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Staatssekretär Jens-Holger Kirchner und Senatorin Regine Günther planen eine Verkehrswende in Berlin, die die Leute auch spüren.
© Imago,dpa Montage:Tsp

Verkehrspolitik in Berlin: Die Revoluzzerin und der grüne Autoschreck

Ihm doch egal, wer unter ihm Senatorin ist. Jens-Holger Kirchner mischt regelmäßig die Berliner Verkehrspolitik auf. Seine Chefin Regine Günther hielt sich zurück - bisher.

Jens-Holger Kirchner sitzt hinter seiner Senatorin und guckt in die Akten, während über ihn geredet wird. Abzocke, Schikane, Erziehungsmaßnahmen, ideologischer Feldzug gegen die Autofahrer: Der CDU-Fraktionschef lässt nichts aus bei dieser Debatte. Es ist die erste im Berliner Abgeordnetenhaus nach der Wahl, bei der es um die Verkehrspolitik des rot-rot-grünen Senats gehen soll. Also um Kirchner, den Autofahrerschreck.

Nicht, dass schon irgendwo in Berlin jemand langsamer fahren müsste, seit die Grünen mitregieren. Aber allein die Vorstellung! „Spätestens dann, wenn die Supermärkte leer bleiben, fliegt Ihnen Ihre Verkehrspolitik um die Ohren!“, orakelt der CDU-Mann zur Erheiterung der summenden und brummenden Grünen-Fraktion. Einmal blitzt Kirchners Lausbubengrinsen auf, als der Christdemokrat sagt, „die Bundesregierung tut ja auch viel für den Radverkehr“. Aber dann bleibt er auch ernst, als der FDP-Kollege vom „wilden Elefantenlauf des Staatssekretärs im Porzellanladen“ spricht und resümiert: „Ich habe den Eindruck, Herr Kirchner genießt das regelrecht.“

"Herrn Kirchner kann man nichts ausreden"

Das war Anfang April. Seitdem scheint Kirchner eher im Stillen zu genießen: Schon fast zwei Monate hat er keine Parole mehr öffentlich kundgetan, deretwegen die halbe Stadt am Rad dreht. Das passt nicht zu Kirchner, der sich den Ruf erworben hat, dass ihm recht egal sei, wer unter ihm Senatorin ist. Doch es scheint sich gerade etwas grundsätzlich zu verändern im Kräfteverhältnis des Teams, das dabei ist, beim Verkehr eine Kehrtwende einzuleiten, die die Leute spüren werden.

Schon Anfang Mai wunderten sich die Abgeordneten, als Kirchner in der Fragestunde ein verwaltungsdeutsches Statement zur Verkehrsanbindung des Flughafens BER verlas statt in seinen ihm eigenen Worten. Man hört, es gebe inzwischen sogar eine Verabredung, dass Kirchner vorher ankündigt, was er öffentlich sagen will – um den Kollegen Stress und Überraschungen zu ersparen. Nur unter Kontrolle ist er nicht. „Herrn Kirchner kann man nichts ausreden“, sagt jemand, der ihn kennt und schätzt.

Bei der Parlamentsdebatte im April, als die Emotionen noch frisch sind und Kirchners interne Erziehung noch bevorsteht, richtet er sich auf und rückt sein Jackett über den Hosenträgern zurecht, während Regine Günther ans Rednerpult geht. Als neue Verkehrssenatorin für die Grünen vertritt sie jetzt dieselbe Politik, die Kirchner schon seit Jahren vertritt. Nur unauffälliger. „Verbesserung geht nicht ohne Veränderung“, sagt sie.

Wohl wegen Formulierungen wie dieser haben viele Berliner sie noch gar nicht wahrgenommen, obwohl sie die Senatorin ist und Kirchner nur Staatssekretär. Ihn aber dürfte fast jeder kennen. Dieses Lachen, wenn er mal wieder provoziert hat und beobachtet, was passiert - wie ein Halbstarker, der seinem unsympathischen Nachbarn einen Blitzknaller unters Auto geworfen hat.

