Serie "Auf der Fährte" (9): Der Wolf - die lebende Legende
"Wer hat Angst vorm bösen Wolf?", heißt es im Kinderspiel. Nun breitet sich der Räuber in Deutschland wieder aus und die Menschen fragen: "Was, wenn er kommt?" Unterwegs im Revier eines deutschen Mythos.
Angst? So persönlich? Nicht doch! Das ist Deutschland hier. Sind ja alles aufgeklärte Leute. Ein Tier ist ein Tier, kein Dämon. Und ein Wolf ist eben nur ein Wolf. Schon erstaunlich: Selbst Viehzüchter und Jäger, also die Gegner unter denen, die sich zum umstrittensten Wildtier des Landes äußern, kennen sie selbst angeblich nicht, die Furcht vor dem Wolf. Da ist aber auch dieses mulmige Gefühl. Beim Spazierengehen im Wald. Dieser die Baumreihen auf graue Gestalten scannende, prüfende Blick. Wolfsrevier, das klingt so ganz anders als Kiefernmonokultur. Bestimmt ist gar keiner hier. 31 Rudel samt einigen Paaren, das sind 200 bis 300 Tiere – über ganz Deutschland verteilt. Sehr unwahrscheinlich, einem zu begegnen. Und doch. Das Gefühl scheint aus den Tiefen der Hirnrinde zu stammen, aus einer sehr alten evolutionären Erinnerung, aus dem kulturellen Gedächtnis. Und es ist nicht nur zu spüren, sondern auch zu sehen. In Niedersachsen, in der Lüneburger Heide, hat sich das Unbehagen an diesem lieblichen Sommerabend in einer Dose Pfefferspray im XXL-Format materialisiert. Griffbereit klebt sie an einem Fahrradlenker. Dort, wo in wolfsfreien Regionen sonst die Wasserflasche hängt. Hier kündet sie von einem verloren gegangenen Gefühl. Dem der allumfassenden Sicherheit des Menschen in der kultivierten Natur.
Dem Herrschaftsbewusstsein, an das sich die Krone der Schöpfung seit der Domestizierung der Wildnis, seit der Ausrottung der großen Beutegreifer Bär, Wolf und Luchs in Mitteleuropa, gewöhnt hat. Die Spitze der Nahrungskette ist ein gemütlicher Platz. Nur noch fressen, nie mehr gefressen werden. Wer will da schon wieder zum Rotkäppchen schrumpfen?
Mit Pfefferspray bewaffnet
„Hier lösen, und wenn ein Wolf auftaucht, da drücken“, erklärt der Fahrradfahrer sein im Internet erworbenes Wolfs-Ex. Raubtierabwehr mit Pfefferspray? Quatsch! Was ist, wenn der Wind falsch steht? Dann knockt der Radler sich nur selber aus. Wolfsexperten wundern sich nur über so wenig Wissen, so viel Unsicherheit.
Seit der Rückkehr der Wölfe, die seit 1850 in Deutschland als ausgerottet galten, nistet auch die Furcht wieder in der sorgfältig bereinigten deutschen Flur. Seit 15 Jahren also, als die ersten Wölfe aus Ostpolen dauerhaft in die sächsische Lausitz übersiedelten. Die Angst vor dem Wolf ist symbolisch befrachtet wie bei keinem anderen Wildtier. Und sie wächst schneller als die Stärke der Rudel.
Das galt den vergangenen Monaten besonders in Niedersachsen, wo sich Radler bewaffnen und wo auf dem Truppenübungsplatz Munster das einzige deutsche Rudel mit verhaltensauffälligen, also den Menschen nicht meidenden, sondern sich ihm neugierig nähernden Tieren lebt. Es gilt auch in Brandenburg, wo Reinhard Jung vom Bauernbund sich um seine Mutterkuhherde in der Prignitz sorgt und Sätze sagt wie „Die Wolfsausdehnung ist ein Angriff auf die Weidetierhaltung“ oder „Wir wollen ihn auf dem Lande nicht“ und „Schießen! Sofort schießen!“.
Es gilt sogar in Berlin, wo der Senat kürzlich eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Danny Freymark, der sich nach der Möglichkeit einer Ansiedlung von Wölfen in Berliner Wäldern erkundigte, wegen des Mangels an „großräumig ungestörten Gebieten“ verneinte.
