Tiere und Autobahnen: Mut zur Brücke
Sinnvolle Investition oder Verschwendung? In Brandenburg wurden millionenteure Bauten errichtet, damit Tiere Autobahnen heil überwinden können. Vor den Menschen werden die Standorte geheim gehalten. Aus gutem Grund.
Die Sommersonne ist kurz davor, den Zenit zu erreichen, als die Goldammer ihr Lied anstimmt. „Ti-ti-ti-ti”, „Tüh“. Minutenlang. Vielleicht ist dies ein Lob auf den „Pakt für Beschäftigung und Stabilität in Deutschland zur Sicherung der Arbeitsplätze, Stärkung der Wachstumskräfte und Modernisierung des Landes“. Dem Pakt verdankt der kleine Singvogel schließlich seinen Aussichtsplatz.
Irgendwo im südöstlichen Brandenburg, auf einer sogenannten Irritationsschutzwand, sitzt er. Tief unter ihm jagen Maschinen über die breite Piste der A 13 – Autos, Lastkraftwagen, gelegentlich Motorräder. Sie brüllen, jaulen, kreischen. Meist tonnenschweres Material, so kräftig, dass ihre Leistung von jeher in Pferdestärken angegeben wird. Die Goldammer mit ihrer knallgelben Brust singt und singt, ein Tier von maximal 30 Gramm. Bliebe sie den ganzen Tag und die ganze Nacht dort oben sitzen, könnte sie an die 50 000 dieser Maschinen zählen. Die Goldammer ist lauter. Sie übertönt den Lärm.
Ist natürlich Unfug, das mit dem Loblied auf den Pakt. Das Tier singt gegen die „genetische Depression“ an, es will sich Artgenossen mitteilen. So sagt das Andreas Sachse, Förster bei der Landeswaldoberförsterei in Hammer, Brandenburg, Landkreis Dahme-Spreewald. Er steht zwischen Büschen, ungefähr zehn Meter von der Goldammer entfernt. Er staunt ein bisschen. Die Irritationsschutzwand ist Teil einer Autobahnbrücke, die ausschließlich für Tiere gemacht ist. Dass sich auch Vögel hier einfinden, war bei der Planung nicht beabsichtigt. Denn die, wollen sie die Autobahn queren, können ja drüberfliegen.
Sachse ist gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Er tut dies nicht oft, denn Menschen sind hier ausdrücklich unerwünscht. „Wenn die über die Brücke laufen, steht deren Witterung da 24 Stunden“, sagt er. Und Tiere sind scheu. „Das Rotwild, das Damwild, das riecht das“, sagt Sachse. Es bleibt dann weg.
Deshalb gibt es an dieser Stelle auch keine Koordinaten und keine Anfahrtsbeschreibung zur Brücke, genauso wenig wie zu den beiden anderen, die in Brandenburg mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket II gebaut wurden, einem im Jahr 2009 von der Bundesregierung beschlossenen Geldregen zur Wirtschaftskrisenmilderung. Wer von Berlin aus über die A9 nach München fährt, über die A12 nach Frankfurt an der Oder oder nach Dresden über die A13, sieht sie ohnehin durch die Windschutzscheibe.
Seit drei Jahren sind die Brücken fertig
50 Meter breite, die Autobahnen überspannende Bauwerke sind es, an den Seiten versehen mit jenen zwei Meter hohen Irritationsschutzwänden, auf dass die Tiere so wenig wie möglich vom Verkehr dort unten mitbekommen. Wo die Brücken links und rechts der Straße den Boden berühren, werden sie breiter, wie ein Trichter. Oben wurde Erde ausgebracht, Bäume und Sträucher wurden gepflanzt, Gras und Kräuter gesät. In diesem Sommer, ungefähr drei Jahre nachdem die Brücken fertig wurden, wirkt das Ganze wie eine gepflegte städtische Grünanlage. Das wird nicht lange so bleiben. Erste Kiefernsämlinge kommen auf, es sind Verwandte der Bäume am Autobahnrand. Ein paar Robinien – „Spontanvegetation“ – sind auch schon da.
