Proteste: Der Anfang vom Ende der DDR
Die SED-Oberen wollen sich zum 40. Jahrestag noch einmal bejubeln lassen. Doch die Menschen gehen längst mit geballten Fäusten auf die Straße. In Plauen, Dresden und Leipzig erobern die Massen am 7., 8. und 9. Oktober die Macht – friedlich.
Den Herrschenden lief das Volk weg, der Unmut in Kirchen und auf Straßen wurde immer lauter, der Staat hatte abgewirtschaftet. Doch am 7. Oktober 1989 will der alte Parteiapparat noch einmal seine Macht demonstrieren. Der 40. Jahrestag der DDR soll mit Parolen und Fackeln die Errungenschaften des Sozialismus preisen – aber den meisten Menschen ist nicht zum Feiern zumute.
So wird die verordnete Jubelfeier unversehens zum Abgesang auf das SED-System. Denn in vielen Städten und Dörfern gehen die Bürger mit geballten Fäusten auf die Straße. In Berlin werden zahlreiche Menschen verhaftet. Und in Schwante nördlich von Berlin legt ein kleiner Kreis um Markus Meckel und Martin Gutzeit ausgerechnet am 7. Oktober die Keimzelle der neuen Sozialdemokratie in der DDR: Sie gründen die SDP, die Sozial-Demokratische Partei.
Vor allem in Sachsen, damals noch gegliedert in die drei Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt, brach sich der Protest auf den Straßen Bahn. Drei Demonstrationen an drei aufeinanderfolgenden Tagen – am 7. Oktober in Plauen, am 8. Oktober in Dresden und am 9. Oktober in Leipzig – prägten die friedliche Revolution in der DDR. Der Mauerfall war am 9. November schließlich das Ergebnis des Druckes von der Straße. In der sächsischen Landesvertretung in Berlin berichteten dieser Tage Protagonisten der Demonstrationen aus allen drei Städten über ihre damaligen Erlebnisse.
PLAUEN, Samstag, 7. Oktober 1989:
Es ist ein regnerischer Tag im Vogtland. In der Bevölkerung hat sich Frust angestaut, seit die Züge mit Botschaftsflüchtlingen aus Prag auf dem Weg zum 30 Kilometer entfernten Hof durch Plauen gerollt sind. Im Laufe des Tages versammeln sich immer mehr Menschen im Stadtzentrum, bald sind es 10 000. Es bildet sich ein Demonstrationszug, der in Richtung Rathaus zieht und den dort gebildeten Polizeiketten immer näher rückt. Auch Superintendent Thomas Küttler ist mit drei seiner vier Kinder gekommen. Er hatte in seinem Briefkasten einen Zettel gefunden, auf dem von einer bis heute unbekannten Initiative zu einer „Demonstration für Bürgerrechte auf dem Theaterplatz“ aufgerufen worden war. „Das fing 15 Uhr an. Bald schon wurden Wasserwerfer und Polizeihunde gegen die Demonstranten eingesetzt, aber es gelang ihnen nicht, die Massen zu zerstreuen“, erinnert sich der heute 71-Jährige. Schließlich hätten die Wasserwerfer versagt. Die Menschen johlten – „was glauben Sie, was für ein unglaublich schönes Signal das für Demonstranten ist, wenn einem Wasserwerfer das Wasser ausgeht“, sagt Küttler. Über der Menschenmenge kreist ein Hubschrauber, in dem, wie Küttler inzwischen weiß, der Polizeichef des Bezirkes Karl-Marx-Stadt saß.
„In dem Moment sagte ich mir: Wenn etwas zu tun ist, um die Situation zu entspannen, dann bin ich einer von denen, denen das gelingen kann“, berichtet der Kirchenmann. Denn man kannte ihn in der Stadt – die Gruppen, die im Raum der evangelischen Kirche über die Situation im Land diskutierten ebenso wie der Oberbürgermeister.
