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"Pegida"-Demonstration in Dresden.
© dpa

"Pegida"-Demonstrationen: Geballte Wut in Dresden

Er sagt es immer wieder, gebetsmühlenartig: Ich bin kein Nazi. Trotzdem zieht Jens Becker mit „Pegida“ jeden Montag durch Dresden und demonstriert gegen Islamisierung. Viel wütender ist er aber auf Deutschland.

Von Torsten Hampel

Die Gewissheit kam mit der Post. Vorher war es für Jens Becker immer nur so ein Gefühl gewesen. Er spürte, etwas konnte schon längst nicht mehr stimmen in seinem Land. Das Gefühl war dort angesiedelt, wo Gefühle üblicherweise hingehören, in seinem Bauch, und Becker bekam es kaum zu fassen. Doch nun hatte er es schwarz auf weiß.

Becker, der Arbeiter, hielt einen Brief vom Amt in den Händen. Datiert war das Schreiben auf den 1. August 2014: „Sehr geehrter Herr Becker, der Bescheid wird zurückgezogen“, stand da. Es folgten seitenweise Behördenworte, dazwischen standen Paragrafenzahlen und Abkürzungen. Becker musste seinen Kopf anstrengen, um zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Satz für Satz las er, Begründungen und Belehrungen, sie brannten sich ein. Das Amt, begriff er, würde ihm fortan Geld verweigern, das ihm bislang zugestanden hatte.

Aus dem Gefühl war damals im August eine Überzeugung geworden. „Das Grundübel“, nennt Becker sie heute, „das Grundübel, dass Arbeiterfamilien hier benachteiligt werden.“ Diese Überzeugung wiederum machte aus ihm einen „patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, einen regelmäßigen Teilnehmer der Dresdner „Pegida“-Demonstrationen.

Neid und Hass auf Ausländer

Es mag so klingen, als hätten das Grundübel und Pegida nichts miteinander zu tun, als hätte Becker genauso gut dem Anglerverein beitreten können, anstatt an den vergangenen vier Montagabenden gegen Islamisierung auf die Straße zu gehen. Becker indes vermag keinen Umweg zu erkennen, für ihn zieht sich eine direkte Linie von Behördenbriefen wie seinem aufs Pflaster seiner Heimatstadt. Er sagt: „Da beginnt der Neid und der Hass auf die Ausländer.“ Das Geld, das den Eingeborenen fehle, bekämen die.

Weil er das sagt und noch viel mehr, was nicht nur für ihn unangenehm werden könnte, sondern auch für seine Angehörigen, heißt Becker in Wirklichkeit anders. In dieser Wirklichkeit ist er um die 40 Jahre alt und Baumaschinist. „Alles, was auf einer Baustelle Ketten und Räder hat, das fahr’ ich“, sagt er. In einem guten Monat verdient er 1125 Euro und 76 Cent netto, in einem schlechten wie zum Beispiel dem vergangenen Februar sind es 738 Euro 70 Cent – Saisonkurzarbeitergeld wie regelmäßig im Winter. Samstags arbeitet er schwarz. Beckers Frau arbeitet Teilzeit, sie bringt 500 Euro im Monat heim. Die Wohnungsmiete kostet sie 950 Euro, zum Haushalt gehören drei Kinder.

Versehen mit diesen Koordinaten – beide haben Arbeit und Einkommen, eine schöne Wohnung in guter Lage – zählen die Beckers zu jenen „Normalbürgern“, die angeblich die Mehrheit der „Pegida“-Demonstranten stellen sollen. Sie sind vielleicht nicht ganz die „bürgerliche Mitte“, von der ähnlich oft die Rede ist. Aber noch weniger sind sie Chaoten, wie der Bundespräsident die Demo-Teilnehmer nannte.

Schlüsselloch zur Gedankenwelt

Hier, an dieser Stelle, sollen die Beckers gar nichts sein, außer eine Art Schlüsselloch zur Gedankenwelt der „Pegida“-Mitmacher. Vielleicht sind sie tatsächlich repräsentativ für die zuletzt 10 000 Protestler, aber vor allem: Sie sind die Einzigen, die zu finden waren, die Einzigen, die sich nach zahllosen anderweitigen Versuchen ausführlich und erschöpfend erklären wollen.

