Erblicher Brustkrebs: Die radikalste Entscheidung: Amputieren Sie!
Die Mutter hatte Brustkrebs, die Großtanten auch. Das war kein Zufall: In der Familie gibt es einen Gendefekt, Doreen Thiel ließ sich testen. Sie entschied sich für das Leben - und den extremsten Schritt: Eine Amputation.
Ihr Bild im Spiegel, es hat sich verändert. Die Brüste sind kleiner als früher, die Narben an der Seite und unter ihren Brüsten noch nicht verheilt. Ihre Brustwarzen fehlen. Vielleicht lässt sie sich die irgendwann noch machen oder tätowieren, denkt Doreen Thiel*. Vielleicht lässt sie sich eine ganze Blumenranke in die Haut stechen, vom Schlüsselbein bis zur Hüfte. Ein Kunstwerk, das alles kaschiert, was sie sieht.
Es ist nicht so, als würde sich die 35-Jährige unattraktiv fühlen. Entstellt. Aber würde sie sagen, sie fühle sich völlig normal, würde sie lügen. Doreen Thiel hat sich vor zweieinhalb Jahren die Brüste entfernen lassen, weil sie ein defektes Gen in sich trägt. BRCA1 heißt es. Die Gefahr an Brustkrebs zu erkranken, steigt damit um ein Vielfaches. Auch Angelina Jolie hat diese Genmutation und entschied sich für den gleichen Schritt. Den radikalsten. Im Mai 2013 machte Jolie ihre Entscheidung in der „New York Times“ öffentlich und schrieb: „Ich fühle mich nicht weniger als Frau.“ Nun ließ sie sich Ende März auch noch die Eierstöcke entfernen. Mit ihrer Entscheidung inspirierte die Schauspielerin, die mehrmals zur schönsten Frau der Welt gekürt wurde, die als Sexsymbol gilt, viele. Ärzte sprechen vom „Jolie-Effekt“.
Nur wenig Frauen wagen Amputation
In ihrer Berliner Fünf-Zimmer-Wohnung legt Doreen Thiel einen Papierstapel auf den Esstisch. Diagnosen stehen darauf, Krankenhaustermine, Sätze in Medizinerdeutsch. Sie bindet ihre dunkelbraunen Haare zu einem Zopf zusammen und zieht einen der Zettel aus dem Stapel. Ihre Familienaufstellung: Eine Schwester ihres Vaters hatte Krebs und drei Schwestern ihres Großvaters. Zwei von ihnen sind tot. Drei Tanten ihrer Mutter hatten Krebs, eine ist mit 41, die andere mit 46 Jahren gestorben. Dass es nicht zufällig so viele Fälle in ihrer Familie gibt, vermuteten die Ärzte vor vier Jahren. Damals wurden bei ihrer Mutter bösartige Tumore in der Brust und den Lymphknoten entdeckt. Die Mutter fing eine Chemotherapie an und machte etwas später einen Gentest. Positiv. Sie hat ihn, den seltenen Gendefekt, den höchstens zehn Prozent aller Frauen mit Brustkrebs haben. Bis jetzt hat sich nur Doreen Thiel testen lassen. Eine ihrer Schwestern zögert noch, die andere verdrängt.
Rund 75 000 Frauen bekommen in Deutschland jedes Jahr die Diagnose Brustkrebs, 17 000 sterben daran. Es ist die häufigste Krebsform bei Frauen, aber sie ist nicht so gefährlich wie Lungen- oder Darmkrebs. Rechtzeitig erkannt ist sie gut heilbar. Doreen Thiel wollte sich darauf nicht verlassen. Sie war gesund, als sie sich operieren ließ. Wahrscheinlich wäre sie aber krank geworden. Mutiert eines der Gene BRCA1, BRCA2 oder BRCA3 steigt das Risiko für Brustkrebs auf 60 bis 80 und das Risiko für Eierstockkrebs auf 40 bis 60 Prozent. In diesem Fall raten Ärzte zur Vorsorge mit Ultraschall, Kernspin, Mammografie – viele Frauen folgen dem Rat. Eine prophylaktische Mastektomie wagt nur jede Zehnte. Die Angst vor der OP, vor dem Verlust der Brüste, ist zu groß.
