Die Klage der Nation: Dieser Mann will Volkswagen bezwingen
Im Gewerbegebiet eines Schwarzwaldstädtchens schreibt Anwalt Ralph Sauer Rechtsgeschichte. Für 427.000 Dieselfahrer will er Schadenersatz einklagen.
Wer den Mann, der Volkswagen bezwingen will, besuchen möchte, muss in die Provinz fahren. Nach Lahr in Baden-Württemberg, zehn Zugminuten von Offenburg entfernt. Außer der Landesgartenschau, die im vergangenen Jahr hier stattgefunden hat, gibt es für Besucher nicht viel zu sehen. Der wohl spannendste Ort verbirgt sich in einem Gewerbegebiet.
Ralph Sauer und sein Partner Ralf Stoll haben hier für ihre Anwaltskanzlei Dr. Stoll & Sauer mehrere Etagen in zwei nüchternen Neubauten gemietet. Vor allem Sauer hält sich hier auf, Stoll leitet das zweite Büro in Freiburg. Hier neben Tankstelle und Autowaschanlage bastelt Sauer an etwas, das Rechtsgeschichte schreiben wird. Der Anwalt bereitet gerade seine Strategie für die Musterfeststellungsklage gegen Volkswagen vor – ein Massenverfahren, das es in Deutschland so noch nie gegeben hat.
427.000 VW-Kunden haben sich zusammengeschlossen, um VW für die Abgasmanipulationen zur Rechenschaft zu ziehen. Sie wollen ein für alle Mal gerichtlich festgestellt wissen, dass sich Deutschlands größter Konzern rechtswidrig verhalten hat, als er eine Abschaltautomatik in ihre Diesel eingebaut hat. Die Software hat dafür gesorgt, dass Abgasemissionen gesenkt werden, sobald das Auto auf dem Prüfstand steht. Auf der Straße haben die vermeintlich sauberen Autos aber deutlich mehr Emission ausgestoßen als angegeben. Nach Meinung der Kläger ist das eine vorsätzliche, sittenwidrige Schädigung. Ihr Ziel: VW soll Schadenersatz für ihre manipulierten Autos zahlen.
Früher war er Ringer
Durchsetzen soll das Ralph Sauer. Früher war Ralph Sauer Ringer, vielleicht kommt daher die Unerschrockenheit, sich auch mit großen Gegnern anzulegen. Volkswagen schickt die internationale Großkanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer ins Rennen. Sie beschäftigt 4.700 Mitarbeiter weltweit, in Deutschland arbeiten mehr als 500 Anwälte für die Kanzlei – Sauer und Stoll haben 80 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste.
Das Unternehmen, in dem sie arbeiten, sieht wie ein Berliner Start-up aus. Es gibt einen Fitnessraum, zwei Küchen, einen Kicker und eine Tischtennisplatte. In den Büros stehen Pappkartons, in denen Akten mit Klagen gegen Volkswagen gesammelt sind. Der Chef trägt T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Sauers Schreibtisch wirkt wie eine Kommandozentrale. Vier Monitore stehen vor dem Anwalt, damit er Akten, Internetrecherchen, seine und die gegnerischen Schriftsätze gleichzeitig im Auge behalten kann. Hat er Zeit, lässt er auch noch die Kamera laufen, die ebenfalls im Büro steht. Seit Neuestem macht Sauer Youtube-Videos, in denen er laufende Verfahren kommentiert. Dass Mandaten vorbeikommen, ist selten. „Wir sind ein anwaltlicher Industriebetrieb“, sagt er. Allein im Juni haben Stoll und Sauer 212 Urteile für VW-Kunden erstritten.
Zu denen, die auf eigene Faust vorgehen, gehört Georgios Rousselis. Der Berliner arbeitet in Potsdam, jeden Tag fährt er 40 Kilometer hin und dieselbe Strecke wieder zurück. Im März 2014 hat er sich deshalb ein Auto gekauft, 13.000 Euro für einen gebrauchten VW-Golf gezahlt.