Küttler geht auf den Anführer der Polizeikette zu. Es überrascht ihn, dass der ein wenig zur Seite tritt, um den Superintendenten passieren zu lassen. „Im Rathaus traf ich auf eine ratlose Führungsriege. Sie meinten, ich dürfe zur Menge etwas sagen.“ Küttler tritt auf einen Mauervorsprung vor dem Rathaus und spricht in ein Megafon. „Ich wiederholte immer wieder die Worte, das Wichtigste sei, keine Gewalt anzuwenden.“ Und er verkündet, dass in der darauffolgenden Woche eine Gruppe von 25 Leuten mit dem Oberbürgermeister sprechen könne.
Im Rathaus hatte der Kirchenmann zuvor klargemacht, dass es „ein Signal für Frieden wäre, wenn der Hubschrauber abgezogen würde“. Und als sei es eine Szene aus einem Drehbuch, schwenkt der Hubschrauber ab, die Glocken der Lutherkirche läuten und die Menge zerstreut sich mit dem Ruf: „Wir kommen wieder.“
DRESDEN, Sonntag, 8. Oktober 1989:
Der katholische Priester Frank Richter ist in Dresden seit Tagen mit dem Volkszorn konfrontiert. Am Hauptbahnhof waren junge Leute, die versucht hatten, zu den Zügen mit den Botschaftsflüchtlingen zu gelangen, von der Polizei brutal niedergeknüppelt worden. Aufgebrachte Dresdner besetzten daraufhin die katholische Hofkirche. Am Morgen des 7. Oktober fand Richter ein anonymes Schreiben in seinem Briefkasten. Auf 14 Seiten hatte darin einer derjenigen, die bei den Ausschreitungen am 4. oder 5. Oktober verhaftet worden waren, die Zustände im Dresdner Gefängnis geschildert. „Das trug konzentrationslagerähnlichen Charakter“, erinnert sich Richter. Für ihn war spätestens zu diesem Zeitpunkt klar, dass sein Platz auf der Straße war.
Am 8. Oktober gelangt der Priester durch Zufall an die Spitze des Demonstrationszuges. 20 000 Menschen haben sich versammelt. Am Hauptbahnhof, dort, wo an den Vortagen geprügelt wurde, stehen sie einer Polizeikette gegenüber. Auch rechts und links ist Polizei aufmarschiert. Sie sind eingekesselt. Richter und ein Freund fragen die Uniformierten, wo sie den Einsatzleiter finden. „Wir haben 20 Polizisten gefragt, keiner konnte uns ins Gesicht schauen.“ Und die beiden fragten sich: Wer hat hier eigentlich Angst?
Endlich steht der Polizei-Einsatzleiter vor ihnen, in Zivil. Er ist genauso alt wie Richter, 29 Jahre. Der Geistliche sagt zu ihm: „Wir wollen keine Gewalt. Ich rede mit den Demonstranten, Sie bringen Berghofer (Dresdens Oberbürgermeister – d. Red.) her. Er sagte: ,Ja, ich gehe telefonieren‘.“ Richter klettert auf den Springbrunnen in der Prager Straße, um zu den Demonstranten zu sprechen. Eigentlich ein sinnloses Unterfangen, denn der Springbrunnen plätschert so laut, dass den Mann keiner verstehen würde. Doch wieder gibt es eine drehbuchreife Szene: Der Brunnen schweigt plötzlich. Wahrscheinlich beendet er seinen Dienst immer zu dieser Tageszeit, es ist 20.30 Uhr. Aber auf Richter wirkt die Situation wie ein „psychologisches Erlösungsmoment“.
Der Mann versucht, aus den Demonstranten eine Gruppe zu bilden, die mit Berghofer reden soll. Er denkt an zehn Leute, aber 50 melden sich. 23 werden ausgewählt. Richter fragt in der Gruppe nach den Themen, die in dem Gespräch mit dem Staat am wichtigsten sind. „Als Erstes wurde Reisefreiheit geschrien, dann kamen Wahlfreiheit, Pressefreiheit – insgesamt acht Forderungen, die sich wie ein Katalog der bürgerlichen Freiheitsrechte ausnahmen.“ Und für den Mann der Kirche war klar: Dieses Volk war reif, aber es war von den Herrschenden für dumm verkauft worden.
Dass zum gleichen Zeitpunkt im Rathaus drei evangelische Geistliche mit Berghofer sprechen, wissen die Demonstranten von der Prager Straße nicht. Im Ergebnis werden vier Kirchen ausgewählt, in denen es in den kommenden Tagen Bürgerversammlungen geben soll. „Innerhalb von ein bis zwei Stunden hat sich eine Stadt demokratisiert. Es gab mehrere handelnde Personen. Aber der einzige Held war das Volk“, sagt Frank Richter.
