Mutmaßlicher Attentäter: Die fieberhafte Suche nach Anis Amri in Berlin
Das ganze Land ist Anis Amri auf der Spur. Die Ermittler vermuten ihn noch in der Hauptstadt und wissen: Auf der Straße würden ihn alle erkennen – an seinen Schnittwunden im Gesicht.
Morgens um 4 Uhr rücken maskierte Polizisten an, mit Rammbock, Maschinenpistolen, für den Notfall haben sie Blendgranaten. Drei Einsatzteams stürmen fast gleichzeitig mehrere Objekte: eine Wohnung in der Lychener Straße in Prenzlauer Berg, eine in der Großbeerenstraße in Kreuzberg und dazu noch eine Moschee in Moabit.
Anis Amri finden sie nicht.
Bis Donnerstagabend ist der 24 Jahre alte Tunesier, der verdächtigt wird, den Lastwagen in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gesteuert zu haben, nicht gefasst. Trotz der mehr als 500 Hinweisen aus der Bevölkerung, trotz der ungewöhnlich hohen Belohnung, 100.000 Euro. Allein in der Hauptstadt fahnden tausende Polizisten nach Amri, in Uniform, in zivil, einige hören Telefonate ab, andere warten in Kampfanzügen auf ihren Einsatzbefehl. Offenbar sind mehrere hundert Beamte ausschließlich für diese Suche abgestellt. Doch selbst normale Streifenpolizisten tragen nun Maschinenpistolen und schusssichere Westen.
Die Ermittler glauben, dass sich Anis Amri noch in Berlin versteckt. Ein Zeuge hatte ihn nach dem Attentat fliehen sehen, im Gesicht verletzt. Außerdem fanden die Ermittler Blutspuren im zerstörten Fahrerhaus des Trucks. Bei einer Flucht durch Deutschland würden die Wunden auffallen. Unwahrscheinlich, dass es Amri unentdeckt außer Landes schaffte.
Verfassungsschutz geht von 850 Salafisten in Berlin aus
Gewähren ihm Berliner Salafisten vielleicht Unterschlupf?
Der Verfassungsschutz geht von knapp 850 Salafisten, also ultrareaktionären Islamisten, in der Stadt aus – Tendenz steigend. Zudem warnen Verfassungsschützer vor der wachsenden Zahl junger Männer, die aus Syrien oder Irak „zum Teil extrem radikalisiert zurückkehren“. In Berlin treffen sich Salafisten in der Neuköllner Al-Nur-Moschee, der Weddinger As-Sahaba-Moschee und der Tempelhofer Ibrahim al-Khalil-Moschee.
Die Gefährlichsten, einige auch kriegserfahren, verkehren seit ein, zwei Jahren in der Perleberger Straße in Moabit. Genau dort soll Anis Amri noch im Sommer gebetet haben. In den Räumen im Hof eines gepflegten Altbaus haben Islamisten junge Männer für den „Islamischen Staat“ rekrutiert, über Geld und Waffen geredet und zum Krieg, dem vermeintlich heiligen, aufgerufen. Das berichten Polizisten, einige Funktionäre der Moschee wurden in diesem Jahr angeklagt.
Der Treff ist unter Fanatikern auch in Österreich und in der Türkei bekannt. Vor allem aber unter strenggläubigen Tschetschenen in Russland und Georgien. Ein Ermittler sagt: „In der Perleberger Straße treffen sich Leute, die Massenmörder werden wollen. Die dann entweder ihren Einsatz in Syrien vorbereiten oder anderen helfen, Anschläge zu begehen – auch wenn bislang nicht in Berlin.“
Amri laut RBB kurz nach Anschlag in Moabit gefilmt
Die Moabiter Moschee, „Fussilet 33“, ist nach einem Koranvers benannt. Der Verfassungsschutz erwähnt sie in seinem letzten Bericht. Am Mittwochabend, seit zehn Stunden sind alle beteiligten Fahnder informiert, öffnet in der Moschee niemand. Es ist nach 21 Uhr. Vor dem Haus aber ruft aus einem Wagen mit getönten Scheiben ein schwarzhaariger Mann: „Was suchst’en?“
„Die Moschee.“
„Is’ noch da, was willst’en da?“
„Nach dem Verdächtigen fragen!“
„Hmm“, sagt der Mann, „Warte ma’!“
Er steigt aus dem Wagen. Schwarzer Anorak, darunter allerlei Geräte – und wohl mindestens eine Schusswaffe. Schnell ist klar: Die Spezialisten des mobilen Einsatzkommandos observieren die Moschee in dieser Nacht. Ob Anis Amri noch mal vorbeikommt? Laut RBB wurde Amri nur wenige Stunden nach dem Anschlag von einer Observationskamera an der Moschee gefilmt.
