Protest gegen die Justizreform: Der Weckruf für Polens Bürger
Politik? Bringt mir nichts, dachte Pawel früher. Heute weiß er: Sie kann einem aber etwas nehmen. Er ist einer von hunderttausenden Polen, die diese Lehre auf die Straßen treibt.
Ihre Hände zittern, „Wir haben gewonnen“, schreit sie, mitten in die Küche hinein, ihre Kommandozentrale, den auf dem Tisch stehenden Kaffeetassen entgegen, den Wasserflaschen, den Plakaten mit dem Wort „Konstytucja“ – Verfassung – an der Wand, den übernächtigten Mitstreitern. „Hört ihr? Gewonnen!“, Lautstärke geht jetzt vor Schnelligkeit, denn ausgerechnet hier, in dieser Küche einer kleinen Wohnung im Warschauer Stadtzentrum, erfahren sie die Neuigkeit beinahe zuletzt.
Sie schreit: Wir haben es geschafft!
Eben hatten sie noch palavert, nach der vorangegangenen Protestnacht über die nächste geredet, zwei Stunden lang, die Smartphones waren ausgeschaltet. Mehr als ein Dutzend Anrufe in Abwesenheit hatte Weronika Paszewska in dieser Zeit bekommen. Als sie endlich anfängt zurückzurufen, hat sie einen Journalisten am Apparat. Was sie denn davon halten würde, will der wissen. „Wovon?“, fragt sie zurück. „Na, vom Veto.“
Paszewska braucht einen Moment. Dann schreit sie: „Wir haben es geschafft! Wir, die Bürger!“ Sie sind wieder hellwach, die 33 Jahre alte Paszewska und all die anderen Mittzwanziger und Mittdreißiger in der Küche, die maßgeblichen Anteil daran haben, dass ein schläfrig wirkendes polnisches Volk aufgewacht zu sein scheint.
Es ist Montagvormittag, nicht weit entfernt von der Küche hat Polens Präsident Andrzej Duda gerade angekündigt, gegen zwei von drei Gesetzentwürfen der Regierung Einspruch zu erheben. Zwei Einsprüche gegen drei Regierungsvorhaben zur Justizreform in Polen, die in der Nacht zum Samstag die letzte parlamentarische Hürde nahmen.
Die Gesetze sollten es der Regierung ermöglichen, über die Besetzung von Richterposten mitzubestimmen und ihren Einfluss auf die Gerichte auszubauen. Auch auf das Oberste Gericht in Polen, das im August darüber befinden wollte, ob Verfahren gegen zwei hochrangige – und vom Präsidenten begnadigte – Politiker der Regierungspartei PiS wieder aufgenommen werden sollen.
Das Oberste Gericht ist nicht nur die höchste Instanz der allgemeinen Gerichtsbarkeit, sondern auch diejenige Institution, die Wahlergebnisse überprüft und bestätigt. Polens Regierung hätte dadurch die Möglichkeit gehabt, ihr nicht genehme Wahlen als ungültig zu erklären. Ihr bisheriges Verhalten zeigt, dass dieses Szenario durchaus möglich ist.
Dass nun das Veto kam, beruhigt die EU-Kommission nur mäßig. Am Mittwoch hat sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen angekündigt. Dessen Regierung sprach danach von „Erpressung“. Das ist der neue Sound. Die EU will zumindest den Anschein wahren und nicht als tatenlos gelten angesichts der polnischen Gegenwart, anschließend wird zurückgepoltert.
Tausende Lichter erhellen die Sommernacht
Eine Woche zuvor, am vorvergangenen Sonntag, steht Weronika Paszewska auf dem Warschauer Krasinski-Platz, hinter ihr das Gebäude des Obersten Gerichts, vor ihr das Denkmal, das an den Warschauer Aufstand 1944 erinnert - und eine Menschenmenge. Paszewska hält eine Rede. Sie sagt, sie könne nicht zulassen, dass die Demokratie, um die ihre Eltern gekämpft haben, jetzt verloren geht. Wie groß ihr Publikum ist, wird Paszewska in dem Moment klar, als ihr jemand ein Handy hinhält, auf dem Display eine Luftaufnahme des Platzes. Tausende Lichter sieht Paszewska, warme, gelbe Punkte in der Dunkelheit einer Sommernacht. Kerzen, in den erhobenen Händen der Menschen, vorn auf dem Platz, hinten, rechts, links, bis weit in die angrenzenden Straßen hinein.
„Das war der Moment, als ich mir sagen konnte - wow, was wir geschafft haben! Wir sind auf der Straße“, sagt sie. Vor zwei Jahren haben sie und sechs Bekannte ein Netzwerk gegründet, die „Aktion Demokratie“. Ein loser Haufen junger Leute, der Petitionen startete, gegen Luftverschmutzung, für Flüchtlinge, gegen ein Freihandelsabkommen, für eine Volksabstimmung zur Schulreform, schrieb an Abgeordnete der damals noch regierenden Partei Bürgerplattform, später an deren Nachfolger, die PiS, die Partei Recht und Gerechtigkeit.
Die Themenbreite der „Aktion“, vor allem aber die Fähigkeit, ihre Kritik an politischen Entscheidungen nicht ausschließlich auf eine Partei zu fokussieren, sondern sie quer durch das politische Spektrum an jeden zu richten, den die Aktivisten für verantwortlich halten, ist ungewöhnlich in Polen. