Chemnitz ringt mit Neonazis: Die nächste rechte Machtdemonstration droht
Nach der Trauer um einen stadtbekannten Neonazi soll in Chemnitz ein rechtsextremes Bürgerzentrum eröffnen. Und bald sind Wahlen.
Drei Tage nach der Beerdigung ist der Friedhof immer noch Pilgerstätte. Nahezu im Minutentakt kommen Menschen zum Grab des militanten Neonazis Thomas Haller, an einem Donnerstagvormittag, es liegt ganz am hinteren Ende des schlauchförmigen Areals. Die meisten fotografieren das Meer aus Blumen und Trauerkränzen, das viel größer ist, als auf eine einzelne Grabstelle passen würde. Beliebte Blütenkombination: schwarz-weiß-rot, die Farben der Reichskriegsflagge. Auf den Trauerbändern finden sich kämpferische Grüße, auf einem steht „See you in Walhalla“. Auch Hallers Söhne haben einen Kranz niedergelegt, sie heißen Odin und Ansgard.
Zwei Wochen ist es her, dass die öffentliche Trauer um Haller, bei einer Schweigeminute im Stadion des Chemnitzer FC, der Stadt erneut bundesweite Aufmerksamkeit gebracht hat. 4000 Menschen gedachten eines stadtbekannten Neonazis. Des Mannes, der eine Schlägertruppe namens „Hooligans, Nazis, Rassisten“ gegründet hatte und dessen Sicherheitsfirma etliche Extremisten beschäftigte. Dies in der Stadt, die seit Spätsommer vorigen Jahres – nach einem Tötungsverbrechen, begangen am Chemnitzer Daniel H., mutmaßlich von Flüchtlingen – vielen als Synonym für rechtsradikale Ausschreitungen und Hetzjagden gilt. Der Prozess gegen einen der Verdächtigen hat in dieser Woche begonnen. Aber was wird aus Chemnitz?
Gute Luft, wenig Staus, viele Nazis
Vier Kilometer nördlich des Friedhofs sitzt, im ersten Stock des Rathauses, die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig am Schreibtisch und preist die Vorzüge von Chemnitz: die moderne, dynamische Industriestadt, mit jungen Unternehmen, genug Kitaplätzen und Schulen, mit günstigem Wohnraum, guter Luft wegen nicht verbauter Frischluftschneisen und wenig Staus. Dass einem bekannten Neonazi im Stadion gehuldigt wurde, sei in keiner Weise zu entschuldigen, sagt die SPD-Politikerin. Was natürlich auch für die Gewaltexzesse 2018 gelte, „die waren eine Lektion für uns alle“. Das nehme sie offensiv an. „Man darf diesen Ausschnitt nicht leugnen, er zeigt aber nicht das ganze Bild.“
Chemnitz sei eben auch die drittgrößte ostdeutsche Stadt, und zwar eine, die es ohne größere Zuwendungen geschafft habe, wieder moderne Industriestadt zu sein, plus die Kitaplätze, plus der günstige Wohnraum. Man versteht, was Ludwig versucht. Es wirkt unbeholfen.
In einer ersten Reaktion auf den Eklat im Stadion rechtfertigte sich der Verein, das Ermöglichen gemeinsamer Trauer sei ein „Gebot der Mitmenschlichkeit“ gewesen. Tage später, nachdem die öffentliche Empörung gewachsen war, erstattete der Klub Anzeige. Nun heißt es, bestimmte Kreise, die man nicht näher benennen möchte, hätten mit Randale gedroht, falls der Verein die Trauerfeier nicht zulasse.
Nächstes Heimspiel mit neuem Stadionsprecher
Wenn der Klub an diesem Sonnabend zum ersten Mal seit dem Skandal wieder zu einem Heimspiel aufläuft, wird ein neuer Stadionsprecher am Mikrofon sitzen. Auch einige andere Verantwortliche wurden ausgetauscht. „Das ist ein Anfang“, sagt Barbara Ludwig. Sie erwarte, dass konsequent gegen die rechtsextremen Strukturen im Stadion vorgegangen werde. Wie dies konkret aussehen soll, will sie nicht sagen. Das könne nicht von außen vorgegeben werden.