Die Ablehnung besuchswilliger Menschen erklärt womöglich auch Sachses Zurückhaltung, wenn es um die Frage geht, was denn eigentlich auf diesen Brücken so passiert.
Passieren tut nämlich eine Menge, und das Wissen darüber könnte wiederum Leute anlocken. Im Moment zum Beispiel, die Goldammer ist weggeflogen, sind zwei Ringeltauben gelandet. Sie wackeln vom Brückenscheitel herunter, Körner suchend, Richtung Waldrand.
Spuren im Sand
Irre, Tauben. Vielleicht wäre das ein guter Zeitpunkt, einen Witz über zu Fuß laufende Allerweltsvögel zu machen, für die der Bund in Brandenburg drei Brücken bezahlt hat, 21 Millionen Euro standen zur Verfügung. Wenn Sachse nicht gerade jetzt ein paar Schritte abseits machte, still und den Blick auf den Boden gerichtet, der zwischen Brückenfuß und angrenzendem Waldrand nur aus Sand besteht.
Sachse schaut. Er schweigt ausdauernd, und dann zeigt er auf etwas. Vergangene Nacht hat es geregnet, die Fährte muss also frisch sein. Tatzen. Ein Wolf!? „Vielleicht“, sagt Sachse, „oder ein großer Hund.“ Es fehlen aber Menschenspuren, die Fußabdrücke von Herrchen oder Frauchen. Zudem ist die Tierfährte einigermaßen wolfstypisch. Hunde laufen breitbeiniger.
Feldhasen, Rehe, Füchse und Dachse
Dass Wölfe hier gelegentlich vorbeikommen, ist belegt. Die drei Brandenburger Konjunktur-Brücken – so werden sie genannt in der Behörde, die sich um sie kümmert – sind mit Bewegungsmeldern und Kameras ausgestattet. Immer wenn sich etwas rührt, wird ein Foto gemacht. Zum Beispiel am 1. Dezember 2013, nachts, fünf vor zehn: Ein Wolf überquert die Brücke nach Westen. Ein Jahr später, am 18. Dezember kurz nach Mitternacht, läuft einer nach Osten.
Auf den Fotos, die seit Herbst 2012 auf der Brücke gemacht und im Landeskompetenzzentrum Forst in Eberswalde ausgewertet werden, finden sich bis zum Jahresende 2014: 772 Feldhasen, 584 Rehe, 436 Füchse, 59 Dachse, 59 Kraniche, 48 Mal Dam- und 22 Mal Schwarzwild. Waschbären, Marder, Marderhunde, Hauskatzen. Und dann, am Morgen des 9. Juni 2014, es ist kurz nach halb sechs und schon hell, fotografiert die Brückenkamera eine Elchkuh.
Das war so etwas wie ein Ritterschlag für die Brücke. Ein in Deutschland derart seltenes Tier, meist auf der Durchreise oder auf Kurzbesuch, hatte das Bauwerk gefunden und es benutzt.
Insgesamt sind etwas mehr als 2000 Tierquerungen dokumentiert, das sind 80 im Monat und ungefähr drei am Tag.
Was kostet ein Tierleben?
Gröbstmögliche Rechnung: 21 Millionen Euro vom Bund für drei Brücken macht sieben Millionen pro Bauwerk. Sieben Millionen Euro geteilt durch 2000 Tiere: macht 3500 Euro pro dokumentiertem Tier, das die A-13-Brücke bis Ende 2014 überquert hat. Da es sich um eine einmalige Investition handelt, senkt jedes Exemplar, das hier drüberläuft, zukünftig den Schnitt.