Also, Herr Becker, noch einmal von vorn, was war los im August? Er reicht den Behördenbrief herüber. „Sehr geehrter Herr“, „der Bescheid wird zurückgezogen“, Begründung: „Ihr Sohn ging einer geringfügigen Beschäftigung nach. Dieses Einkommen haben Sie uns nicht gemeldet.“

Der Sohn ist im Teenageralter wie sein Bruder, beide hatten in den Ferien Aushilfsjobs in der Gastronomie. Der eine räumte Gläser in einer Gaststätte ab, der andere arbeitete in einer Eisdiele. Beide Jobs waren ordnungsgemäß registriert, so erfuhr das Wohngeldamt davon und rechnete die Saisoneinkünfte der Kinder auf ein ganzes Jahr hoch. Damit war der Wohngeldzuschuss für die Familie erledigt. Die zuständige Sachbearbeiterin hat noch versucht, dies abzuwenden, aber es ist offenbar rechtens so.

Im nächsten Sommer darf Becker den Zuschuss wieder beantragen. Er wird dann vor einem Dilemma stehen. „Entweder ich sage den Kindern, wenn ihr wieder arbeiten wollt, dann schwarz“, sagt er. „Oder ich beantrage kein Wohngeld mehr. Dann fallen wir aber aus dem System ,Bildung und Teilhabe‘ raus, das Klassenfahrten bezahlt, Sportvereinsgebühren und so.“ Denn dieses System setzt voraus, dass eine Familie bedürftig ist, und bedürftig ist nur, wer irgendeine Sozialleistung bezieht.

Eine ellenlange Liste seiner Unzufriedenheiten

Becker kann nichts mehr richtig machen in der Angelegenheit. „Das schaukelt sich dann hoch“, sagt er, „du kannst nichts daran ändern, bist hilflos, schämst dich, manchmal heulst du.“

Eine beim Hochschaukeln wichtige Wegmarke in Beckers Leben ist auch die vorletzte Bundestagswahl gewesen. Er hat damals FDP gewählt, wegen der Steuersenkungen, die die Partei versprach. „Tja, verarscht.“ Bei den sächsischen Landtagswahlen in diesem Jahr hielt er sich an die CDU, „beide Kreuze“, sagt er. Aber diese Partei lasse ja nun die ganzen Ausländer rein.

Der Umgang mit Kriminellen in Deutschland, noch so eine Sache. „Die werden nicht so belangt, dass die sich sagen: Das mach’ ich nicht wieder.“ Becker kennt da einen ehemaligen Drogenhändler, seinen Bruder. Vier Jahre, sechs Monate hat der bekommen, kam aber nach Beckers Meinung viel zu rasch in den offenen Vollzug, man lässt ihn studieren, auch zu Weihnachten kommt er raus.

„Aber wehe, du hinterziehst hier Steuern“, sagt Becker, um dann ein paar Minuten später den Justizvollzug in Sachen Hoeneß zu kritisieren, der käme ja auch über Weihnachten aus dem Gefängnis. Weil er so reich ist. Hochgeschaukelt hat sich außerdem: Beckers Kenntnis der Einkommensverhältnisse des Europaparlaments-Präsidenten. Der Berliner Flughafenneubau, der Stuttgarter Bahnhof, böse ausgegangene Spekulationsgeschäfte ostdeutscher Großstadtkämmerer und andere Steuergeldverbrennungen. Waffenlieferungen ins Ausland, Angst vor Altersarmut. Anfragen an den Dresdner Stadtrat – Becker kenne da Leute, die hätten Briefe geschrieben –, die nicht beantwortet werden.

"Die Menschen, die dort stehen, die wollen erhört werden"

Er zählt eine ellenlange Liste seiner Unzufriedenheiten auf. Kaum einmal, sagt er, habe er die Erfahrung gemacht, dass die Politik sie auch nur zur Kenntnis genommen hätte. Genauso, sagt er, ginge es den anderen „Pegida“-Demonstranten. „Die Menschen, die dort stehen, die wollen erhört werden. Deshalb stehen die da.“

Na gut, vielleicht nicht alle. „Ich bin mir sicher, dass bei 10 000 auch irgendwelche Schwammköpfe dabei sind“, sagt Becker. Genauso sicher wie bei jenen 9000 anderen, die am vergangenen Montag beim Sternmarsch „Dresden für Alle“ gegen die „Pegida“-Demonstration auf der Straße waren.

