Nach dem Konzert "Wir sind mehr": Wie es in Chemnitz jetzt weitergeht
65.000 Menschen haben ein starkes Zeichen gegen Rechts gesetzt. Am Freitag wollen die Radikalen in Chemnitz Rache nehmen.
- Maris Hubschmid
- Sebastian Leber
Die Zeichen waren nicht zu übersehen: Entlang der Ausfallstraßen, die vom Zentrum zur Autobahn führen, bildeten sich nach dem Konzert lange Staus. Auf dem Vorplatz des Bahnhofs mussten Massen stundenlang warten. Von den 65.000 Menschen, die Montagabend mit Bands wie den Toten Hosen und Kraftklub feierten, stammte ein großer Teil nicht aus Chemnitz. Wie sieht es dort einen Tag später aus? Kehrt Ernüchterung ein? Oder hat der Abend etwas bewirkt?
Robin Rottloff vom Bündnis „Chemnitz nazifrei“ spricht von einem „Motivationsschub“. Der 23-Jährige stand zu Beginn des Konzerts selbst kurz auf der Bühne, war beeindruckt von der Menschenmenge. Natürlich sei allen Engagierten in der Stadt klar, dass der Slogan „Wir sind mehr“ jetzt, schon einen Tag später, nicht mehr zutreffe. „Keiner von uns ist naiv.“ Aber das Konzert habe Kraft freigesetzt, sich nicht einschüchtern zu lassen, unnachgiebig zu bleiben, auch Risiken einzugehen.
An den nächsten Montagen soll es weitere Konzerte geben
Und es soll weitere Veranstaltungen geben: Für die kommenden drei Montage sind neue Gratiskonzerte geplant, diesmal in kleinerem Rahmen und direkt am Fuß des Karl-Marx-Monuments. Rottloff sagt: „Dieser sensible Ort soll dauerhaft positiv besetzt werden.“ Die Konzerte heißen „Montags am Kopf“, welche Künstler auftreten, ist noch unklar. Auch die Stadtverwaltung plant Veranstaltungen, unter anderem eine Diskussionsrunde mit dem Titel „Wie sicher ist Chemnitz?“ und einen „Bürgerdialog zum Thema Zuwanderung“. Zu letzterem ist Kanzlerin Angela Merkel eingeladen worden.
Auf Seite der Rechten ist die Wut weiter gewachsen. Das privat organisierte und von den Künstlern finanzierte Konzert halten viele für eine staatlich verordnete Feier, durchgesetzt, um den Unmut der Chemnitzer Bürger zu übertönen. „Genau das haben die Mächtigen schon 1989 versucht“, sagt ein lokaler AfD-Wortführer. „Wie damals wird der Versuch scheitern.“
Die Rechten kündigen für Freitag Rache an
Hinzu kommt, dass die Rechten ihren abgebrochenen Schweigemarsch am Samstag als schwere Niederlage empfinden. Nicht mal ein Viertel der Strecke haben sie geschafft, dann versperrte die Polizei den Weg, weil Gegendemonstranten einige Hundert Meter weiter auf die Marschroute gelangt waren. Kurz darauf vermummten sich Rechte, durchbrachen eine Polizeikette, skandierten abwechselnd „Keine Gewalt“ und „Auf die Fresse“.
Für beide Schlappen, das übervolle Benefizkonzert sowie den misslungenen Schweigemarsch, soll es Rache geben: Am Freitag wollen Chemnitzer Radikale erneut vor dem Karl-Marx-Monument aufmarschieren. Dazu gibt es bereits Aufrufe wie „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ oder „Macht den Volksverrätern den Gar aus“. Im Internet beschweren sie sich zudem über die montägliche „Hottentotten-Musik“, es kursiert eine Fotomontage, die den Sänger der am Konzert beteiligten Band Feine Sahne Fischfilet mit Hitlergruß zeigt. Das Bild ist eine sehr offensichtliche Fälschung, wird trotzdem hundertfach geteilt, auch „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt hat es verbreitet. Er war sich nicht sicher, ob es echt ist.