Ein paar Stunden später werden die Räume gestürmt. Die Moschee ist einer der Orte, die am frühen Morgen durchsucht werden – bestätigt haben das Ermittler des Generalbundesanwalts, der bei diesen Einsätzen die Leitung hat, nicht. Doch am nächsten Vormittag ragen in dem Moabiter Altbau Holzsplitter aus einer Tür.
Bei Razzia wurden IS-Anhänger gesucht
Der Staatsschutz hat das Gotteshaus immer wieder observiert. Vergangenes Jahr gab es eine Razzia, vermummte Spezialkräfte rückten an, also das SEK, Rammbock, Maschinenpistolen. Gesucht wurden damals Anhänger des „Islamischen Staates“, des IS. Im Juni 2014 soll ein Mann aus der Gemeinde eine Feier in einer Gartenlaube organisiert haben, um die Ausrufung des sogenannten „Kalifats“ durch IS-Terrorboss Abu Bakr al-Baghdadi im Irak zu würdigen. Ein anderer fiel auf, als er in einem Interview behauptete, er spreche „permanent mit den Leuten im Islamischen Staat“.
Ob Anis Amri diese beiden Männer kannte, ist offen. Als sicher gilt, dass der Gesuchte bundesweit Kontakt zu prominenten Salafisten hatte: dem in Hildesheim lebenden Iraker Abu Walaa, der als Chefideologe deutscher Salafisten gilt, und Boban S., ein vom Balkan stammender Dortmunder, der seit November in Untersuchungshaft sitzt. Ihm wird vorgeworfen, junge Muslime für den IS angeworben und zur Ausreise in den Krieg aufgefordert zu haben.
Notaufnahmen wurden gewarnt
Ermittler halten es für möglich, dass sich Anis Amri nicht mehr lange verstecken kann, weil seine Schnittwunden im Gesicht versorgt werden müssen. In den 39 Berliner Notaufnahmen gibt es am Donnerstag kaum ein anderes Thema, auch in Potsdam berichten Ärzte, sie seien informiert worden, dass der Tunesier plötzlich in ihrem Foyer stehen könnte. Einzelne Kliniken werden von Zivilfahndern beobachtet. „Wir alle wissen, er könnte jederzeit auftauchen“, sagt ein Berliner Unfallchirurg. „Uns wurde gesagt, der Mann sei verletzt, hochgefährlich und wahrscheinlich noch in Berlin.“
Sollte Amri sich einer Rettungsstelle nähern, ist sofort die Polizei zu informieren. Die Leitung der Vivantes-Kliniken hat ihre Ärzte und Pflegekräfte per E-Mail gewarnt. Offenbar suchen Ermittler „nun gezielt in den Krankenhäusern Berlins und Brandenburgs“ nach ihm, dem Attentäter vom Breitscheidplatz. Die Polizei geht davon aus, heißt es dazu, dass der Täter per DNA-Abgleich zu identifizieren sei. „Wir wissen aber auch“, sagt der Chirurg, „dass er sein Aussehen verändert haben könnte.“
Amri soll sich als Selbstmordattentäter angeboten haben
Am Donnerstag ist im Internet ein Video aufgetaucht, das Anis Amri wohl am Spreeufer nahe der Oberbaumbrücke zeigt. Der Gesuchte soll sich darauf selbst gefilmt haben – und summt vor sich hin. Es zeigt ihn mit rasierten Haaren und ohne Bart. Sein Gesicht ist schmaler als auf den offiziellen Fahndungsfotos. Das Video soll im September entstanden sein. Die Polizei bestätigt die Echtheit der Aufnahme nicht.
In Tunesien meldet sich am Donnerstag auch die Familie des Gesuchten. „Als ich das Foto meines Bruders in den Medien gesehen habe, habe ich meinen Augen nicht getraut“, sagt Abdelkader Amri, der Bruder des mutmaßlichen Mörders, vor Fernsehkameras. Neben ihm sitzen die Eltern. „Ich kann nicht glauben, dass er das Verbrechen begangen hat.“
Eine überraschende Aussage angesichts all der Details aus Anis Amris Vergangenheit, die inzwischen bekannt geworden sind. In seiner Zeit als Asylbewerber in Italien soll er mehrfach nach Körperverletzungen und Diebstählen erwischt worden sein, auf Sizilien soll er 2011 versucht haben, eine Schule anzuzünden. In Italien saß er vier Jahre im Gefängnis. Auch in seiner Heimat Tunesien hatte er mehrfach Ärger mit der Polizei. Medienberichten zufolge stahl er einen Lastwagen und handelte mit Drogen.
Bis September wurde Amri überwacht
In Deutschland fiel er unter polizeibekannten Salafisten auf. Zwischen März bis September diesen Jahres wurde Amri von deutschen Sicherheitsbehörden überwacht. In einem abgehörten Telefonat soll er sich einem deutschen Hassprediger gegenüber als Selbstmordattentäter angeboten haben, allerdings nicht wortwörtlich, sondern in derart blumigen Formulierungen, dass die Ansage offenbar nicht für eine Festnahme reichte.
