bis das Kamerateam sie von allen Seiten abgefilmt hat. Und dann noch einmal, weil doch noch nicht alles im Kasten war.
Zwei Frauen und ein Mann treten an diesem Sonnabend im Finale an. Der Mann heißt Daniel und ist ein bisschen der Rebell unter den Kandidaten. Weil er es gewagt hat, die rüden Jury-Sprüche nicht einfach runterzuschlucken. Und sich vor laufender Kamera gegen Dieter Bohlen zu wenden. „Es reicht jetzt mit den ganzen Beleidigungen“, hat er gesagt. Und dann noch gefragt: „Wo sind wir denn hier?“ Der Pop-Titan hat darauf nicht geantwortet.
Die wichtigste Erkenntnis der jetzt zu Ende gehenden Staffel könnte für RTL folgende sein: dass man den Niedergang einer etablierten, womöglich überreifen Sendung auch nicht durch Eskalation hinauszögern kann. Die Quoten haben sich noch einmal deutlich verschlechtert, durchschnittlich wollten nur noch etwa vier Millionen Menschen zuschauen, ein historischer Tiefststand folgte dem nächsten, die Karsamstag-Ausgabe sahen nur 2,86 Millionen. Zum Vergleich: In der Premierenstaffel lag die durchschnittliche Quote bei knapp 13 Millionen.
Wer glaubt, die Absetzung des Formats könnte auch das Ende Dieter Bohlens bedeuten, versteht weder den Ausnahmemusiker noch die Branche. Bohlen hat längst vorgesorgt, arbeitet mit den extrem erfolgreichen Schlagersängerinnen Helene Fischer und Andrea Berg zusammen. Wer kommerziellen Erfolg so radikal Stilfragen vorzieht und wem es derart egal ist, ob Kritiker ihn mögen, der kann auch in 20 Jahren noch Geld scheffeln.
Aber so weit ist es noch nicht. 2015 geht’s definitiv weiter. Warum, hat Dieter Bohlen auch schon verkündet: „Die Welt braucht DSDS.“ Erst neulich habe er abends in einem Hotelzimmer Fernsehen geschaut und wie verrückt auf die Fernbedienung gedrückt. Da seien doch tatsächlich mehrere hundert Kanäle gewesen, und auf keinem einzigen sei Musik gelaufen. Es müsse gegengesteuert werden. Da brauche es hochwertige Musiksendungen. „Und wenn ich nicht dabei bin, läuft das ja nicht.“
Dieter Bohlen sieht sich immer noch als Teil der Lösung, nicht des Problems.
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