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Innensenator von Berlin, Andreas Geisel (SPD).
© imago/Christian Ditsch

Berlins Innensenator Andreas Geisel: Die stille Reserve der Berliner SPD

Makellos ist seine Amtsführung nicht. Und neue Zerreißproben in der Stadt, der Koalition, der SPD stehen bevor. Senator Geisel darf jetzt keine Fehler machen.

Eine Stunde und 40 Minuten lang sitzt Andreas Geisel am Kopf der u-förmigen Tischreihe wie ein Buddha. Er hat einen bronzefarbenen Schlips um, stützt immer wieder das Kinn auf die Faust. Geisel ist nicht gern hier im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Einziger Tagesordnungspunkt der Sondersitzung vergangenen Montag: Hat Innensenator Geisel ein Disziplinarverfahren gegen die frühere Polizeivizechefin Margarete Koppers verhindert, damit sie Generalstaatsanwältin werden kann? Die Opposition will Geisel zum Rücktritt drängen, selbst innerhalb der rot-rot-grünen Koalition sagen einige: Die Landesregierung wäre dann hinfällig.

Der Saal ist selten so voll gewesen, auf den Zuschauerbänken sitzen 20 Polizisten. Margarete Koppers habe als Spitzenpolizistin von den giftigen Dämpfen auf den maroden Schießständen der Truppe gewusst, lautet der Vorwurf. Sie sei so für die Gesundheitsschäden vieler Polizisten mitverantwortlich. Immer wieder flüstern die Zuschauer, einige nicken, als Oppositionsführer und CDU-Fraktionschef Burkard Dregger dem Senator vorwirft, die üblichen Beförderungskriterien ignoriert zu haben, um diese eine Frau anderen Kandidaten vorziehen zu können. Doch um 12.41 Uhr richtet sich Geisel auf.

Für Geisel geht es in diesen Wochen um viel, einige aus seinem Umfeld sagen: um alles. Mit dem Besuch von Recep Tayyip Erdogan steht ihm der größte, bislang wichtigste Polizeieinsatz seiner Amtsperiode bevor. Und im Oktober könnte der Streit um Geisels Linie in der SPD eskalieren. Das ist nur der Anfang.

Im Ausschuss sagt er: „Was bezweckt die Opposition mit dieser Sondersitzung? Aufklärung? Hilfe für die Betroffenen? Dann haben wir alle dasselbe Ziel!“ Er glaube, die CDU wolle schlicht ihre eigene Kandidatin für den Posten der Generalstaatsanwältin durchsetzen. Besser wäre, man arbeite gemeinsam daran, diesen „Sachverhalt“ aufzuklären – der ja lange zurückreiche. Gemeint ist: bis in die Jahre seines CDU-Vorgängers. Auch da nicken einige Beamte.

1,90 Meter, 52 Jahre - aber manchmal wirkt Geisel wie ein schüchterner Junge

Dunkler Anzug, weißes Hemd, das ist Geisels Uniform, meist mit Krawatte. Und doch wirkt der fast 1,90 Meter große 52-Jährige nicht immer so resolut wie in der Sitzung, sondern wie ein schüchterner Junge, der wartet, bis er an der Reihe ist. Dabei gilt Geisel als jemand, der in Berlins SPD weiter aufsteigen könnte – wenn er keinen Fehler macht.

An einem Abend vor der Sondersitzung findet die traditionelle Feier der Berliner SPD-Fraktion im Innenhof der Kalkscheune in Mitte statt. Erst als die Feiernden schon lauter reden und lachen, erscheint Geisel. Das Tablett mit dem Aperol Spritz lässt er an sich vorbeiziehen, nickt einigen Genossen zu, setzt sich aber nicht neben sie. Plaudereiversuche lässt er höflich an sich abprallen. Geisel trinkt ein, zwei Wasser, fährt dann bald nach Hause. Die Tage werden hart.

Der Kampf gegen die Kurden, die Pressefreiheit, das Präsidialregime in der Türkei: Wenn Erdogan nach Berlin kommt, richten sich allein 50 Demonstrationen gegen ihn. Dazu kommen womöglich Auftritte von Erdogans Anhängern. Geisel schickt 10 000 Polizisten in den Einsatz, manch Spitzenbeamter zweifelt, ob selbst das reicht.