LEIPZIG, Montag, 9. Oktober 1989:
Im Anschluss an die traditionellen Friedensgebete hatten sich in Leipzig in den vergangenen Wochen immer mehr Menschen an Montagsdemonstrationen beteiligt. Der 9. Oktober steht dann unter keinem guten Stern: Die Machthaber wollen dem Spuk ein Ende bereiten. Die Drohung, dass das Regime Ernst macht, wird in den Betrieben, den Krankenhäusern und in den Medien fleißig gestreut. Das Wort von der chinesischen Lösung macht die Runde – von jenem Massaker im Juni 1989, bei dem in Peking der Volksaufstand blutig niedergeschlagen wurde. Dadurch sollen die Menschen abgeschreckt werden, sich an der Demonstration zu beteiligten.
„Wir kriegten es mit der Angst zu tun“, sagt Martin Jankowski. Der damals 24-Jährige hatte in verschiedenen Leipziger Basisgruppen mitgemischt und war Sprecher des Trägerkreises, der deren Aktivitäten koordinierte. Als Liedermacher hatte er die Forderungen und die Visionen der bürgerbewegten Opposition in Verse und Melodien gekleidet. Viel später wird er die Vorgänge vom 9. Oktober in Leipzig, die ihn seither nicht mehr loslassen, in einem Buch dokumentieren – „Der Tag, der Deutschland veränderte“.
An jenem Montag füllt sich die Innenstadt trotz der aufgeheizten Atmosphäre schnell. „Ab 14 Uhr hatten SED-Truppen die Nikolaikirche besetzt – sie hatten von der offenen Kirche Gebrauch gemacht“, sagt Jankowski. Die Staatstreuen sollen den Oppositionellen die Plätze wegnehmen. Fast geht das Konzept auf. Aber Pfarrer Christian Führer kann wenigstens die Emporen für die „richtigen“ Friedensbewegten freihalten.
„Wir hörten in der Kirche das Toben und Tosen der Menschen draußen, die Polizeisirenen“, erinnert sich Jankowski. In vier sächsischen Kirchen hatten sich Menschen zum Friedensgebet versammelt, und der sächsische Landesbischof Johannes Hempel spricht in jedem dieser Gotteshäuser. „Er sagte: ,Bleiben Sie friedlich, gehen Sie nach dem Friedensgebet nach Hause‘. Doch diesem Rat sind wir in Leipzig nicht gefolgt“, sagt Jankowski.
70 000 Menschen ziehen an diesem Abend auf dem Ring um die Innenstadt. Sie skandieren: „Wir sind keine Rowdys“ und „Wir sind das Volk“. „Das waren nicht alles Leipziger. Ungefähr die Hälfte davon kam aus dem ganzen Land“, schätzt Janowski. „Leipzig war die Bühne der friedlichen Revolution.“ Zwar hätten 8000 Bewaffnete und Sondereinsatzkräfte bereitgestanden. „Aber 70 000 auf der anderen Seite waren einfach zu viele.“
Sechs prominente Leipziger, unter ihnen drei SED-Funktionäre und Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, hatten über den Stadtfunk zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Doch das ist nach Ansicht Jankowskis nicht entscheidend gewesen für die Friedlichkeit – denn akustisch wurden die Appelle kaum verstanden.
Die Leipziger Einsatzleitung wagt nicht, eine Entscheidung zu treffen. Das für Sicherheitsfragen zuständige Politbüromitglied Egon Krenz wird in Berlin angerufen. Der verspricht, sich wieder zu melden. Doch der Anruf kommt nicht. Die Einsatzleitung entscheidet, nicht gegen die Demonstranten vorzugehen, sondern nur die öffentlichen Einrichtungen zu schützen. Für Jankowski steht fest: „Das war eigentlich das Ende der DDR.“ Denn wie ein Fanal geht die Botschaft von Leipzig durchs ganze Land: Die Massen haben die Kraft, die Herrschenden friedlich zu besiegen.
Matthias Schlegel