Krise in Griechenland: Die Schwächsten werden noch mehr leiden
Die Griechen machen weiter, irgendwie. Doch die Schwächsten trifft es am schlimmsten. Medikamente sind für viele zu teuer, Familien zerbrechen, Flüchtlinge hungern. Alle eint die Angst, dass dies erst der Beginn ist.
In den Bars und draußen auf den Bürgersteigen vor den Straßenlokalen in Athen ist es im Sommer immer voll. Seit einigen Tagen aber treffen sich junge Griechen zum Bier an einem ganz neuen Ort: In der Schlange vor dem Geldautomat. Gerade nachts zwischen zwei und drei Uhr, zwischen dem ein oder anderen Getränk, stehen die Chancen nicht schlecht, die täglichen sechzig Euro ohne stundenlanges Anstehen ziehen zu können. Da kleine Scheine rar sind, gibt es aber meist ohnehin nur 50 Euro. Und wenn der Automat leer sein sollte, was auch nicht selten vorkommt, dann ziehen die Grüppchen eben weiter. Das Leben in Griechenlands Hauptstadt, es funktioniert noch. Irgendwie. Die Menschen retten sich von einer Abhebung zur nächsten, für den Einkauf auf dem Wochenmarkt reicht es noch, eine Einladung zur Hochzeit bringt schon in Bedrängnis und den Sommerurlaub haben viele ganz gestrichen. Ansonsten verharren sie, warten auf eine Lösung, auf ein Ende des Ausnahmezustands. Der trifft bisher vor allem die hart, die ohnehin zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören. Die Alten, die Armen, die Kranken, die Flüchtlinge.
Der Kardiologe Georgis Vichas hat gemeinsam mit etwa 100 Kollegen aller Fachrichtungen in einer alten Baracke auf dem Gelände des früheren Athener Flughafens und US-Militärstützpunkts Hellinikon in den vergangenen vier Jahren ein Freiwilligenzentrum aufgebaut. Vichas, 53, ist ein stets freundlicher, zugewandter Mann, den sonst wenig aus der Ruhe zu bringen kann. Aber jetzt treibt ihn die Angst um. „Noch zwei oder drei Wochen, dann bricht hier das Chaos aus“, fürchtet er. Seit der Schließung der Banken und der Rationierung der Bargeldausgabe habe sein Team die Zahl der Patienten von sonst 70 schon auf weit über 100 pro Tag steigern müssen, um den Ansturm zu bewältigen.
Nur noch billige Medikamente
Denn inzwischen kommen zu ihm nicht mehr nur die Arbeitslosen, die Unversicherten. Seit der staatliche Gesundheitsdienst in der Krise seine Ausgaben radikal eingekürzt hat, müssen alle Griechen bis zu 50 Prozent der Kosten selbst tragen. Wer aber nicht mittels Kredit- oder Scheckkarte zahlen kann und keine Bargeldreserven hat, der bekommt seit vergangener Woche in Apotheken und Krankenhäusern keine Medizin mehr. Deshalb suchen immer mehr Kranke Hilfe in den landesweit rund 50 provisorischen Polikliniken, wo engagierte Ärzte und Pflegekräfte freiwillig und unbezahlt medizinische Versorgung leisten. Hier können sie kostenlos Medikamente bekommen, die Spender aus ganz Europa und vornehmlich aus Deutschland, Österreich und der Schweiz den Ambulatorien der Helfer schon seit vier Jahren in großem Umfang schicken.
Eigentlich, sagt Vichas, möchte er „gar nicht darüber nachdenken“ was geschehen wird, wenn die Eurostaaten tatsächlich den Austritt seines Landes aus dem Euroverbund erzwingen. Aber wenn es dazu komme, dann drohe der jetzige Notstand zur „Katastrophe“ zu werden. Darum bitte er jetzt schon bei den Gesprächen mit den Unterstützern der Klinik in Deutschland, „möglichst bald viel mehr Medikamente zu liefern.“
Bei Apotheker Vaggelis ist es trotz Sonnenschein und über 33 Grad im Schatten angenehm klimatisiert, ein Rentner lässt sich den Blutdruck messen. Bei anderen Wünschen muss der Angestellte inzwischen passen. „Manche Impfungen für Babies haben wir nicht mehr“, sagt er und deutet auf den Kühlschrank für die Medikamente: „Der Impfstoff gegen Tetanus zum Beispiel ist aus.“ Frühestens im September soll es Nachschub geben. Bei Psychopharmaka gebe es Lieferengpässe. „Von Pfizer kriegen wir nur noch 50 Packungen Zoloft für 600 Apotheken“, sagt der Mann mit dem Vollbart ruhig. „Wir haben bei uns davon früher pro Woche zehn verkauft, jetzt kriege ich eine Schachtel pro Monat.“ Es existiert zwar auch ein günstigeres Präparat, „aber wenn der Arzt Zoloft verschreibt oder die Kunden darauf bestehen, können wir nichts machen“, sagt er. „Ich telefoniere schon überall rum, aber mehr als vier Schachteln bekomme ich nicht mehr zusammen.“ Wer sicher sein will, dass ihm nicht ein anderer zuvorkommt, ruft inzwischen an, sobald er sein Rezept hat – die Schublade mit den Bestellungen ist voll.