Drei Wochen später steht der SPD-Landesparteitag an, auf dem Geisel das Sicherheitsprofil seiner Partei schärfen möchte. Wenn er darf. Seit Monaten arbeitet er an einem Gesetzesentwurf, der mehr Überwachung gefährlicher Orte ermöglichen soll. Hartnäckig weicht er Fragen danach aus, was drinstehen wird. Doch selbst wenn Geisel der eigenen Partei einen Kompromiss abringt – Linke und Grüne sagen klar, dass mehr Videoüberwachung mit ihnen nicht zu machen ist. Vor einem Jahr hatte die SPD das Thema vertagt, um eine Zerreißprobe zu vermeiden. Diesmal kommt es zum Schwur.

Sprachen Maaßen und Geisel nicht über V-Leute?

Das heiklere Problem hängt mit dem Attentat auf den Breitscheidplatz 2016 zusammen. Es geht darum, dass ein V-Mann das Bundesamt für Verfassungsschutz vor Anis Amri gewarnt hatte. Im März 2017, also lange nach dem Anschlag, soll der damalige Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen dies Geisel und dessen Staatssekretär Torsten Akmann offenbart haben. Geisel bestätigt das Treffen, aber um „Quellen“ sei es nicht gegangen. Selbst wenn Maaßen tatsächlich dazu geschwiegen hat: Warum fragte Geisel nicht selbst nach, schließlich hatte er für die Aufklärung des Falls 20 Ermittler abgestellt?

Und dann ist da eben noch Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, die vom Senat soeben auf Lebenszeit ernannt wurde. Koppers war wegen „Körperverletzung im Amt durch Unterlassen“ angezeigt worden. Anders als üblich wurde parallel kein internes Disziplinarverfahren eingeleitet, das blockiert in der Regel vorläufig Beförderungen. Geisel weist die Vorwürfe zwar zurück – und tatsächlich muss ein paralleles Disziplinarverfahren nicht zwingend eingeleitet werden. Doch der Senator weiß auch, dass Koppers in der Polizei unbeliebt ist. Und die Stimmung unter den 23 000 Berliner Polizisten kann ihm nicht egal sein. Samt ihrer Familien sind sie nicht nur ein großer Wählerblock, sondern – je nachdem, wie sie ihren Job machen – für die Atmosphäre in der Stadt erheblich.

Geisel hat an ausgewählten Plätzen mobile Wachen eingerichtet, die intern zwar umstritten sind, das Ansehen der Truppe aber verbessert haben. Er hebt, mit Unterstützung der rot-rot-grünen Koalitionäre, die Besoldungen an. Und er hat populäre Einzelmaßnahmen durchgesetzt. So ließ Geisel nach den Messerstechereien unter Flüchtlingen am Alexanderplatz eine multilinguale Ermittlergruppe aufstellen. Am Platz ist es nun ruhiger und Geisel in der Truppe vergleichsweise beliebt.

Polizeigewerkschaft: Bei Kandt und Koppers wurde mit zweierlei Maß gemessen

Norbert Cioma, ein früherer Fahnder, ist Landeschef der 13 000 Mitglieder der Gewerkschaft der Polizei. Er sagt, der Senator höre auch unteren Rängen zu, habe ein gutes Gedächtnis und Interesse an Details. Doch viele sind sich einig, dass Geisel Fehler gemacht hat. Nach dem Breitscheidplatz-Anschlag gab der Senator, eben erst ernannt, eine spontan anmutende Pressekonferenz auf der Treppe seines Amtssitzes in der Klosterstraße. Der öffentliche Druck war groß und Geisel erklärte den verblüfften Reportern, dass er zwei Kommissare seines Staatsschutzes angezeigt habe, wegen des Verdachtes der Strafvereitelung im Amt. Die beiden sollen Akten über Amri frisiert haben, um zu verschleiern, dass sie den Tunesier wegen Drogenhandels hätten festnehmen können. Der Verdacht ist ausgeräumt, aber in der Polizei nehmen sie das Geisel übel.

