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Aus dem Dunkeln. Fremdenfeindlichkeit, Misstrauen, Gewalt - Sachsen ist für viele das Land der Beleidigten. Doch wer nur den Einwohnern die Schuld daran gibt, macht es sich zu einfach.
© Arno Burgi/picture alliance / dpa

Sachsen: Die Seelenverwandten

Anselm Brütting hat für die Demokratie gekämpft. Was daraus wurde, ärgert ihn. Den Frustrierten in Sachsen gibt er eine Stimme. Und hat da etwas richtigzustellen – ganz ohne AfD und Pegida.

Von Torsten Hampel

Anselm Brütting hat eine Liste gemacht. Fünf Blätter hat er mit Daten vollgeschrieben, die sein Leben sind, jene Teile davon zumindest, an die er sich erinnert oder die wichtig waren. Wichtig war, dass er im Oktober 1946 als Sohn des Vermessungsingenieurs Anton und seiner Frau Christa Brütting zur Welt gekommen ist. Er erinnert sich an die Geburten seiner eigenen Kinder, die jeweils an einem Frühjahrsmorgen um 7.45 Uhr stattgefunden haben.

Außerordentlich viel Arbeit findet sich ansonsten in diesen Zeilen, die zum Lohn- und Broterwerb, und die, die nicht mit Geld bezahlt wird, sondern der Allgemeinheit dienen soll. Der einzige Makel: Anselm Brüttings Leben spielt sich ausschließlich in Sachsen ab. Dem Land der Beleidigten.

Brütting, einstiger Zuckerbäcker, Fliesenleger, Bauingenieur und Wirtschaftsministerialer aus Plauen im Vogtland, sammelt sein Erdendasein zusammen, er will es demnächst noch ausführlicher aufschreiben. Aus den fünf Seiten voller Gedankenstützen soll eine Autobiografie werden. Der Sachse Brütting hat etwas richtigzustellen.

Er will die Etiketten loswerden, die ihm persönlich, und stellvertretend für sein ganzes Bundesland, im vergangenen Jahr und dem davor angeheftet worden sind. Weil er sich einmal öffentlich beschwert hat, über die Politik als solche und deren Verständnislosigkeit seinen Mit-Sachsen gegenüber. Er hat der Unzufriedenheit sein Gesicht gegeben.

Das soll einer jener Klischee-Sachsen des Jahres 2016 sein?

Doch jetzt erst einmal: ausparken, in die Innenstadt fahren, ins Einkaufszentrum, Kaffee trinken. Die Liste noch mal durchgehen und das Manuskript der Rede, die sein einstiger Chef an jenem Tag vor neun Jahren auf Brütting gehalten hat, der sein letzter im Dresdner Wirtschaftsministerium war.

„Die Klarheit in Ihrer Haltung war keine mit der Wende eingetretene Neuheit“, liest Brütting, „vielmehr hatte diese Haltung Sie bereits in der ehemaligen DDR geprägt.“ Er habe 1989, als die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen „über Dresden nach Hof fuhren“, seine damaligen „Mitarbeiter so eingesetzt, dass sie miterleben mussten, dass sie sehen und hören konnten, wie die Züge über die Grenze fuhren. Sie sind in Plauen für die Freiheit auf die Straße gegangen – vor den Leipziger Demonstrationen.“ Das Nachwende-Sachsen verdanke ihm eine der größten Firmenansiedlungen, das BMW-Werk bei Leipzig. „Dieses Vorhaben war Ihr Meisterstück.“

Das also soll einer jener Klischee-Sachsen des Jahres 2016 sein? Einer dieser wehleidigen und menschenfeindlichen Idyllenbewohner, die vornehmlich dann von sich reden machen, wenn sie etwas ablehnen, wenn nötig, mit Gewalt?