Kaum ein Verweis auf die Nazis in den eigenen Reihen kommt bei „Pegida“-Anhängern derzeit ohne den Hinweis auf die Extremisten in den Reihen der anderen aus. So, als schiene das eigene Problem erledigt, wenn man ein Fass anderswo aufmache.

Wer nur auf die äußeren Umstände schaut, der könnte Becker für einen zufriedenen Menschen halten. Die schöne Wohnung, die schöne Lage, vorm Balkon stehen Kiefern, und wenn er aufs Dach steigt, kann er den Königstein sehen. Er bekommt immerhin Kindergeld von diesem Staat, mit dem er so hadert, und er sagt, sein Chef sei ein guter Chef.

Becker hat einfach Angst

Doch dann steht er doch wieder morgens um fünf Uhr auf, extra eine halbe Stunde früher als nötig, um Zeitung zu lesen. Er liest von Messerstechereien in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber und erst vergangene Woche von einer Drogenrazzia am Dresdner Hauptbahnhof, nach der Polizisten von einer „Gruppe Nordafrikaner“ mit abgebrochenen Flaschen beworfen und bedroht wurden. Es gab 40 Festnahmen.

„Wir nehmen diese Menschen hier auf“, sagt Becker, „und dann schlage ich die Zeitung auf.“ Wie er von seiner finanziellen Unzufriedenheit auf seine Abneigung gegen Einwanderer kommt, hat er ja schon beschrieben, den Rest besorgen solche Informationen. Man muss ihm an dieser Stelle gar nicht mit Statistiken kommen, egal ob sie seine Sicht der Dinge bestätigen, bestärken oder relativieren. Becker hat einfach Angst. Er will so etwas – in welcher Dosis auch immer – nicht im Land haben. „Ich will hier auch kein Minarett und keine Moschee. Ich will diese Religion hier nicht, der Islam, ich höre nichts Gutes von dort. Ich will hier keine Burka sehen.“ Er erklärt diese Angst auch mit seiner eigenen Erfahrungslosigkeit. Die „Pegida“-Demonstrationen hätten vielleicht so viel Zulauf, „weil wir hier jetzt zum ersten Mal damit konfrontiert sind“.

Eine Burka indes hat er tatsächlich schon einmal gesehen. Bei einer Frau, die ihr Kind zum Arzt gebracht hat. „Ich meine, wir reden hier gerade über Frauenquoten, Frauen sollen Berufe haben und aufsteigen können. Wie passt das denn dazu?“ Seine Mutter habe diesbezüglich vor kurzem ein spezielles Erlebnis gehabt. Sie hat mit Schulkindern zu tun, und eines Tages saß ihr ein irakischer Vater gegenüber. Der habe sie so abfällig behandelt, dass sie noch Tage danach völlig aufgelöst gewesen sei. Seine Mutter übrigens, die immer dann, wenn das Ehepaar Becker zur „Pegida“-Demonstration geht, das Enkelhüten verweigert.

„Eine gewisse Ausländerfeindlichkeit ist mit Sicherheit bei mir gegeben“, sagt Becker. Aber so was kommt von so was, die hab’ ich nicht in mich reingepflanzt.“

"Pegida" prüft Fragen gründlich. Und antwortet selten

Beckers Schwester ist, was „Pegida“ angeht, noch weiter weg von ihm. Dennoch ist die Familie weiter eine Familie, sie hassen sich nicht, sie reden miteinander.

Dass Reden womöglich eine gute Idee sein könnte, haben auch Teile der Politik erkannt. Innenminister Thomas de Maizière sagte, „unter denjenigen, die da teilnehmen, gibt es doch ganz schön viele, die bringen ihre Sorgen zum Ausdruck vor den Herausforderungen unserer Zeit“. Diese Sorgen „müssen wir ernst nehmen, damit müssen wir uns auseinandersetzen“.