Wölfe sind gute Läufer, sie schaffen bis zu 80 Kilometer am Tag. Doch wie weit die Tiere auch laufen, etwas ist immer vor ihnen da: das Bild vom Wolf, die Projektionen der Menschen. „Wer hat Angst vorm bösen Wolf? Niemand. Und wenn er kommt? Dann laufen wir!“, schreien die Kinder. Und tut nicht Kindermund die Wahrheit kund? Steckt nicht ein Körnchen Wirklichkeit in Märchen und jahrtausendealten Mythen?
Da sind der sprichwörtliche Leitwolf, der biblische Wolf im Schafspelz, der Mensch, der des Menschen Wolf ist, der Kreidefresser-Wolf, der die Geißlein täuscht, der dumme Isegrim, den der schlaue Reineke Fuchs austrickst, der Werwolf, das unheimliche Menschtier, der edle Bruder Wolf indianischer Sagen, das Krafttier der Schamanen. Die Germanen verehrten den Fenriswolf, Kelten und Mongolen kannten Wolfsgötter, die Wölfin, die Romulus und Remus säugt, symbolisierte den Herrschaftsanspruch des römischen Weltreichs. Moderne Schriftsteller wie Jack London, Hermann Hesse oder Rudyard Kipling skizzierten literarische Wölfe. Manchmal gut, meistens böse. Ein Outdoor-Ausrüster nennt sich Jack Wolfskin. Gehst du in die Wildnis, zieh’ dir die Wolfshaut über. Sei natürlich, sei frei, sei wölfisch. Das Tier mit dem Imageproblem fasziniert. Es hat sogar sein eigenes „Wolf Magazin“. Wölfe, Wölfe, überall Wölfe!
Die Wölfe wissen nichts von ihrem bestialischen Ruf
Zeit, dem Wolf in sein honiggelbes Auge zu schauen. Im Wildpark Schorfheide beim Wolfsseminar. Über der weiten Grassteppe der Wisente und Przewalski-Pferde tönt heiseres Geschrei. „Haste Wölfe, haste Raben“, sagt Wolfsexpertin Katharina Weinberg. Die zwei Arten seien Seelenverwandte. Sie mögen Fleisch. Und das muss nicht mal lebendig sein. Auch Wölfe sind Aasfresser. Es macht 20 Prozent ihrer Nahrung aus. Im Wildpark Schorfheide liegt ihr Gehege am Rand der Anlage, weit entfernt vom Besucherzentrum. Trubel schätzen sie nicht.
Die Wölfe machen sich an diesem Vormittag rar. Halt, da ist einer. Stakst vorsichtig in einen Teich. Hinterher klebt Entenflott am braunbeigen Fell. Eingehegt vom hohen Elektrozaun mit Untergrabschutz sieht das grün gesprenkelte Raubtier recht putzig aus. Trotz der 42 scharfen Zähne. Angst?
Parkchefin Imke Heyter fährt mit dem Kombi vor. Wolfsfütterung. Angesichts des Eimers mit Rindfleisch lassen sich zwei, drei mehr blicken. Sie halten Distanz. Oh, was macht die Frau jetzt? Öffnet das Zauntor und geht ins Gehege. Barfuß! Zu den Wölfen! Von wegen handaufgezogene Exemplare. Das sind Beutegreifer, Carnivora, Canis lupus! Ein paar Besucher schauen alarmiert auf das offene Tor. Die Angst ist da. Ein Wolf nähert sich. Der wird doch nicht? Nein, er bleibt stehen. Die anderen holen sich Fleisch und verschwinden wieder. Kein Knurren, kein Futterneid. Die Wölfe wissen nichts von ihrem bestialischen Ruf.
Aber die leben ja auch im Gehege. Pah, was hat das schon mit Wolfsverhalten in der freien Wildbahn zu tun? Und schon gar in der unfreien, die sich dicht besiedelte Kulturlandschaft nennt?