Günther versucht gar nicht erst, die Kiezmutter zu geben

So wie damals in der Kastanienallee in Prenzlauer Berg, wo ein paar wenige Anwohner einen Riesenprotest gegen die Sanierung der Straße organisierten, weil sie ums authentische Flair der Holpergehwege fürchteten. „Plastinierung von Straßen, Erstarren von Verhältnissen, ooah, da wer ick ja “, hat Kirchner damals als Bezirksstadtrat gesagt und die Gefechtslage erklärt: „Die ham jesacht, is unsre Straße. Ick hab jesacht, wenns eure Straße is, dann kümmert euch ooch.“

Darüber, dass die Aktivisten das in Anlehnung an die umstrittene Stuttgarter Bahnhofsversenkung „K 21“ getauft haben, kann er jederzeit wieder lachen. Und mit kindlichem Vergnügen glucksen muss er auch Mitte Mai in der S-Bahn-Werkstatt Schöneweide, wo er bei einem Rundgang erfährt, dass in den alten Zügen das Scheibenwaschwasser beim Einfüllen direkt in den Behälter mit dem Bremssand kleckert, sodass der ganze Zug ausfallen kann. Deutsche Ingenieurskunst, haha. Wobei man dazusagen muss, dass Kirchner - seinen Thermoskannenbecher in der einen Hand, die Fahrradtasche in der anderen - zu wissen scheint, wie ein S-Bahn-Waggon von unten aussieht und wo die Tücken der Technik stecken.

Im Parlament hört Kirchner seiner Chefin aufmerksam zu, als die sagt: „Worum es mir geht, ist die Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer“, und dass der Berliner Durchschnittsautofahrer 107 Stunden pro Jahr im Stau stehe, also 15 Arbeitstage. „Genau das müssen wir ändern“, sagt Günther. Kirchners Version desselben Befundes lautete: „Wer in Berlin Auto fährt, hat zu viel Zeit.“ Das dürfte seine Chefin anders sehen, die weit draußen in Köpenick wohnt, wo die Entfernungen groß und die Autos schnell sind, sofern gerade auf keiner der zwei Straßen Richtung City gebaut wird.

Als in Berlin noch SPD und CDU regierten, saß Günther als Klimaschutzexpertin der WWF-Umweltstiftung in Fachgremien, wo ohne große Öffentlichkeit politische Weichen gestellt wurden, deren Bedeutung sich nur Eingeweihten gleich erschloss. Kirchner dagegen duellierte sich als Stadtrat mit dreisten Investoren und wütenden Bürgern - mit sichtbaren Konsequenzen, wie es für Lokalpolitik typisch ist. Kirchner braucht nicht unbedingt das letzte Wort. Aber wenn es gerade zu haben ist, nimmt er sichs schon gerne.

Ganz anders Günther, die gar nicht versucht, die Kiezmutter zu geben, die sie ohnehin nicht ist. Ein paar Tage vor der Parlamentsdebatte sitzt sie auf dem Podium im Tagesspiegel-Wirtschaftsclub und hört sich ungerührt die Wut einiger Gäste an, als es um absehbare Fahrverbote für Diesel in der Innenstadt geht. Es sind nur Einzelne im Publikum, die laut werden, und sie sind falsch informiert, wenn sie beispielsweise verkünden, dass Tempo 30 zwei Drittel mehr Stickoxide verursache als Tempo 50 und dass moderne Dieselmotoren gar kein Abgasproblem mehr hätten. Abgesehen von einem kaum sichtbaren Kopfschütteln ignoriert Günther diese Bemerkungen und widmet sich lieber den anderen Publikumsfragen. Kirchner an ihrer Stelle hätte eher einen Tumult angezettelt, als die falschen Informationen so im Raum stehen zu lassen. Er hat gern recht.

Sie dagegen spricht von den Tausenden, die wegen Autoabgasen vorzeitig sterben, und vom EU-Recht, das Berlin zwinge, die Alternativen zum Auto zu verbessern. Sie könnte auch sagen: Ihr könnt die Fahrverbote auch vom Gericht bekommen, Leute. Aber das ist nicht ihre Art. Außerdem weiß sie ebenso gut wie Kirchner, dass noch Ärger kommen wird, wenn es erst an die Umsetzung geht: Mehr Tempo 30 gegen Abgase, Wegfall von Parkplätzen zugunsten von Radspuren - irgendwann müssen und wollen sie liefern, und zwar vor der nächsten Wahl.