„Ich kaufe nie wieder einen Volkswagen.“
Eineinhalb Jahre später kam der Schock. Im September 2015 wurden die Manipulationen von VW ruchbar. „Mein Auto war plötzlich nichts mehr wert“, ärgert sich Rousselis. „So einen manipulierten Wagen kauft doch niemand mehr.“ Der Kreuzberger wollte das nicht ohne Gegenwehr hinnehmen. Nachdem klar war, dass seine Rechtsschutzversicherung die Kosten übernimmt, zog Rousselis seine Anmeldung zum Klageregister für die Musterfeststellungsklage zurück und klagt jetzt selbst gegen VW. Er hofft, vor Gericht zu gewinnen oder ein gutes Vergleichsangebot zu bekommen. Aber egal, wie es kommt, eines steht für ihn fest: „Ich kaufe nie wieder einen Volkswagen.“
Wer einen manipulierten VW-Diesel hat, kann sich auf unterschiedliche Weise wehren. Man kann selbst gegen VW oder den VW-Händler klagen – auf Rückgabe des Fahrzeugs, auf Lieferung eines neuen, nicht manipulierten Modells oder auf Schadenersatz. Rund 66.000 solche Klagen sind derzeit anhängig, heißt es bei VW. Empfehlenswert ist diese Methode vor allem für Menschen, die eine Rechtsschutzversicherung haben. Es ist der traditionelle deutsche Rechtsweg.
Deutsche müssen Umwege gehen
Doch Dieselgate hat dieses klassische System aufgeweicht und einen Hauch von Sammelklagenkultur nach Deutschland gebracht. Statt wie in den USA, wo Anwälte gezielt Kunden werben und versuchen, für alle Mandanten möglichst viel Schadenersatz herauszuholen, muss man in Deutschland Umwege gehen. So wie MyRight. Der Prozessfinanzierer lässt sich mögliche Ansprüche von VW-Kunden abtreten. 45.000 Fälle hat MyRight gebündelt. Die Klage gegen VW ist für die Kunden kostenlos, MyRight kassiert bei Erfolg 35 Prozent der gewonnenen Summe ein.
Der zweite Weg ist die Musterfeststellungsklage. Jahrelang ist über dieses Instrument gestritten worden, vor allem die Union blockierte. Sie wollte keine Sammelklagenjustiz wie in den USA. Doch weil Millionen Geschädigten die Verjährung drohte, lenkte die Union ein. Die Musterfeststellungsklage gibt es seit dem 1. November 2018, am selben Tag reiste der Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV), Klaus Müller, nach Braunschweig, um dort beim zuständigen Oberlandesgericht (OLG) die erste Klage gegen VW einzureichen.
Das Verfahren ist kostenlos. Klagen dürfen nur Verbände, Verbraucher können sich anschließen, indem sie sich in ein Register eintragen lassen, das beim Bundesamt der Justiz geführt wird. Wer mitmacht, profitiert, falls die Gerichte eines Tages VW verurteilen. Das kann aber noch Jahre dauern. Denn klar ist: Das letzte Wort in der Musterfeststellungsklage wird der Bundesgerichtshof haben. Danach muss man noch seinen individuellen Schaden geltend machen – notfalls wieder per Klage.
Punkband und Abi-Shirts
Die Musterfeststellungsklage gegen VW wird vom VZBV und dem ADAC betrieben. Um die richtigen Anwälte zu finden, hat der VZBV elf Kanzleien angeschrieben und sie aufgefordert, ein Angebot abzugeben. Den Zuschlag haben Dr. Stoll & Sauer und die Kölner Kanzlei Rogert & Ulbrich bekommen, die auch Rousselis vertritt. Beide Kanzleien haben sich für die Musterfeststellungsklage zur Russ Litigation zusammengeschlossen – und teilen sich das übersichtliche Honorar von 7530,80 Euro. Kostendeckend ist das nicht. Dennoch ist Sauer stolz, dabei zu sein. „Es ist ein Prestigeverfahren“, sagt er. Und eine gute Werbung für die Kanzlei.