Wenn bloß die Menschen wegblieben. In einem der Auswertungsberichte steht: „Das im Umfeld lebende Rotwild meidet die Grünbrücke weiterhin.“
Viele der Bilder entstehen nachts, die meisten sind unscharf. Infrarotlampen hellen Augenpaare zu weißen Punkten auf. Etwas Heimliches, Unheimliches geht von den Fotos aus. Wilde Tiere unter sich sind zu sehen. Arglos grasend wie manches Reh oder wetzend wie die Wildschweine, die so flott unterwegs gewesen sein müssen, dass die verwischten Aufnahmen von ihnen an jene Bilder erinnern, die bei den Zieleinläufen von Pferderennen entstehen. Ein Fuchs im Sprung, er jagt Mäuse im Schnee. Ein Hase, der direkt in die Kamera zu schauen scheint. Ein Dachs, sehr in Eile, zielstrebig geradeaus laufend. Ein stolzierendes Kranichpaar mit Jungem.
Die Fotos sind so großartig, dass manche Leute wohl ein Geschäftsmodell daraus machen würden, wenn sie ihrer denn habhaft werden könnten. Ausstellungen, Bildbände, Naturfotografiepreisausschreiben. Doch das Eberswalder Landeskompetenzzentrum wacht über die Bilder, gibt wenig davon preis. Wer Informationen zu den Brücken haben möchte, stößt auf Skepsis. Ein von behördlichen Fachleuten begleiteter Besuch? Es dauert eine Weile, dann ist er möglich, aber bitte kurz. Informationen, die über das hinausgehen, was die Kompetenzbehörde ohnehin selbst veröffentlicht: Mmh, sehr gerne, aber bitte anschließend nicht das Rot- mit dem Damwild verwechseln, bitte korrekt bleiben. Und bitte denken Sie daran: Jeder öffentliche Satz über das Leben auf den Brücken zieht neue Menschen an.
Geschichten über den Wolf
Das wird jetzt auch Förster Sachse wieder bewusst. Angesichts der Fährte hat er über den Wolf gesprochen. Geschichten über den Wolf sind extrem anziehend, für Großstädter vor allem. Brandenburgs Landesbehörden werden auch sehr hellhörig, wenn sie nach den noch vor Kurzem sakrosankten Tieren gefragt werden. Denn mittlerweile häufen sich bundesweit Berichte darüber, dass die sich danebenbenehmen. Sachse, der viel dafür geben würde, einem Wolf einmal zu begegnen, wird bestimmend. Er würde gern kontrollieren, womit er zitiert wird. Er wird zitiert mit: „Ich halte es für einen Fehler, dass man in den vergangenen Jahren den Leuten so wenig zugehört hat, die Angst vor dem Wolf haben.“
Jägerverbände sind beglückt über Brücken wie die hier über der A 13, Naturschützer sind es auch. Biotopverbund nennt sich das entsprechende Konzept, und das zersiedelte und von Straßen durchschnittene Deutschland hat dies aus Sicht der beiden Gruppen so nötig wie kaum ein anderes Land in Europa. Die Bauwerke helfen Tieren beim Überleben, sie erschließen ihnen neue Lebensräume oder verbinden zumindest notdürftig die alten. Sie verhindern oder vermindern Inzucht.
Die Wirtschaftskrise und ihre Brücken
Als Faustregel gilt den Fachleuten: Ab 10 000 Autos pro Tag wird eine Straße zur unüberwindbaren Barriere für Säugetiere. Autobahnen übertreffen diesen Wert meist um ein Mehrfaches. Unüberwindbar heißt, dass Säugetiere solche Straßen aus Vorsicht nicht überqueren. Tun sie es doch, ist ein Unfall wahrscheinlich. Das Tier ist dann in aller Regel tot, das Leben der Menschen zumindest in höchster Gefahr. Dennoch sind Brücken wie die über die A 13, in deren Einzugsbereich es im Jahr 2012 noch fünf Wildunfälle gegeben hat, 2013 einen, 2014 keinen, umstritten.