Immerhin kann sich die grüne Verwaltung frisch gestärkt fühlen. Im repräsentativen Berlin-Monitor des Tagesspiegels liegt der Wunsch nach mehr Unterstützung für den öffentlichen Nahverkehr vorn, gefolgt vom Radverkehr. Forsa kam gerade zu demselben Ergebnis. Und laut Infratest Dimap sagt die Mehrheit der Berliner, dass die aktuelle Verkehrspolitik die Autofahrer nicht beeinträchtige.

Im Abgeordnetenhaus geht Günther zum Schluss ihrer Rede noch auf ein paar Dinge ein, die ihr Staatssekretär gesagt habe und die richtig seien. Dass die Parkraumbewirtschaftung ausgedehnt werden solle, stehe in der Koalitionsvereinbarung und sei in anderen Metropolen längst vollbracht. 10,20 Euro pro Jahr für einen Anwohnerstellplatz seien in der Tat sehr wenig. Kirchners Wort für diesen Tarif war: „Frechheit“. Seine Chefin sagt jetzt, die Senatsverwaltung beschäftige sich „in keiner Weise“ mit der Erhöhung dieser Gebühr. Ein Rüffel für Kirchner.

Manchmal scheint es, dass Kirchner den Autoverkehr mit überhöhter Geschwindigkeit beruhigen will, nachdem sein Weg in den rot-rot-grünen Senat wegen grünenspezifischer Umleitungen und Sackgassen etwas länger gedauert hat. Die Besetzung des Verkehrsressorts war im November die letzte Vakanz in der Regierungsmannschaft. Viele sahen in Kirchner, dem erfahrenen Stadtrat aus Pankow, den Favoriten für den Chefposten in der neu gestrickten grünen Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Nur hatten sie ihre Rechnung ohne Frauen- und Fundi-Quote gemacht. Gerade noch rechtzeitig bevor die Senatorensuche peinlich wurde, präsentierten die Grünen dann Regine Günther, die zwar null landespolitische Erfahrung hatte, aber überregionales Renommee als Energie- und Klimaexpertin.

Kirchners Methode ist riskant - und auch schon mal schiefgegangen

„Team Günther“, wie Kirchner es mal genannt hat, funktioniert seitdem so, dass die Chefin in sorgsam gewogenen Worten auf die verkehrspolitische Wende einstimmt, während Kirchner möglichst ein Stück übers Ziel hinausschießt, damit das Ergebnis dann wie ein Kompromiss aussieht. Kirchners Spruch in Richtung eines Autolobbyisten bei einer Diskussion zum Radverkehr war so ein Fall: „Stellen Sie sich in den Stau, wir werden es bloß einspurig machen an den Hauptverkehrsstraßen, weil wir brauchen den Platz für andere“, verkündete er dort zur Begeisterung des Publikums.

Der gelernte Tischler und Erzieher Kirchner schnitzt solche Parolen meist spontan. Sobald die Wirkung einsetzt, hat die Verwaltungspressestelle Riesenstress und die Stadt ein Thema. Aber die Methode ist riskant. Bei den einspurigen Hauptstraßen ist sie noch mal gut gegangen. Die CDU schäumte erwartungsgemäß, dass „die Umerziehungsmaßnahmen des rot-rot-grünen Senats“ begonnen hätten, und Kirchner konnte dann ausrichten lassen, dass ja nicht alle Hauptstraßen einspurig werden müssten. Rhetorische Vorbereitung auf den Maximallösungskompromiss.

Bei den Stellplatzgebühren hat Kirchners Taktik zumindest kurzfristig nicht funktioniert, aber immerhin ist das Thema in der Welt. Und manchmal geht seine Methode auch völlig schief - wie beim Eco-Mobility-Festival 2015, für das die Anwohner um den Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg einen Monat lang ihre Autos hätten außerhalb des Kiezes parken müssen, weil in dem nur noch Fußgänger und Elektrofahrzeuge unterwegs gewesen wären. Als die von Stadtrat Kirchner forcierte Planung ein Jahr vorher bekannt wurde, glaubte der SPD-Bezirksbürgermeister zunächst an einen Aprilscherz. Nach der nächsten Bezirksamtssitzung twitterte er, man habe dem Projekt „den Stecker gezogen“. Damit war auch eine abgespeckte Variante futsch. Kirchner hatte sich mit seiner Attitüde - mir doch egal, wer unter mir Bürgermeister ist - verzockt. Doch er nahm die Niederlage sportlich: Wer mal hinfällt, lernt doch trotzdem laufen, verkündete er.