Beinahe wäre es VW erspart geblieben, sich mit dem Mann aus dem Schwarzwald herumzuschlagen. Denn Sauer unterbrach sein Jurastudium in Freiburg. Er managte die Punkband Scabies, Krätze, und begann, Shirts für Abifeiern zu produzieren. „Ich war nicht unerfolgreich“, sagt er. Der Nachwuchsunternehmer hatte schon eine mögliche Fertigungsstätte in Erfurt gefunden. Doch dann entschied er sich, doch lieber das Studium zu beenden.
Der 46-Jährige weiß noch genau, wann er von Dieselgate erfahren hat. „Ich habe beim Autofahren von dem VW-Skandal gehört.“ Ihm war schnell klar: „Das wird eine große Sache.“ Mit Massenklagen kannten sich Stoll und Sauer bereits aus. Doch bis dahin waren es vor allem Fälle aus dem Bank- und Kapitalmarktrecht gewesen, mit denen sie zu tun hatten. Das sollte sich schlagartig ändern. Die Anwälte spezialisierten sich fortan auf VW. Im Februar 2016 hatten sie bereits 2.000 Mandate von VW-Kunden, heute sind es 12.000 Einzelklagen – und die Musterfeststellungsklage.
1,77 Milliarden Euro für Beraterdienste
Dieselgate wurde zur größten Krise für VW. Mehr als 30 Milliarden US-Dollar hat den Konzern der Skandal bislang gekostet – Geld für Vergleiche, Bußgelder, Beraterhonorare. Allein Berater und Anwälte haben 1,77 Milliarden Euro für ihre Dienste rund um Dieselgate kassiert. 2,4 Millionen Autos aus dem Hause Volkswagen wurden bislang allein in Deutschland mit einer neuen Software ausgerüstet, die die Manipulationen beenden soll, weltweit sind es acht Millionen. Doch nicht nur viel Geld hat VW verloren, sondern auch seinen guten Ruf – und einige seiner Führungskräfte. Der frühere Audi-Chef Rupert Stadler wurde am vergangenen Mittwoch von der Staatsanwaltschaft München unter anderem wegen Betrugs angeklagt. Auch Ex-Konzernchef Martin Winterkorn sieht sich mit strafrechtlichen Konsequenzen konfrontiert.
Bereits im April dieses Jahres klagte die Staatsanwaltschaft Braunschweig Winterkorn unter anderem wegen schweren Betrugs und Untreue an. Das Landgericht Braunschweig prüft noch, ob es zum Prozess kommt. Falls ja, wird es um eine große Frage gehen: Wann haben die Verantwortlichen im Vorstand Bescheid gewusst? Oder wann hätten sie Bescheid wissen müssen?
Klarheit soll unter anderem die Musterfeststellungsklage bringen. Am 30. September ist die erste Verhandlung. Weil die Säle im OLG Braunschweig zu klein sind, hat man die Stadthalle gemietet. Bis zu 2300 Menschen passen in den Großen Saal des Gebäudes. Wenn alle kommen, die mitmachen wollen, wäre selbst dieser Große Saal viel zu klein. Und die Zahl der 427.000 registrierten VW-Kunden könnte noch weiter wachsen, bis einen Tag vor der mündlichen Verhandlung kann man sich noch in das Musterfeststellungsregister eintragen lassen. Möglich ist das für Menschen, die einen manipulierten Skoda, Seat, Audi oder VW haben und deren Autos vom Kraftfahrtbundesamt zum Softwareupdate zurückgerufen worden sind.