Während sich die Not der Armen und Kranken verschärft, treibt die Mittelschicht vor allem die Angst um ihre Konten und Ersparnisse um. Eine besonders paradoxe Konsequenz ist, dass viele Griechen ihr restliches Geld in teure und langlebige Güter wie Autos, Haushaltsmaschinen und Elektronik aller Art stecken. Händler berichten landesweit von steigenden Umsätzen. Diese bezahlen die Kunden in der Regel mit Kredit- und Scheckkarten, um auf diesem Weg ihre Konten zu räumen und sich vor einer möglichen Zwangsbeteiligung an der Sanierung der von der Pleite bedrohten Banken zu schützen.
Zwar sollte dieser im Finanzjargon sogenannte bail-in nach europäischem Recht erst für Leute mit einem Vermögen von mehr als 100.000 Euro möglich sein. Aber diese Garantie müsste der griechische Staat tragen, dem dafür mit Sicherheit die Mittel fehlen. Es kursieren Gerüchte, es könnte alle Guthaben über 8000 Euro treffen. So mancher griechische Steuersünder hat in den vergangenen Tagen sogar Geld ans Finanzamt überwiesen. Wenn sich der Staat das Geld eh holt, so dachten viele, dann sollen dafür auch Schulden getilgt werden.
Die Krise zerstört Familien
An den Kiosken sind Zeitungen heute besonders gefragt. „Alle reden über ihre Ängste. Sie kaufen Zeitungen – und Zigaretten, Zigaretten, Zigaretten“, sagt Eleny Lozou, „so lange sie noch Geld haben.“ Wie automatisch reicht sie eine Schachtel über den Tresen. Die 30-Jährige selbst will sich nicht bange machen lassen. „Natürlich ist das alles schlecht, aber warten wir mal ab.“
Zeit – davon haben sie in Griechenland genug. Doch mit jeder Sekunde, die vergeht wird es schlimmer, wächst die Angst bei Menschen wie Elsa Stathopoulou . Sie sitzt in ihrem Athener Büro und friert. Draußen ist es zwar heiß, doch wenn die Spenden-Beauftragte der griechischen SOS Kinderdörfer an den nächsten Sonntag, an die nächste Frist denkt, für ein neues Hilfsprogramm und daran, dass es abermals scheitern könnte, verspürt sie ein kaltes Kribbeln im Körper: „Dann kann ich meine Beine und meine Hände nicht mehr bewegen“, sagt sie. „Die Ungewissheit macht uns alle fertig.“
Schon seit 2011, seitdem die soziale Krise Griechenland fest im Griff hat, kommen arme Familien in die SOS Kinderdörfer vor allem rund um Athen und Thessaloniki. Besonders Alleinerziehende und kinderreiche Familien suchen Hilfe bei der Organisation. „Manchmal verlieren beide Elternteile im selben Monat den Job, dann stehen sie bei uns vor der Tür“, sagt Stathopoulou.
Pro Jahr, rechnet sie vor, seien rund 1200 Familien auf die Unterstützung ihrer Organisation angewiesen. Die meisten Anträge müssten sie mittlerweile direkt ablehnen. Ab Sonntag dann, falls es wieder keine Einigung gibt, befürchten sie bei den SOS Kinderdörfern, dass sich die Zahl der Antragssteller sogar verdoppeln könnte. Wenn der Finanzmarkt und damit die Wirtschaft in Griechenland endgültig zusammenbrechen, seien Spenden aus dem Ausland die letzte Chance für die bedürftigen Kinder. Sie setzt bei ihrer Spenden-Akquise schon jetzt auf griechische Auswanderer in Deutschland, den USA und Australien.
Nichts ist mit der Situation der Flüchtlinge vergleichbar
Richtig dramatisch ist die Lage also genau dort, wo sie vorher schon angespannt war. Das gilt auch für die vielen Flüchtlinge, die in diesem Sommer auf den griechischen Inseln anlandeten. Auf der Insel Lesbos hatten Anfang der Woche Flüchtlinge versucht, einen Hilfstruck zu stürmen. Angeblich hatte es nicht genügen Essenslieferungen für die rund 2500 Flüchtlinge im Camp gegeben. Die Zulieferer bekommen ihr Geld eigentlich vom Staat - doch der hat keines mehr.
„Die Behörden vor Ort haben kaum Geld, weshalb die Bevölkerung und Wohlfahrtsorganisationen einspringen und Essen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Unterkunft bieten“, erklärt Martin Baldwin-Edwards, Migrationsexperte, der lange in Athen gelehrt und geforscht hat. Die griechischen Inseln hängen finanziell vom Tourismus ab und ihre traditionelle Gastfreundschaft gelte nun auch, soweit sie dazu in der Lage seien, den Flüchtlingen. „Ich fürchte aber, dass der Tourismus zusammenbrechen wird, wenn die Griechen ihre Ferien wegen der wirtschaftlichen Lage absagen müssen“, sagt Baldwin-Edwards „Das wird dann die Lage für die noch schlimmer machen, die auf den Inseln ankommen. Die Inseln hängen stark von Warenlieferungen vom Festland ab. Es ist klar, dass es jetzt an allem fehlen wird, auch an Sprit für Schiffe und Flugzeuge.“
Die Katastrophe in Griechenland, sie scheint gerade erst zu beginnen.
Mitarbeit: Mohamed Amjahid, Andrea Dernbach, Nikolas Leontopoulos