Die Oberbürgermeisterin befinde sich, heißt es unter Parteifreunden, in einer undankbaren Lage. Nach den Ausschreitungen des Spätsommers habe sie – für sächsische Verhältnisse ungewöhnlich – sehr deutlich gemacht, dass starke rechtsextreme Strukturen in der Stadt existieren. Dafür werde sie bis heute von vielen Einwohnern angefeindet.
Den Vorwurf, ein Nestbeschmutzer zu sein, fängt man sich in Chemnitz leicht ein, sagt Christin Furtenbacher, die für die Grünen im Stadtrat sitzt. Dabei sei genau das geboten: auszusprechen, welchen Zuspruch die Rechten in Chemnitz erhalten und dass ihre Angriffe andauern, auch in Monaten, in denen nicht ganz Deutschland auf die Stadt blickt. Da waren die Attacken auf ein jüdisches und zwei persische Restaurants. Stolpersteine wurden aus dem Boden gerissen, Vereinsfassaden beschmiert. Die Zahl rechter Gewaltverbrechen hat sich 2018 gegenüber dem Vorjahr vervierfacht. Neonazis patrouillierten ungestört als „Bürgerwehr“ durch die Stadt. Zuletzt die Gedenkminute für Haller. „All das sind Machtdemonstrationen“, sagt Furtenbacher. „Sie haben das Gefühl: Jetzt ist unsere Zeit.“ Und nun drohe auch noch das rechte Bürgerzentrum.
Mitten in der Stadt, nicht weit von der zentralen Tramhaltestelle, möchte die vom Verfassungsschutz beobachtete Wählervereinigung „Pro Chemnitz“, die für einige der Aufmärsche 2018 verantwortlich war, ein „Patriotisches Begegnungszentrum“ errichten. Eine Anlaufstelle für Gleichgesinnte schaffen.
Die Räume liegen im Erdgeschoss eines freistehenden Altbaus. Durch die Fenster sind Leitern zu sehen und Gerüste, noch wird renoviert. Martin Kohlmann, der Kopf von Pro Chemnitz, hat eigentlich einem Interview zugestimmt, aber niemand öffnet die Tür.
Was soll, was darf im rechten Bürgerzentrum passieren?
Um das Zentrum, das bis Monatsende fertig sein soll, doch noch zu verhindern, haben Gegenaktivisten Anwohnerversammlungen einberufen, eine Demo organisiert, eine Unterschriftenaktion gestartet. Christin Furtenbacher, die grüne Stadträtin, warnt davor, im Herzen von Chemnitz könnte ein Ort entstehen, wie es ihn im sächsischen Plauen bereits gibt: ein Zentrum, in dem sich Rechtsextreme als Quartierskümmerer gerieren und Schülern bei den Hausaufgaben helfen.
Man müsse alle Wege ausnutzen, sagt Furtenbacher. Ein Hebel könnte das Baurecht sein, im Gebäude ist nur Büronutzung zugelassen. Sollte Kohlmann etwa zu größeren Veranstaltungen einladen, könnte die Verwaltung einschreiten. Die Oberbürgermeisterin sagt: Wir werden das genau beobachten.
Im Mai sind Kommunalwahlen. Allgemein wird damit gerechnet, dass AfD und Pro Chemnitz deutlich zulegen werden. Furtenbacher bleibt eine Hoffnung: dass ein solcher Rechtsruck und eine rechte Mehrheit im Stadtrat wenigstens, also womöglich, einige Nichtwähler aufrüttle. Und dass die dann im September zur Urne gehen. Da wird der sächsische Landtag gewählt.
Helmut Kohl als heimlicher Jude
In Chemnitz hat sich auch die sogenannte Gelbwestenbewegung etabliert. Immer freitags treffen sich die Demonstranten in der Innenstadt neben dem Roten Turm, einem Wahrzeichen der Stadt. Vergangene Woche betonte der Anmelder zu Beginn, man wolle bloß auf Missstände aufmerksam machen, ganz sicher gegen niemanden hetzen. Danach trat die Aktivistin Rihanna W. ans Mikrofon und sagte, Helmut Kohl habe mit richtigem Namen Henoch Kohn geheißen, sei Jude gewesen, er habe die Deutschen betrogen und umerzogen.