Ihre Kinder können krank werden
In der Nacht, bevor sie ihren Befund bekam, lag Doreen Thiel wach. Was ist, wenn ich den Gendefekt habe? Ich möchte nicht krank werden. Ich möchte keine Chemotherapie machen wie meine Mutter, bei der mir die Haare ausfallen. Ich möchte nicht früher sterben. Ich will meine Kinder aufwachsen sehen.
Obwohl sie die positive Diagnose ahnte, drang alles, was die Ärztin am nächsten Tag zu ihr sagte, kaum noch zu ihr durch. Ein Hintergrundrauschen. Was soll sie jetzt tun? Was ist mit ihren drei Kindern? Hat sie ihnen das Krebsgen vererbt? Zwei Stunden saß sie an diesem kalten Oktobertag auf der Bank einer Bushaltestelle. Fühlte Angst, Wut. Fror.
Mit Laura, ihrer ältesten Tochter, ging Doreen Thiel am gleichen Tag bei Primark einkaufen. Ein Mutter-Tochter-Ding, zum vielleicht letzten Mal für Monate. Danach erzählte Thiel in einem Restaurant, dass sie sich hat untersuchen lassen, dass sie krank werden kann. Das Mädchen, das heute 14 Jahre alt ist, schaute sie an und sagte nur: „Okay, Mama, und was willst du jetzt machen?“ Doreen Thiel entschied, sich beide Brüste entfernen und Implantate einsetzen zu lassen. Sie sprach mit einer Psychologin über ihre Ängste und mit ihrer Ärztin Ursula Makowiec, die das Brustzentrum im Westend leitet. Bei Frauen, die Brustkrebs haben, führt sie einen solchen Eingriff einmal die Woche durch. Bei Frauen, die Brustkrebs bekommen könnten, nur ein bis zwei Mal im Jahr.
Ein Schock: Der Eingriff wird nicht bezahlt
Die Operation war für Ende Januar geplant. Dann kam zwei Wochen vor dem Termin ein Brief vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK): Der Eingriff werde nicht bezahlt.
Ja, die Patientin komme aus einer Hochrisikofamilie, ja, das Risiko, Brustkrebs zu bekommen, liege bei 80 Prozent und ja, das Risiko könne durch einen Eingriff auf zwei bis zehn Prozent reduziert werden. „Allerdings bietet auch die prophylaktische Mastektomie keinen 100-prozentigen-Schutz vor Brustkrebs“, heißt es in dem vierseitigen Schreiben. Und es gebe keine Studien, die einen Vorteil gegenüber dem Vorsorgeprogramm belegen würden.
Doreen Thiel brauchte keine Studien. Ihrer Mutter hatten die regelmäßigen Untersuchungen doch auch nichts gebracht. Innerhalb eines halben Jahres, genau zwischen zwei Mammografien, wuchsen bei ihr die Tumore. Das Ablehnungsschreiben macht sie wütend. „Da habe ich mich auf die OP eingestellt, mit allen Konsequenzen“, sagt Doreen Thiel. „Und irgendein Mann entscheidet, ob ich krank werde oder nicht.“ Sie legte Widerspruch ein, holte das Gutachten eines zweiten Arztes ein, wartete, rechnete. Eine Operation mit Implantaten kostet fünf bis sechstausend, mit Eigengewebe 14 000 Euro. Wie sollte das gehen? Kurz danach die Erleichterung. Der MDK gab nach. Im Februar wurde sie operiert.
Narben wollten nicht richtig heilen
Auf dem Stuhl neben ihr liegt ein Kissen in Herzform, hellgrün, mit Schmetterlingen. Eine Sprechstundenhilfe hatte es genäht und Doreen Thiel nach dem Eingriff geschenkt, damit sie es sich als Stütze unter die Achsel klemmen konnte. Sie hatte Angst, an die Schläuche seitlich ihrer Brüste zu kommen, wusste nicht so recht, wohin mit den Armen. Es war unangenehm, tat weh, aber sie würde sich wieder für den Eingriff entscheiden.