„Ich bin kein Frustrierter“, sagt Brütting. „Ich bin auch kein Wutbürger.“ Zeitungen haben so über ihn geschrieben, sogar das Fernsehen war da. Er hält sich selbst auch nicht für „abgehängt“ und „undankbar“, er ist kein Wendeverlierer, war nie bei einer Pegida-Demonstration und auch in Heidenau, Clausnitz, Freital und Bautzen nicht dabei. Er wolle, sagt er, das alles nur verstehen. Zumindest einen der Gründe dafür meint er zu kennen.

„Da kam es von mir etwas geballt“

So wie aus einem Bundesland, seinen Orten und dem Wesen ihrer Bewohner Abziehbilder geworden sind, ist auch aus Brütting eines geworden. Weil es so gut passte. Jenseits der Landesgrenzen versucht man seit zwei Jahren, sich einen Reim auf all das zu machen, was aus Sachsen nach draußen dringt.

Man sucht Erklärungen für die Gewalt und die Fremdenfeindlichkeit in den Städtchen und für die Demokratieverachtung der Demonstrationsrechtswahrnehmer montags in Dresden. Man fand auf dieser Suche auch Brütting, weil er in diesem Jahr bei einer öffentlichen Gesprächsrunde in einem Plauener Veranstaltungshaus dabei war. Es ging unter anderem um Pegida, „und da kam es von mir etwas geballt“, sagt er. „Wir sind fremdgesteuert“, habe er gesagt. Er bot auch eine Alternative dazu an. „Die Lösung ist: mehr Mitbestimmung.“

Vorkämpfer. Noch vor den Leipzigern gingen 1989 die Menschen in Plauen auf die Straße.
Vorkämpfer. Noch vor den Leipzigern gingen 1989 die Menschen in Plauen auf die Straße.
© Kemmether/ picture-alliance/ dpa

Am Ende fand Brütting sich in einer Fernsehdokumentation wieder, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, nicht nur die Andersartigkeit Sachsens zu beschreiben, sondern das Andere, Spezielle am ganzen Osten. Brütting beklagt darin, dass seine Stadt „ausgeblutet“ sei, die Leute gehen immer noch weg, die Arbeit auch. Er fordert Politiker, die sich in die Menschen hier hineinversetzen können. Die gebe es aber kaum.

Er sei in den Jahren von 1991 bis 2007, im Dresdner Wirtschaftsministerium, lange Zeit einer der einzigen Ostler weit und breit gewesen, selbst auf der vergleichsweise unteren Ebene, auf der er arbeitete. Am Cafétisch spricht er von einer „anderen Gedankenwelt, einer anderen Sprachwelt“, in der die Westzuzügler lebten, von „anderen Worten“, die sie benutzten. „Man bekam gesagt, wie man Deutsch spricht“, sagt Brütting, „wie man Einladungen, Absagen formuliert.“

Drei der 60 Staatssekretäre der Bundesregierung kommen aus dem Osten

Von Machtmenschen und Machtspielen redet er, vom grundsätzlichen Fremdeln vieler seiner Kollegen mit jenen, für die sie da sein sollten. „Was die Leute hier bewegt, sind die Dinge, die ihnen im Zuge der Wende zugestoßen sind“, sagt Brütting. „Tausende haben hier erst mal auf der Straße gelegen. Es gibt hier Familien, die haben zwei, drei, mehrere Traumen.“

Die Macher der Fernsehdokumentation fanden gemeinsam mit der Leipziger Universität heraus, dass Ostdeutsche in vielen Bereichen der ostdeutschen Gesellschaft unterrepräsentiert sind. 23 Prozent beträgt ihr Anteil an Führungspositionen in den neuen Bundesländern, bei 87 Prozent Bevölkerungsanteil.

Drei der 22 akademischen Leiter der größten ostdeutschen Hochschulen sind Ostdeutsche. Drei der insgesamt 60 Staatssekretäre der Bundesregierung. Zwei von 200 Generälen und Admiralen der Bundeswehr.

Jeder 17. unter den Vorsitzenden Richtern der obersten Gerichte in den neuen Bundesländern ist Ostdeutscher. Jede dritte Führungskraft in den 100 größten ostdeutschen Firmen. Jeder siebte Instituts- oder Bereichsleiter der größten ostdeutschen Forschungseinrichtungen. Der Anteil ausländischer Wissenschaftler ist höher. „Die Leute fühlen sich fremdbestimmt“, sagt Brütting noch einmal.