2008: Kreditvergaben und Geldanlagemodelle von Großbanken offenbaren sich als dubios und teilweise verbrecherisch, Lehman Brothers geht ein, die deutsche Hypo Real Estate braucht Milliarden von unbeteiligten Steuerzahlern. Die echte Wirtschaft der halben Welt, Menschen, die Dinge herstellen oder verkaufen, die man anfassen kann, wackelt. Die deutsche Regierung beschließt, wiederum das Geld der Steuerzahler dafür aufzuwenden, um jener echten Wirtschaft, besonders Bau- und Autofirmen, zu helfen. Schulen werden saniert und gedämmt, Autokäufe werden subventioniert. Autobahnbrücken für Tiere werden gebaut.
2011: Der damalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer rückt von diesem Konzept ab. Er lässt sich zitieren mit der Aussage, dass es „entweder Geld für den Bau von Ortsumgehungen gäbe oder für Grünbrücken“.
2013: Die Zeiten haben sich komplett geändert. Der Regierung ist aufgefallen, dass ihre Wähler vermehrt unter jahrzehntelang vernachlässigten Straßen und Gleisen zu leiden scheinen. Infrastruktur ist das neue Thema. Ramsauer spricht davon, dies ändern zu wollen. Tierbrücken – vier Jahre zuvor noch eines der Heilmittel zur Rettung der Wirtschaft – werden plötzlich zu verzichtbarem Luxus.
Öffentlichkeit schadet
Entsprechend verschreckt reagieren die damit Befassten, wenn sie der Öffentlichkeit den Segen ihrer Arbeit zeigen sollen. Sie sind angreifbar geworden. Angreifbar neben all den Zumutungen, denen die Brücken ohnehin schon ausgesetzt sind.
Die Öffentlichkeit hat bereits bewiesen, dass sie schadet. Die A-13-Brückenkamera fotografiert Hobbyreiter mit ihren Pferden. Motorrad-, Moped- und Quad-Fahrer. Spaziergänger mit Hunden. Dazu kommen jene Menschen, die von der Kamera wussten und sie zu stehlen versuchten, wiederum aber zu blöd dafür waren, eine Kamera zu erkennen. Sie vergriffen sich stattdessen an anderer Technik. Aber, wieder Pssst!, bitte nicht genauer werden.
570 Mal seit Herbst 2012 querten Menschen unter dem Auge der Kamera die Brücke. Falls Sachses Satz gilt, dass zumindest einige Tierarten 24 Stunden brauchen, bis sie Menschenwitterung nicht mehr wahrnehmen oder zumindest ignorieren, sind das ungefähr eineinhalb Jahre, in denen die Brücke fürs Wild unbenutzbar geworden ist.
Die Elchkuh immerhin hat sich nicht stören lassen, am legendären Morgen des 9. Juni 2014. Sie scheint, so hat es die Kamera dokumentiert, seelenruhig und völlig selbstverständlich über die Brücke zu wandern, vorbei am Weißdorn, an Schlehe und Weinrose. Sie läuft einfach, so wie Eroberer laufen, die schon einiges auf ihrem Weg hinter sich haben. Eine halbe Minute später folgt ihr ein Jungtier.
„Zum ersten Mal konnte damit die Nutzung eines wildspezifischen Bauwerks in Brandenburg durch Elche dokumentiert werden“, steht im Bericht der Eberswalder Kompetenzbehörde. Die beiden Tiere kamen offenkundig aus Polen, sie sind mehrfach beobachtet worden. Sie liefen durch Märkisch-Oderland, den Oder- Spree- und den Dahme-Spreewald-Kreis. Innerhalb von 48 Tagen müssen sie 400 Kilometer zurückgelegt haben. Dann waren sie wieder verschwunden, wahrscheinlich zurückgekehrt nach Polen. Es muss ihnen in Brandenburg nicht gefallen haben. Vielleicht noch nicht.