Obwohl die Zeit nach der Operation schwer war. Damit die Nähte nicht aufgehen, hat Doreen Thiel nach dem Eingriff wochenlang im Sitzen geschlafen. Dabei ist sie doch ein Bauchschläfer. Sie konnte nicht so gut aufstehen, nicht mit den Kindern spielen. Sie konnte die Kinder nicht in den Arm nehmen. Nicht kuscheln. Dabei war Stella, die Jüngste, erst zwei Jahre alt und brauchte die Nähe. Deswegen legte sie sich zwischen die Beine ihrer Mama, rollte sich ein, schlief dort. „Klar, ich war gesund, aber das war wirklich hart für mich.“ Es klingt wie eine Untertreibung, aber Doreen Thiel hat schon viel mitgemacht in ihrem Leben, hat eine schwierige Ehe hinter sich. Genauer muss man das nicht wissen, nur, dass sie sich auch dieses Mal wieder zusammengerissen hat. Weitergemacht hat.
Selbst nach Wochen wollten die Narben nicht richtig heilen. Dr. Makowiec diagnostizierte eine Wundheilstörung, eine offene, chronische Wunde, die nicht schließen will. Dazu kam, dass sich die Implantate so seltsam anfühlten. „Es war, als würde eiskaltes Wasser über einen laufen, wie Pfefferminz, nur von innen.“ Doreen Thiel sprach mit ihrer Ärztin darüber, erzählte, dass sich ihre Brustwarzen nach der Operation etwas dunkel gefärbt hätten. Sie hatte Angst vor Komplikationen. Deswegen entschieden sie gemeinsam, die Silikonkissen wieder rauszunehmen. Und die Brustwarzen zu entfernen.
"Wochenlang war ich flach wie ein Mann"
Damit ihr Körper in Ruhe heilen konnte, hat sich Doreen Thiel erst mal keine neuen Implantate einsetzen lassen, sondern sogenannte Expander. Zwei kleine Beutel mit etwas Silikon und eingebautem Ventil zum Auffüllen. „Wochenlang war ich flach wie ein Mann“, sagt sie. Als sie sich genug geschont hatte und keine weiten Pullis mehr tragen wollte, wurden die Expander mit 30 bis 50 Milliliter Kochsalzlösung aufgefüllt. Alle zwei Wochen, ein halbes Jahr lang. Bis ihre Brüste fast so groß waren wie vorher. Doch dann reagierte der Körper auf das Silikonkissen, umschloss es mit hartem Gewebe, was schmerzhaft sein und die Brüste verformen kann. Ungewöhnlich ist eine Kapselfibrose nicht, sie kommt in 40 Prozent der Fälle vor. Doreen Thiel ließ sich die Expander herausnehmen und wieder Implantate einsetzen, die sie jetzt besser vertrug. Ihr hellgrünes Herzkissen brauchte sie nur drei Tage lang.
Auf einer Seite trägt sie nun 430, auf der anderen Seite 380 Milliliter Silikon. Sie musste sich neue BHs kaufen, B bis C, eine Körbchengröße kleiner als vorher. Bequem, ohne Spitze, ohne Nähte, die scheuern. Silikon, wie sieht das aus, wie fühlt sich das an, fragten Freundinnen. „Seid zufrieden mit euren Körpern, ganz egal, wenn nicht alles perfekt ist“, sagt sie dann. „Jede Frau, die sich aus ästhetischen Gründen Implantate einsetzen lässt, hat für mich einen Schaden.“ Die Implantate fühlen sich fremd an. Aber ohne Brüste wollte sie nicht sein.
Die Kinderfrage stellt sich plötzlich anders
Sie hat sich viele Gedanken darüber gemacht, wie sie nach der Operation wohl aussieht. Hat sich Bilder von rekonstruierten Brüsten angeschaut, Nippel aus Gummi bestellt, die sie jetzt auf den Tisch legt. „Klar hab ich darüber nachgedacht, wie schön ich noch bin“, sagt sie. „Aber die eine findet ihren Busen zu groß, die andere zu klein, jede hat doch was.“ Doreen Thiel spricht betont normal über das Thema. Es ist ein Selbstschutz, um es nicht unnormal zu machen. Sabine Schmidt sitzt ihr gegenüber, eine Freundin, die bei der letzten Operation auf die Kinder von Thiel aufgepasst hat. „Das mit den Brustwarzen beschäftigt dich schon. Sonst würdest du nicht über ein Tattoo nachdenken“, sagt sie.