Bei Markus Lanz sprach der Chef von „Betrug“
VW vermeidet das Wort Manipulation und spricht stattdessen von „Umschaltlogik“. Mit dem Softwareupdate sei der Mangel behoben, meint der Konzern, die Kunden hätten keinen Schaden mehr. Die Autos seien sicher. Sie würden weder mehr Sprit verbrauchen noch gebe es Probleme mit dem Motor oder mit den Emissionen. Der Konzern gibt sich zuversichtlich. Von den rund 33.500 Urteilen sei „die überwiegende Zahl“ zugunsten von VW und den VW-Händlern entschieden worden, berichtet ein Konzernsprecher. Auf Ebene der Oberlandesgerichte seien es von 47 Urteilen sogar 41.
Doch ganz so einfach ist die Lage für die Wolfsburger wohl doch nicht. Das liegt nicht zuletzt am obersten VW-Chef Herbert Diess. Der hatte Mitte Juni in der Talkshow von Markus Lanz über den Diesel-Skandal gesprochen. „Das, was wir gemacht haben, war Betrug, ja“, hatte Diess gesagt.
Zu den Fernsehzuschauern gehörte auch Günter König, Richter am Landgericht Oldenburg, auf dessen Tisch einige Dieselfälle liegen. „Nichts spricht dafür, dass es sich um eine unbedachte Spontanäußerung handelt, deren brisanten Erklärungswert er nicht überblickte“, schreibt König anschließend in einem Hinweisbeschluss, den Richter Prozessparteien geben, wenn sie bestimmte Fragen für klärenswert halten. Das Urteil steht zwar noch aus, für VW sieht es aber nicht gut aus. In Wolfsburg versucht man, den Schaden zu begrenzen. Die Äußerung von Diess sei eindeutig im Kontext einer früheren Bestrafung in den USA gefallen und ändere nichts an der rechtlichen Position von VW, erklärt der Konzern auf Anfrage. Die in Deutschland und in der EU verwendete „Umschaltlogik“ sei legal.
Wie unabhängig sind die Richter?
Zur Strategie von VW gehört es, negative Urteile per Vergleich zu vermeiden. Lange Zeit haben es die Wolfsburger so geschafft, Fälle vom Bundesgerichtshof fernzuhalten. Doch nachdem ein Kläger Anfang des Jahres wieder einmal kurz vor dem Verhandlungstermin einen Rückzieher in Karlsruhe gemacht hatte, platzte den höchsten deutschen Zivilrichtern offensichtlich der Kragen. Sie veröffentlichten von sich aus einen Hinweisbeschluss und erklärten, dass die manipulierten Autos aus ihrer Sicht sehr wohl einen Sachmangel und die Kunden Gewährleistungsansprüche hätten. Immer häufiger geben jetzt auch Oberlandesgerichte den VW-Kunden Recht, die sich von ihrem Autohersteller betrogen sehen. Zu den Oberlandesgerichten, die aber bisher stets für VW geurteilt haben, gehört das in Braunschweig. Es ist das Oberlandesgericht, das Wolfsburg am nächsten liegt.
Ist das ein schlechtes Zeichen für die Musterfeststellungsklage?
„Ich hätte mir gewünscht, dass die Verbraucher den Gerichtsort auswählen dürfen“, sagt Rechtsanwalt Sauer. Allerdings ist der Senat, der über die Musterfeststellungsklage entscheidet, ein anderer als diejenigen, die bislang mit Gewährleistungs- oder Schadenersatzfällen befasst sind. Vorsitzender Richter für die Musterfeststellungsklage ist Michael Neef, ein Experte für Korruption, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht.
Neef war vor seinem Wechsel zum Oberlandesgericht im Justizministerium des Landes Niedersachsen tätig. Das Land ist mit 20 Prozent an Volkswagen beteiligt, Landesvater Stephan Weil sitzt im Aufsichtsrat des Autokonzerns. Ist das zu viel Nähe? Beim OLG Braunschweig sieht man das nicht so: „Alle unsere Richter sind unabhängig und werden unabhängig entscheiden“, sagt Gerichtssprecherin Andrea Tietze. „Eine Nähe zu Volkswagen gibt es nicht.“