Doch erklärt dies irgendetwas? Ist damit das Geschehen von Clausnitz zu begründen, die AfD-Wahlerfolge ostdeutschlandweit? Speist sich die wöchentliche Pegida-Demonstration aus lauter nicht zum Zuge gekommenen Ost-Professoren?

So viele Gedanken in seinem Kopf, sie wollen raus

Brütting sagt: „Die Leute sind nicht so dumm, die merken das.“ Sie würden es „nicht hundertprozentig auf den Punkt kriegen, weil sie nicht so in der Materie drin sind. Aber sie merken es.“

Stellvertretend, gewissermaßen. Bis es unverzichtbarer Teil der Volksseele geworden ist. Und Seelen funktionieren nicht nach den Gesetzen der Logik.

Auch Brüttings eigene nicht. Seine Arbeit im Ministerium, über die er sich so ausufernd beschweren kann, nennt er genauso umstandslos „den besten Job der Welt“, spricht von Kollegen aus dem Westen, die besser waren als die Eingeborenen und „sich den Hintern aufgerissen haben“.

Er selbst, der die Materie sehr gut kannte, hat auf seiner Biografie-Liste unter dem Einstellungsdatum im Dresdner Ministerium aber auch vermerkt: „Verwaltungshilfen westliche Abordnungen, Besoldung plus 21 – 43 Prozent, plus Höhergruppierung, Buschzulage, Beförderung“. Westler bekamen also mehr Geld und machten steilere Karrieren.

Ist das Neid, oder einfach nur der Hinweis auf eine Tatsache, die nach der Wiedervereinigung möglicherweise unumgänglich war, um genug Verwaltungspersonal aus der alten Bundesrepublik in die alten DDR-Büros zu locken? Der Stachel sitzt jedenfalls tief.

Es ist ein eigentümliches Hin und Her, das dieser Mann zum Besten gibt, ein dauerndes Einerseits-Andererseits. So eigentümlich wie das Leben. Manchmal wirkt er, als wisse er nicht, was er wolle, so viele Gedanken kreisen in seinem Kopf und wollen raus.

Merkels „Wir schaffen das“ - Populismus „auf dem Rücken der vielen Ehrenamtler“

Einmal draußen, kreisen sie weiter, um seine hohen Ansprüche an die Eliten dieses Landes und die an sich selbst. Manchmal überschätzt er sich. Er wolle eigentlich nicht weiterreden, sagt er, es sei ja Bundestagswahlkampf, den wolle er nicht beeinflussen.

Das ist die Selbstüberschätzung eines Mannes, der in der späten DDR immer mal wieder und völlig folgenlos Draht aus dem Grenzzaun herausgeschnitten hat, immer dann, wenn er in der Nähe zu tun hatte. Aus Spaß, sagt er, „um die zu ärgern“. Der ausweislich eines weiteren Eintrags in seiner Lebenslaufliste Ansiedlungen „von Audi, VW, Fresenius, Porsche, DHL und weiteren 1200 Unternehmen“ mit ermöglicht hat und damit Sachsens Wohlstand vermehrt.

Anselm Brütting vorm Plauener Wende-Denkmal.
Anselm Brütting vorm Plauener Wende-Denkmal.
© Torsten Hampel

Er redet dann trotzdem. Brütting redet viel zu gern. Der Populismus-Vorwurf zum Beispiel, an die Rechten im Landtag, der ist ihm zu billig. Merkels „Wir schaffen das“ sei auch populistisch gewesen, „auf dem Rücken der vielen Ehrenamtler, die ich verehre“.