Vor allem junge Frauen, sagt Ärztin Makowiec, haben nach diesem Eingriff Probleme mit ihrem Aussehen. Ihrem Selbstwertgefühl. Ihrer Sexualität. Ist doch die Brust das Sinnbild für Weiblichkeit. Durch ihr Wachstum in der Jugend entsteht das Gefühl, eine Frau zu werden, ein schönes Dekolleté ist aufreizend, gehört wie volle Lippen und lange Beine zum weiblichen Ideal von Schönheit. Mit den Brüsten unzufrieden zu sein, ist der häufigste Grund für eine Schönheits-OP. Wie ist es bei Doreen Thiel? Hat sich zwischen ihr und ihrem Mann etwas geändert? „Er ist vorsichtiger, hat manchmal Angst, mir könnte eine Berührung unangenehm sein.“ Aber die beiden reden offen. „Wir haben nach wie vor Spaß miteinander“, sagt die 35-Jährige. Viel geändert habe sich seit der OP nicht. Nur, dass sie im Bett den BH anlässt.
Implantate fehlen sich noch fremd an
Denn ja, wenn Doreen Thiel vor dem Spiegel steht, sieht sie, dass sich viel verändert hat. Sie bereut ihre Entscheidung nicht, weil sie die Kontrolle über ihren Körper behalten hat, höchstwahrscheinlich keinen Brustkrebs bekommen wird. Aber es ist einfach nicht ihre Brust, die sie da sieht. Vielleicht wird sie die Implantate ersetzen lassen. Nicht mit Expandern, mit Eigengewebe von ihrem Bauch. Es ist eine so große OP, denkt sie. „Und es wird wieder etwas herausgerissen.“
Einmal die Woche geht Doreen Thiel zur Physiotherapie, um die Muskeln zu dehnen und die Narben zu behandeln. Hier und da zwickt es noch. „Die Implantate sind ungewohnt. Da ist etwas und tut nicht weh, aber es wäre schöner, wenn es weg wäre.“ Sie merkt, wie die Eingriffe sie angestrengt haben. Dass sie nicht mehr die Kraft hat wie vorher. „Ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch“, sagt sie. „Ich musste lernen, dass mein Körper Zeit braucht.“ Bevor sie 40 ist, wird sich Doreen Thiel auch die Eierstöcke herausnehmen lassen. Äußerlich wird sich wenig verändern. Innerlich schon. Ab dem Tag beginnen ihre Wechseljahre. Hitzewallungen, Schlafstörungen, vielleicht Depressionen. Für Thiel ist das in Ordnung. Sie ist sterilisiert, ihre Familienplanung abgeschlossen.
Hätte sie ihre Kinder bekommen? Ja!
Ob sie Kinder bekommen hätte, wenn sie vorher gewusst hätte, dass sie den Gendefekt in sich trägt? Der Gedanke kam ihr. Aber es wäre für sie unvorstellbar, ihnen nicht beim Großwerden zuzusehen. Noch weiß niemand, ob ihre Kinder den gleichen Defekt in sich tragen. Ihr Sohn Lars, der zwölf ist, scheut das Thema, obwohl auch Männer Brustkrebs bekommen können. Ihre Tochter Laura weiß, dass sie sich testen lassen wird, sobald sie 18 ist. „Und wenn die Diagnose positiv ist, möchte ich mich auch operieren lassen.“ Doreen wünscht ihrer Tochter ein negatives Testergebnis. So sehr. „Sie soll es genießen, eine junge Frau zu sein“, sagt sie. „Und keine Angst haben, selbst Kinder zu bekommen.“
Manchmal, in der Badewanne, fragt Stella, die jetzt vier ist, „Aua?“, „Ja, da hatte die Mama Aua“. Doreen Thiel hat ihre eine Tante, die den Krebs bis heute überlebt hat, immer die „Einbusige“ genannt. Brutal-ehrlich, wie Kinder eben sind. Es ist Thiel wichtig, dass ihr Sohn und ihre beiden Töchter tolerant durchs Leben gehen, dass sie Menschen, die anders aussehen, nicht komisch finden. Stella kommt ins Wohnzimmer gerannt und legt eine pinke Maske ab. Die Maske hat abgefärbt, ihr Gesicht ist ganz pink.
„Sehe ich blöd aus, Mama?“
„Nein, du bist wunderschön.“
*Alle Namen der Familie geändert#