Damals hieß der Polizeipräsident noch Klaus Kandt. Ihn entließ Geisel später so überraschend, dass die Boulevardmedien, die gern hartes Durchgreifen fordern, einen „Angriff auf die Würde“ des Polizeipräsidenten ausmachten. „Bei den Personalentscheidungen wurde mit zweierlei Maß gemessen“, sagt auch Cioma. „Beide haben Fehler gemacht, aber Herr Kandt wurde unehrenhaft entlassen und Frau Koppers ist verdammt weich gefallen.“ Zum Abschied schenkten die Kollegen Kandt das Buch „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“.

Staatssekretär Torsten Akman und Innensenator Andreas Geisel (beide SPD) im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses.
Staatssekretär Torsten Akman und Innensenator Andreas Geisel (beide SPD) im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses.
© Pedersen/dpa

Anders als die Polizisten haben die Feuerwehrleute in diesem Sommer protestiert – inklusive brennender Tonnen vor dem Roten Rathaus. Die Einsatzzahlen der Feuerwehr haben 2017 einen Höchststand erreicht. Insgesamt wurden die Retter zu 458 138 Einsätzen, fast 4000 mehr als 2016, gerufen. Immer öfter werden sie beim Einsatz bedrängt, gar angegriffen. Geisel reagierte, 2019 sollen 275 neue Feuerwehrleute ausgebildet werden. Noch in diesem Jahr will er zwei Löschfahrzeuge, 20 Notarztautos und 50 Rettungswagen besorgen. Höchste Zeit, sagt ein leitender Feuerwehrmann, man stünde sonst im Ernstfall vor dem Kollaps – und so sei nötig, dass Geisel weitere Millioneninvestitionen plane.

Kein Kunststück, sagt wiederum ein bekannter SPD-Mann, anders als beim Vorgängersenat seien die Kassen ja voll: „Wer die kaputte Stadt nun nicht ausstattet, ist schlicht doof.“ Es kam auch nicht besonders gut an, dass Berlins Verfassungsschutzchef Bernd Palenda nach einem Dauerstreit mit Geisels Staatssekretär Akmann um Versetzung bat. Er wurde, um den Unmut in den Behörden einzudämmen, als Abteilungsleiter in die Senatskanzlei versetzt, eine kleine Rehabilitation.

Eine makellose Amtsführung kann Geisel also nicht nachweisen, auch wenn die Angriffsflächen noch nicht gefährlich groß sind. Fragt man Genossen, welche politische Zukunft Geisel nach der Wahl 2021 erwartet, nennt ihn niemand mehr einen „Hoffnungsträger“. Denn dass Geisel einst ein ehrgeiziger Reformer war, ist fast vergessen.

Nie würde Andreas Geisel gegen Michael Müller putschen

„Erneuerung jetzt!“ Mit diesem Aufruf machten im Herbst 1999 SPD-Vorstandsmitglieder, Kreischefs und Abgeordnete von sich reden. „Clevere, junge Köpfe nach vorn“, lautete die Devise der Funktionäre, allesamt jünger als 40 Jahre. Zu ihnen gehörten neben Geisel Iris Spranger, Christian Gaebler, Swen Schulz und ein gewisser Michael Müller. Sie wurden Regierender, Senator, Staatssekretärin, Chef der Senatskanzlei, Bundestagsabgeordnete. Nun drängen andere, wieder zwischen 30 und 40 Jahre alt, in der Partei nach vorn. Diese Generation wird die Zukunft der Berliner SPD entscheiden.

Geisel gilt als einer, der nach der Wahl 2021 Michael Müller im Amt beerben könnte – wenn Franziska Giffey abwinkt. Im eigenen Landesverband hat der moderate Parteirechte keine Feinde. In der Partei hält sich das Gerücht, dass Geisel einen Wechsel ins Rote Rathaus für reizvoll hielte, wenn Müller nicht mehr kann, darf oder will. Gelegentlich wird Geisel von Genossen gefragt, vor allem in den Ostbezirken, ob er sich nicht einen Ruck geben wolle. Mit dem Michael, sagt Geisel dann, habe die Partei doch einen guten Mann an der Spitze. Nie würde er gegen Müller putschen, ein Wechsel ginge nur einvernehmlich und mit Zustimmung der linken Parteimehrheit.