Dass es Redebedarf zwischen den politischen Parteien und dem Volk zu geben scheint, hatte sich bereits bei der letzten Landtagswahl angedeutet, als nicht einmal mehr die Hälfte der Leute zum Abstimmen ging. Es jetzt ausgerechnet mit denen zu versuchen, die sich demonstrativ abwenden, ist schwerer als gesagt. In Dresden haben die „Pegida“-Organisatoren vor zwei Wochen die Einladung zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung verstreichen lassen.

Wer auf den Demonstrationen bisher versucht hat, auf die Teilnehmer zuzugehen und Fragen zu stellen, bekam im allerbesten Fall die höfliche Ansage, man sei an einem Gespräch nicht interessiert. Wer schriftlich bei den Organisatoren anfragt, muss bis heute sein Einverständnis dazu erklären, dass sie bei Unzufriedenheit – „für den Fall, dass Sie uns unvollständig oder falsch zitieren“ – „den kompletten Schriftverkehr veröffentlichen“. Denunziationen und Beleidigungen gibt es dann inklusive.

Eine Art Waffengleichheit

Man kann das lächerlich finden oder für paranoid halten, es soll in den Augen von „Pegida“ aber wohl vor allem eine Art Waffengleichheit herstellen. Waffen braucht man im Krieg, und in einem solchen Krieg wähnt sich „Pegida“ offenbar, die Gegner sind die Medien. Wer bei den Demonstrationen mitläuft und nicht komplett taub ist, hört das überdeutlich.

Man kann aber auch anrufen. Es gibt eine nicht allzu schwer zu findende Handy-Nummer, und dann geht Lutz Bachmann ran. Bachmann – Träger des sächsischen Fluthelferordens und vorbestraft – ist so etwas wie der Wortführer von „Pegida“, er organisiert zusammen mit einem Dutzend anderer die Demonstrationen und hält dort Reden. Einmal erreicht man ihn, so sagt er, auf dem Weg zur Polizei, um dort Demo-Fragen zu besprechen. Einmal findet er einen sympathisch, und ja, die Anfrage habe „Pegida“ erreicht, ein wenig Geduld bitte, es seien insgesamt mehr als 700. Beim nächsten Mal sitze er gerade im Auto, man selber hat aber offenbar verloren. Ja, die Anfragen würden weiter abgearbeitet, aber wer zu oft nerve …

Das ist schade, denn einige Fragen hätte man schon gehabt. Zum Beispiel nach dem Positionspapier, das die „Pegida“-Organisatoren im Lauf der vergangenen Woche online stellten. Es listet 19 Forderungen auf, darunter sind welche, die auch grüne und linke Parteigänger unterschreiben würden. Unter 1. steht dort: „Pegida ist für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und politisch oder religiös Verfolgten. Das ist Menschenpflicht!“

Kriegsflüchtlinge Ja, unbedingt

Genau dasselbe sagt Becker auch, und zwar gebetsmühlenartig. Kriegsflüchtlinge Ja, unbedingt. Die sollen auch arbeiten dürfen, Arbeit gebe es in Deutschland genug. Aber sie mögen nach Kriegsende bitte rasch wieder nach Hause fahren. Wirtschaftsflüchtlinge dagegen – bei allem Verständnis, er wäre ja selbst einer, wenn er nur wüsste wohin – Nein. Außer die Einwanderer sind Ärzte, wir haben hier ja Ärztemangel im ländlichen Raum. Die können dorthin, und bei den Einwohnern solle die Politik dann auch ruhig vorher Vertrauen wecken.

Er macht diese Unterscheidung ungefähr genauso oft, wie er „Ich bin kein Nazi“ sagt. Das ist der erste Satz aus jenem Rechtfertigungskarussell, das sich im Dresden dieser Tage so schnell dreht wie wohl nirgendwo sonst im Land. An diesem Montagabend wieder. „Ich bin kein Nazi, das tut mir weh, wenn ich das höre.“ Aber.

Becker wird wieder etwas früher als üblich Feierabend machen, damit eine Überstunde ungenutzt verstreichen lassen und dann ins Stadtzentrum fahren. Er wird, da ist er sicher, wieder seinem Fleischer, dem Verkäufer vom Blumenladen und der Chefin seiner Frau begegnen. Er wird zwei alte Freunde und zum ersten Mal einen seiner Söhne dabeihaben, der sich „ein Bild machen“ will und sich vor kurzem noch einen Antifa-Pullover von ihm gewünscht hat.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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