Robin Rottloff vom Bündnis „Chemnitz nazifrei“ sagt, das Konzert sei viel politischer geraten als erhofft. Kritiker hatten vorab gewarnt, die Veranstaltung würde nur Partycharakter, aber keine Inhalte bieten können. Die expliziten Statements der Bands, die Entschlossenheit des Publikums hätten das Gegenteil bewiesen, sagt Rottloff.
Weiterhin Vorwürfe gegen Ministerpräsident Kretschmer
Schwere Vorwürfe macht „Chemnitz nazifrei“ weiterhin Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Der rede die rechten Vorfälle bis heute konsequent klein, probiere gleichzeitig, die Gegenproteste in ein schlechtes Licht zu rücken. „Das hat Tradition“, sagt Jan Gorkow alias Monchi, der Sänger von Feine Sahne Fischfilet. In Phasen rechter Gewaltexzesse gebe es immer wieder Versuche, Gegner zu diskreditieren: „Die Schikanen gegen Lothar König sind ein gutes Beispiel.“ Der evangelische Pfarrer, der sich in Jena seit Jahrzehnten gegen Rechtsextremismus engagiert, ist mehrfach angezeigt und beschuldigt worden, Gewalt zu schüren.
Unter anderem gab es Hausdurchsuchungen bei König, nachdem Rechte verbreitet hatten, der Pfarrer leite insgeheim eine militante linksextreme „Sportgruppe“. „Dabei ist schlussendlich natürlich null Komma null rausgekommen“, sagt Jan Gorkow. „Es ist eben eine beliebte, weil naheliegende Einschüchterungstaktik.“ Campino, der Sänger der Toten Hosen, wurde ebenfalls massiv angefeindet. Rechte unterstellen ihm, Angela Merkel persönlich habe seinen Auftritt befohlen. Laut einer anderen Verschwörungstheorie habe Campino das Benefizkonzert schon geplant, noch bevor Daniel H. überhaupt erstochen wurde.
Aktivisten hoffen auf Zivilcourage der Bürger
Was also wird von Montag bleiben? Der Rechtsanwalt und frühere sächsische Grünen-Chef Jürgen Kasek glaubt, das Konzert bedeute für Chemnitz durchaus einen Unterschied. Allein der Moment, als die Toten Hosen gegen Ende Ärzte-Bassist Rodrigo González auf die Bühne holten und mit „Schrei nach Liebe“ den Hit ihrer einstigen Rivalen spielten. „Da ist wirklich etwas entstanden, ein Gefühl der unbedingten Solidarität. Ich glaube, das war gerade für diejenigen wichtig, die ständig gefordert sind – die jeden Tag wieder neu für die Demokratie kämpfen müssen.“
Jürgen Kasek sagt, dieses Gefühl werde in Chemnitz sicher spürbar bleiben. „Wenn so viele zusammen ,Nazis raus‘ rufen, verändert das was im Bewusstsein über die Kräfteverhältnisse.“ Seine Hoffnung ist: dass Menschen, die irgendwo angepöbelt oder Zeuge einer Ausgrenzung werden, „sich nach diesem Erlebnis jetzt eher trauen, einzugreifen, dagegenzuhalten“. Und wenn es nur einer sei, habe sich doch „das ganze Konzert schon gelohnt“.
Polizei schritt bei Attacken von Nazis wiederholt nicht ein
Das Bündnis „Chemnitz nazifrei“ fordert, die sächsische Polizei müsse endlich für die Sicherheit von Gegenprotestlern sorgen. Dass dies bisher nicht geschehen sei, verdeutlichten auch neue Details vom Wochenende, die nun bekannt werden: etwa dass der rechte Schweigemarsch über einen eigenen, inoffiziellen Sicherheitsdienst verfügte, der weiträumig um den Aufzug herum Passanten einschüchterte und dafür sorgte, dass niemand buhte – alles unter den Augen der Polizei. Zu diesen Gruppen kampfsporterfahrener Hooligans gehörten ein berüchtigter Trupp aus Braunschweig sowie NPD-Mitglieder. Wiederholt verscheuchten sie auch Journalisten, in mehreren Fällen wurden Fotografen gezwungen, gemachte Fotos zu löschen. Auch hier schritt die Polizei nicht ein.