Ein Rudel, das sind Rüde und Fähe, beide gleichrangig, keiner ein Leitwolf, samt Welpen und Jährlingen. Familie also, gewaltfrei organisiert, das Revier gegen andere Rudel verteidigend und gemeinsam jagend. Die durch die Richtlinien der EU geschützten Tiere fressen meistens Rehe, seltener Rothirsche und Wildschweine. Noch viel seltener Nutztiere. Die machen weniger als ein Prozent des Speiseplans aus, hat das Senckenberg-Institut ermittelt. In Brandenburg haben Wölfe in den vergangenen acht Jahren 427 Schafe, 13 Kälber, vier Ziegen, 74 Stück Gatter-Damwild gerissen. Und einen Jagdhund verletzt. Dessen Halter, ein Uckermärkischer Förster, hat nichts abbekommen. Auch sonst kein Deutscher in den vergangenen 15 Jahren. Denn das ist doch die Angstmacherfrage: Frisst er Menschen, frisst er mich?
Anruf bei Markus Bathen in Spremberg. Der Forst- und Umweltwissenschaftler leitet das Wolfsbüro des Naturschutzbundes Deutschland. Er ist einer, der Erfahrung mit wilden Wölfen hat. Der ihnen in der Lausitz auf 30 Meter Distanz begegnet. Ohne schlimme Folgen für Leib, Leben oder Hund. Wenn einer weiß, ob der Mensch Angst haben muss vor jenem Raubtier, dessen Population beständig wächst, dann wohl er.
Kinder müssen lernen, was zu tun ist, wenn ein Wolf naht
Brauchen die nicht haben, glaubt er und referiert mit der nimmermüden Geduld eines Volksaufklärers seine Fakten. In jedem europäischen Land gibt es Wölfe, bis auf Luxemburg, Belgien und die Niederlande. Seit 1950 haben sie neun Menschen in Europa getötet. Die meisten aggressiven Tiere waren tollwütig. Heute kommt Tollwut in Deutschland nur noch bei Fledermäusen und importierten Hunden vor. Wenn der Wolf wirklich das Ende der Weidetierhaltung wäre, gäbe es in Rumänien oder Kroatien keine Bauern und Schäfer mehr. Der Wolf sei kein Tier der Wildnis, sondern ein Kulturfolger. Ja, vor Wildtieren müsse man Respekt haben. Im Wald vor allem vor Wildschweinen. Nein, wenn ein Wolf im Wald einem Kind begegne, denke er nicht automatisch, das sei ein Abendbrot. Der Wolf betrachte den Menschen in der Regel nicht als Beute. Die Kinder müssten wieder lernen, was zu tun ist, wenn sie einem begegnen: nicht hinrennen, Abstand halten, sich lärmend bemerkbar machen, langsam zurückgehen.
Und wenn Kinder das beherzigen, sind sie absolut sicher vor dem Wolf?
Nein, sagt Bathen, „Eine absolute Sicherheit gibt es in der Natur nicht.“
Wie denn auch? Die gibt es ja nicht mal in der Kultur. Trotzdem treten die Menschen jeden Morgen vor die Tür.
Dass Wölfe weder gut noch böse sind und als Lebewesen ein Existenzrecht haben, ist für Bathen keine Frage, sondern ein Gebot der Zivilisation. Eins, dass der Mensch viel zu lange ignoriert habe. Schießen lassen will der Jagdscheininhaber einzelne Tiere nur, wenn sie Menschen gefährlich werden.
Das ist bislang nicht mal bei den auffällig wenig scheuen Wölfen vom Munsteraner Rudel der Fall. Die wurden berühmt durch ein Handyvideo, das in Deutschland gerade kursiert und die Wölfe zeigt, wie sie einen Bauern auf einem Trecker beobachten. Einige der inzwischen mit Peilsendern ausgerüsteten Tiere scheinen von Menschen angefüttert worden zu sein. Der beste und fahrlässigste Weg, sich Wölfe auf den Hals zu holen.
Das Tier ist auch Symbol einer Heilung der geschundenen Natur
Es ist nicht nur die Angst vor der Bestie, sondern auch die Begeisterung für den Botschafter der Wildnis, die Menschen umtreibt. Wolfsromantiker sehen ihn als Symbol der Heilung einer von Menschen geschändeten Natur. Nicht zu vergessen: Der Wolf ist der Urahn des Hundes, des genetisch auf den Menschen geprägten Hauswolfs, der ihm in 15 000 Jahren Koevolution zum Kulturmotor wurde. Sowohl Jäger- und Sammler- als auch die Ackerbauer- und Viehzüchtergesellschaften haben über Jahrtausende vom domestizierten Wolf als Nutztier profitiert. Als Jagdhund, Hütehund, Karrenhund, als treuer Freund und überlebenswichtiger Gefährte. Der Hund ist des Menschen Familienmitglied. Von der Liebe zum guten, nützlichen Hund zum Hass auf den unnützen, räuberischen Wolf ist es nur ein kleiner Schritt.