Diese Schmerzfreiheit zeichnet ihn aus und unterscheidet ihn auch von seinen Vorgängern an der Spitze der Verkehrsverwaltung. Endlich haben wir einen Chef, der den Leuten sagt, was er will und worauf sie sich gefasst machen müssen, sagt ein langjähriger Verwaltungsmitarbeiter. Die Senatorin könne mit ihrem dominanten Staatssekretär gut leben, zumal sie sich zunächst ohnehin eher auf Klimaschutz als auf Verkehrspolitik fokussiere. Bei ihren Kernthemen sei sie übrigens ebenfalls konsequent bis zur Provokation, sagt ein Landespolitiker, der viel mit ihr zu tun hat, und nennt als Beispiel ihren Kampf für die blaue Umweltplakette, die das Gros der Dieselautos aus der Innenstadt verbannen würde. Tatsächlich wählt die Senatorin ihre Worte in der Öffentlichkeit stets vorsichtig, während abseits von Kameras und Mikrofonen Entschlossenheit durchklingt. Nicht so schnodderig wie bei Kirchner, aber ähnlich deutlich.

Günther sei uneitel und kollegial, sagt einer, der sie lange kennt. „Aber auf Dauer wird sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen“, prophezeit er. Falls Kirchner ihr die Butter abgeben muss, wird er das wohl tun, denn auch er ist nicht von einer narzisstischen Eitelkeit getrieben, sondern von fachpolitischer. Ein Landesgrüner berichtet, Günther und Kirchner funktionierten nahezu perfekt zusammen, weil sie sich in ihren verschiedenen Rollen so gut ergänzten. Das Greenteam - ein Dreamteam. Kirchner schätze es durchaus, von der Chefin rhetorisch geerdet zu werden, und die wiederum profitiere von seiner exzellenten Fachkenntnis. Im Übrigen gebe es jenseits der Medien genug Gremien - bei den wöchentlichen Senatssitzungen angefangen -, in denen Günther die natürliche Ressortchefin sei.

Die neue Linie: Kirchner wird gefragt, Günther antwortet

Trotzdem mehren sich die Zeichen, dass die Senatorin nun auch nach außen hin deutlich machen will, dass die Butter eigentlich ihr gehört: Auf die Bitte, mit Kirchner über die Ergebnisse des Mitte Mai veröffentlichten Fahrradklimatests - ein Desaster für Berlin - sprechen zu können, antwortete die Verwaltung kürzlich mit einem schriftlichen Statement der Senatorin. Und zu einer Diskussion über die Verkehrsprobleme von Spandau am Tag vor Himmelfahrt war Kirchner geladen worden, aber dann teilte Initiatorin Bettina Jarasch, übrigens Ex-Landeschefin der Grünen, mit: „Senatorin Regine Günther will selbst kommen, um vor Ort mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen.“ Günther wohnt am anderen Ende der Stadt.

Als greifbaren Erfolg hat Team Günther bereits den Entwurf zum Radverkehrsgesetz vorgelegt, das Teil eines Pakets zur künftigen Mobilität werden soll. An den nächtelangen Sitzungen mit viel Pizza und noch mehr Kaffee nahmen für die Senatsverwaltung Kirchner und dessen Fachleute teil. Dabei sei Kirchner auffallend ambitionierter gewesen als die anderen aus seiner Verwaltungsmannschaft, war hinterher zu hören.

Kirchner wird in diesem Jahr 58 Jahre alt, muss also nach der Legislaturperiode nichts mehr werden, könnte aber durchaus weitermachen. Günther ist drei Jahre jünger, aber für ihre weitere Karriere nicht auf die Grünen angewiesen, denen sie ohnehin nicht angehört. Insofern ist sie mehr ihrem Gewissen verpflichtet und weniger der Partei. Dass das ein Vorteil sein kann, zeigte sich beispielsweise bei Ulrich Nußbaum in dessen ersten Jahren als Finanzsenator.

Falls Günther die Leitung ihres Hauses auch rhetorisch übernimmt, kann Kirchner andere Themen anpacken oder sich um die Umsetzung kümmern. Das Konfliktpotenzial reicht für mehrere Jahre - und Politiker.

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