Andreas Geisel hat Ökonomie studiert, gleich nach der Wende fand der aus der SED ausgetretene Sohn eines DDR-Postbeamten zur SPD. Wurde 1995 Kreischef und Stadtrat seines Heimatbezirks Lichtenberg. „Einer unserer ganz großen Talente“, schwärmte damals ein Genosse. Vier Jahre später scheiterte Geisels Versuch, in den Bundestag zu wechseln. Als Entschädigung stieg er 2011 zum Bezirksbürgermeister auf, ein umgänglicher Typ, der gern mit den Leuten plauderte. Einer mit breitem Kreuz, gepflegtem Äußeren, festem Händedruck.

Drei Jahre später holte der neue Regierende Bürgermeister Müller den Vertrauten als Stadtentwicklungssenator in sein erstes Kabinett, machte ihn im Mai 2016 zum Vize-Landeschef der SPD und ließ ihn nach der desaströsen Abgeordnetenhauswahl ein halbes Jahr später nicht fallen. Geisel wurde Innensenator, nach dem glücklosen CDU-Mann Frank Henkel. Sein Credo: Sicherheit ist ein zutiefst linkes Thema, eine Gerechtigkeitsfrage – es sei nicht hinnehmbar, dass Berliner im reichen Grunewald sicherer leben könnten als im armen Neukölln.

SPD-Parteitag: Geisel erhält 15 Prozentpunkte mehr als Müller

Vor drei Monaten stand Geisel auf dem Berliner SPD-Parteitag am Rednerpult. Elf Minuten sprach er, um für seine Wiederwahl zum Vize-SPD-Landeschef zu werben. Über seiner Nasenwurzel eine steile Sorgenfalte. „In den nächsten Jahren müssen wir in der Partei eine Debatte über die Zukunft der Sozialdemokratie organisieren.“ Der Mann, der seit zwei Jahren für Berlins Sicherheit zuständig ist, ist kein mitreißender Redner. Doch die Genossen hörten aufmerksam zu. Geisel sprach von „verlorenem Vertrauen“, das wiedergewonnen werden müsse. Die Partei müsse sich mit der „unschönen Realität“ auseinandersetzen. Geisel wurde mit 78,5 Prozent bestätigt – fast 15 Prozentpunkte mehr als Parteichef Müller.

Mit rosa Farbe ist das Bürgerbüro von Berlins Innensenator Andreas Geisel in Berlin-Karlshorst in der Döhnhoffstraße beschmiert.
Mit rosa Farbe ist das Bürgerbüro von Berlins Innensenator Andreas Geisel in Berlin-Karlshorst in der Döhnhoffstraße beschmiert.
© Kalaene/dpa

Privat ist Geisel dem Osten verbunden. Er ist Fan des 1. FC Union, zog mit Ehefrau Anke aus Prenzlauer Berg vor ein paar Jahren nach Karlshorst, wo die Familie mit den zwei Töchtern lebt. In der Nähe befindet sich auch Geisels Bürgerbüro, das vor ein paar Wochen von Linksradikalen mit Farbe begossen und mit Steinen beworfen wurde. Vor so etwas ist kein Innensenator sicher. Doch Geisel wird wohl bald gegen die Szene vorgehen, kündigte sie doch einen „Herbst der Besetzungen“ an.

Man kann das getrost als weitere Belastungsprobe bezeichnen, zumal die SPD mit der Linken koaliert. Auf einer Veranstaltung des Vereins Helle Panke diskutierte Berlins Linken-Chefin Katina Schubert, führendes Mitglied einer Regierungspartei, im August mit jungen Hausbesetzern – und Schubert sagte dabei deutlich: „Der Innensenator ist sehr fokussiert auf repressive Lösungen.“

Als Gegenspieler profiliert sich derweil CDU-Fraktionschef Dregger. Mit Anhörungen im Innenausschuss macht er Druck, will Geisel zum Versager stempeln, zeigt sich bei Berlins Beamten. Kürzlich besuchte Burkard Dregger die Feuerwehr in Karlshorst – Geisels Wahlkreis.

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