Mittwochabend im Lokomov. Die Kneipe ist ein Anlaufpunkt für Menschen, die in Chemnitz den Rechten Widerstand leisten wollen. Aufs Lokomov wurde bereits geschossen, es gab auch einen Sprengstoffanschlag. Im Plüschsessel hinten rechts sitzt Steven Seiffert vom Kulturbüro Sachsen, eine vom Land geförderte Demokratie-Initiative. Seiffert sagt: Was im Stadion passiert ist, habe ihn nicht überrascht. Bei den Ausschreitung im vergangenen Spätsommer habe die rechte Szene erlebt, was möglich ist. Wie mehrheitsfähig rassistische Denkmuster in der Stadt sind, wie gering die Berührungsangste vermeintlich bürgerlicher Kreise gegenüber Neonazis. Und auch, wie schnell Hemmschwellen fallen können. "Damals wurde etwas sichtbar, das unter der Oberfläche bereits lange vorhanden war." Diese Erfahrung habe die Szene motiviert. Neue Netzwerke seien geknüpft worden, bestehende ausgebaut.
Dennoch seien diejenigen, die sich hier gegen rechts engagierten, auf gewisse Weise privilegiert, sagt Seiffert. Immerhin gebe es Gleichgesinnte und Räume, in denen man zusammenfinde. „Im Umland, also in den Dörfern rings um Chemnitz, ist die Situation noch verheerender.“
Versuch einer "national befreiten Zone"
Seifferts Büro liegt etwas nördlich auf dem Sonnenberg, einem Viertel, in dem Neonazis versuchten, eine „national befreite Zone“ einzurichten. Andersdenkende wurden systematisch bedroht und angegriffen. Das Abgeordnetenbüro einer Linkenpolitikerin wurde mehrfach mit Steinen beworfen, Fäkalien wurden vor die Tür gekippt. Als eines Morgens ein riesiges Hakenkreuz die Fensterscheibe zierte, stellte die Polizei ein Ultimatum: Die Politikerin müsse die Schmiererei sofort beseitigen, andernfalls bekomme sie eine Anzeige wegen Verwendens verfassungswidriger Kennzeichen. Nach 22 Übergriffen in 17 Monaten gab die Politikerin ihre Räume auf.
Das Naziprojekt der „befreiten Zone“ ist dennoch gescheitert. Das lag nicht am Einschreiten der Staatsmacht, sagt Steven Seiffert. Sondern an den Recherchen einiger linker Aktivisten. Sie veröffentlichten die Namen der Gewalttäter im Internet, wollten sie aus der Anonymität holen. Die stellten prompt alle Aktivitäten ein.
Was von "Wir sind mehr" blieb
Anfang Juni wollen erneut Tausende Rechtsextreme durch die Innenstadt ziehen. Das Bündnis „Chemnitz Nazifrei“ mobilisiert dagegen. Ihm war es gelungen, Anfang September die Wegstrecke des rechten Schweigemarschs zu blockieren. Zwei Tage später feierten Zehntausende beim „Wir sind mehr“-Konzert, es sollte ein Zeichen sein, dass Chemnitz jetzt aufwacht. Leider war das dann auch der Zenit des zivilgesellschaftlichen Engagements gegen rechts, sagt ein Mitglied des Bündnisses. Kurzfristig habe „Chemnitz Nazifrei“ zwar Zulauf erhalten, das sei aber bald wieder eingeschlafen, inzwischen bestehe das Kernteam wieder nur aus denselben zehn Leuten. „Von der Stadt kommen vor allem Lippenbekenntnisse, das ist sehr ermüdend.“
Aktivisten fürchten, es könnte zu neuen Gewaltausbrüchen kommen, sollte der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Daniel H. mit einem Freispruch enden. Die Oberbürgermeisterin möchte sich dazu nicht äußern. „Wir sind jetzt weltbekannt“, sagt Barbara Ludwig, „aber eben nicht so, wie wir es gerne wären.“ Sie versuche, das Bild größer zu machen. „Früher war das Image Chemnitz’ nebulös, jetzt hat es eher nicht so sehr schöne Facetten.“
Welche Facetten genau?
Die will sie nicht nennen. Aber von den schönen Facetten, da könne sie einige aufzählen, wenn gewünscht.