Amri soll zudem versucht haben, Waffen zu besorgen. Das teilte am Mittwochabend die Berliner Generalstaatsanwalt mit. Weil sich der Tunesier ab Februar hauptsächlich in Berlin aufgehalten habe, wurde eben nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in Berlin gegen ihn ermittelt. Amri plane, so die vorläufigen Erkenntnisse damals, nicht nur einen Einbruch, „um hierdurch Gelder für den Erwerb automatischer Waffen zu beschaffen“, sondern sei vielleicht auch „als Kleindealer im Zusammenhang mit dem Görlitzer Park tätig“. In einer Bar soll er sich geprügelt haben – „mutmaßlich aufgrund eines Streits in der Dealerszene“.
Wie so oft unter Islamisten ist auch Amri offenbar zunächst ein erfolgloser Gewohnheitskrimineller.
Die „New York Times“ berichtet, dass Amri jedoch bald auch US-Ermittlern auffiel. Der Asylbewerber stand auf der amerikanischen Flugverbotsliste. Im Internet soll Anis Amri nach Anleitungen zum Bombenbau gesucht haben, außerdem sei zumindest eine Kontaktaufnahme zum „Islamischen Staat“ dokumentiert – und zwar über den Messangerdienst „Telegram“. Die App ist unter IS-Mitgliedern verbreitet, weil sich Nachrichten dort automatisch löschen lassen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass die Spurensicherung seine Fingerabdrücke im Fahrerraum des Trucks vom Breitscheidplatz gefunden hat.
Rätsel um Amris Geldbörse
Rätsel gibt der Fund seiner Geldbörse auf. Sie lag im Fahrerhaus und brachte die Ermittler auf Amris Spur. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Täter ausgerechnet diesen Gegenstand dort verliert? Im Internet verbreiten Verschwörungstheoretiker, das Portemonnaie sei nachträglich von einem Dritten dort abgelegt worden, um den Verdacht auf den Falschen zu lenken. Dabei gibt es ziemlich logische Erklärungen, die ganz ohne Verschwörungsszenarien auskommen. Erstens könnte der Täter die Geldbörse verloren haben, während er im Cockpit mit dem polnischen Trucker kämpfte. Ermittler gehen davon aus, dass Fernfahrer Lukasz U., 37 Jahre, 140 Kilo schwer, den Täter zu stoppen versuchte.
Zweitens ist es nicht ungewöhnlich, dass islamistische Attentäter absichtlich Ausweise am Tatort zurücklassen und so die eigene Beteiligung dokumentieren. Sie wollen von Gleichgesinnten als „Märtyrer“ gefeiert werden. Außerdem garantiert das Bekenntnis, dass ihre Familien sozial abgesichert sind. Viele Terrororganisationen unterstützen die Hinterbliebenen von Attentätern finanziell – was wiederum als Anreiz für potenzielle, also künftige Massenmörder, gedacht ist. Die perverse Logik: Wer sich bei einem Terroranschlag in die Luft sprengt, kommt nicht nur ins Paradies, sondern tut auch seiner Familie was Gutes.
Zugriff in Prenzlauer Berg wirkt ungewöhnlich
Peter Neumann, Terrorismus-Experte vom Londoner King’s College, wies am Donnerstag darauf hin, dass das absichtliche Hinterlassen von Ausweisdokumenten „Teil der Inszenierung“ islamistischer Terroristen und unter anderem bei den Anschlägen in New York, London und Paris vorgekommen sei.
Die Polizei gibt in diesen Stunden zu all dem wenig preis. Nicht mal die drei Razzien in der Nacht zu Donnerstag bestätigt sie. Vor allem der Zugriff in der Lychener Straße in Prenzlauer Berg wirkt ungewöhnlich: Ein Video im Internet zeigt behelmte, vermummte Beamte, die aus einem Edel-Neubau mit hohen Fenstern kommen. Es handelt sich zumindest im Vorderhaus um Eigentumswohnungen, Quadratmeterpreis: ab 3000, manchmal 5000 Euro. Auf dem Klingelschild deutsche Namen, zwei spanische. Was macht ein mutmaßlicher Islamist in diesem Kiez?
Womöglich nicht SEK, sondern GSG 9 im Einsatz
Ein Justizbeamter sagt am Telefon: „Vielleicht wurde ein Einbruch gemeldet – oder Anwohner haben im Hof einen Blutenden getroffen.“ In diesen Stunden reicht das, damit Elitepolizisten anrücken. Überhaupt, sagt der Kenner, waren womöglich nicht die Berliner Spezialkräfte da, das SEK also. Sondern die GSG 9, die auch für internationale Großlagen ausgebildete Truppe. Die Elitekämpfer der Bundesregierung.
Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.