Auf dem Rücken von Leuten, die allein gelassen worden seien von der Politik, eine Frechheit sei das. Brütting, dessen großes Thema die schleppende Integration von Ost- und Westdeutschland ist, falsch gestellte Weichen nach der Wiedervereinigung, ist nun wieder in der Gegenwart angekommen. Klar, „Integration heißt ja, die Flüchtlinge müssen sich hier einpassen.“ Dann kommt sofort das Andererseits: „Wir müssen uns auch anpassen.“ Vielleicht mal ein paar Brocken der Asylbewerbersprachen lernen, mal welche von ihnen treffen. „Dass sich da was reibt im Alltag, ist normal“, sagt er.

Plauens beste Zeiten liegen Jahrzehnte zurück

Der Staat indes müsse stark sein, und Stärke heiße: aus Fehlern auch einmal zu lernen, zumal wenn sie so blutige Konsequenzen haben wie im Dezember, als der als Flüchtling registrierte Tunesier Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz zwölf Menschen tötete. Und öfter mal bei den eigenen Leuten nachfragen.

„Demokratie“, sagt Brütting, „hoch soll sie leben, aber da gehört jede Stimme dazu.“ Die Stimme auch des letzten Wahlmuffels aus dem Erzgebirge und die der angeblich Unverstandenen, die in Dresden auf die Straße gehen.

Ingenieure, heißt es oft, denken so; und Brütting war ja mal einer: Sie sehen die Welt nicht als Problem, sondern konzentrieren sich auf Lösungen. Sie haben, selbst wenn sie aus Sachsen kommen, kein Interesse daran, sich länger als nötig mit Bestandsaufnahmen aufzuhalten. Sie wollen Dinge ändern.

So kommt es, dass selbst einer wie Brütting, der 1989 in vorderster Reihe die parlamentarische Demokratie erstritten hat, heute ihre Unzulänglichkeiten sieht und Verbesserungsvorschläge macht.

Das wäre auch ein kluger Zug, um der sächsischen Volksseele das Gefühl der Fremdsteuerung zu nehmen, oder wenigstens ein paar der Argumente dafür.

Brütting läuft durch Plauen. Sieht sich um in seiner Heimatstadt, gelegen in Südwestsachsen. Tschechien und Bayern – und damit die einstige Zonengrenze – sind nicht weit. Plauens beste Zeiten liegen Jahrzehnte zurück. „Die Stadt war zu DDR-Zeiten zum Absiedeln angelegt, nicht zum Aufbauen“, sagt Brütting.

Er ist unzufrieden. Er darf das sein

Außer ihm sind an diesem Dezembervormittag nicht viele Leute unterwegs, der Marktplatz ist fast menschenleer. Bauarbeiter decken das Dach eines prächtigen Hauses.

Brütting hat hier etliche Spuren hinterlassen. In seiner Zeit als Bauingenieur half er mit, das Rathaus umzubauen, er baute an der Fußgängerzone und sanierte eine Barockkirche. Nach dem Mauerfall war er ein gutes Jahr lang stellvertretender Bürgermeister in Plauen, er ist Mitglied im Lions-Club, organisiert Wohltätigkeitsveranstaltungen, Chorabende, ist Gründungsmitglied diverser Fördervereine. Er hat das Plauener Wende-Denkmal erstritten und die „Sächsische Förderfibel“ abends nach der Arbeit geschrieben, eine Auflistung aller sächsischen Subventionsprogramme.

Und ja, er ist unzufrieden. Er darf das sein, denn er kümmert sich. Sagt dann sofort, dass er aber auch zuversichtlich sei. Ein Wort, dass kaum irgendwo schlechter hinzupassen scheint als hierher.

Läuft jetzt rüber Richtung Theater, das er einst mitsaniert hat, meckert über die Stadtverwaltung, die dabei ist, eine neue Parkgebührenordnung zu erarbeiten. Dann werde es in der Innenstadt noch leerer, als es jetzt schon sei, sagt er. Das sei doch kein wirtschaftliches, kein unternehmerisches Denken. Schaut beim Wende-Denkmal vorbei, ob Müll dort herumliegt.

Alles sauber, fein. Nur die Leuchte im Denkmal-Inneren müsste mal wieder gereinigt werden. Dann muss er weiter, ein Orgelkonzert organisieren, für Weihnachten. Für Weihnachten 2017.

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