Genau diesen kleinen Unterschied beleuchtet Utz Anhalt in seinem Buch „Wolf und Mensch“. Anhalt ist historischer Anthropologe, Doktor der Philosophie, spezialisiert auf das Verhältnis von Mensch und Wildtier. Seine Vorträge sind interdisziplinär und prägnant. Er ist gewissermaßen der Dr. Mark Benecke der Wolf-Szene.
Zum Gespräch lädt er in die Yukon Bay. Ein Themenpark im Erlebnis-Zoo von Anhalts Heimatstadt Hannover.
Dort streifen vier stattliche graue Timberwölfe durch die Landschaftskulisse einer verwilderten Mine. Die Anlage gefällt Anhalt, der ein seriöses Sakko zu Leningrad-Cowboy-Stiefeln trägt. „Weil sie zeigt, dass Wölfe die Kulturlandschaft vorziehen.“ Nicht des Menschen wegen, sondern wegen ihrer Infrastruktur.
„Der Wolf repräsentiert die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Kultur und Wildnis wie kein anderes Tier“, glaubt Anhalt und zeichnet im Zeitraffer den Weg vom Wolf als Idol der Urvölker zum verhassten Feind christlicher Hirten nach. Der wiederum lässt sich nicht ohne einen Abstecher zum abendländischen Weltbild überhaupt begreifen. Seit Aristoteles fuße die gesamte europäische Geisteswissenschaft auf der Aufwertung des Menschen durch die Abwertung des als „anders“ und „unvernünftig“ dargestellten Tieres, davon ist Anhalt überzeugt. Er leitet daraus im Rassismus weiter wirkende Stereotype über „heidnische Exoten und Barbaren“ ab.
Ist das also der Urgrund der im Gegensatz zum Wolf unausrottbaren Furcht vor ihm? Die Angst vor dem Anderen? Dem Fremden da draußen und womöglich auch in mir?
Utz Anhalt nickt. „Bei jedem Pogrom tötet man das konstruierte Monster einer gefühlten Angst.“ Wobei er mit Pogrom die ab dem 17. Jahrhundert vom Adel strategisch betriebene Ausrottung der zum Sinnbild von Apokalypsen wie Pest und Krieg erklärten Tiere meint.
Rassisten hassen auch Wölfe
In Bezug auf die Wolfshasser, die heute im Internet und den sozialen Netzwerken Stimmung machen, hat er eine zu den tradierten Mustern passende Bewegung ausgemacht. „Viele sind Rechtspopulisten und Pegida-Anhänger.“ Klingt nach einer sehr steilen These. „Gar nicht, das ist leicht zu belegen, lesen Sie auf buergerstimme.com mal den Artikel ,Migranten und Wölfe‘.“ Inzwischen getan. Rassistische Abgründe tun sich auf – gerichtet gegen Tiere und Menschen.
Deren Wolfsfurcht kann der Mythenerklärer also gar nicht verstehen? Und ob er das kann. Nur weigert sich sein aufgeklärter Verstand, dem evolutionär erworbenen Reflex zu folgen. „Wir fürchten Tiere, die uns fressen können. Das ist in uns drin. Mit der realen Gefahr hat das aber nichts zu tun.“ Die gehe im Wald eher von einer Bache mit Frischlingen aus.
Ob das auch die Wölfe wissen? 2013 haben sie in Alaska eine Joggerin getötet. Das ist kein Schauermärchen, sondern per DNA-Test belegt. Genauso wie die europäischen Zahlen belegen, dass von Wölfen in deutschen Wäldern keine ernste Todesgefahr ausgeht.
Vielleicht ist es ganz banal:
Wölfe sind sozial, lernfähig, kommunikationsorientiert. Sie sind Familientiere, Überlebenskünstler, Nahrungsopportunisten. Das Raubtier, das dem Menschen ähnlich ist.
Was könnte unheimlicher sein?
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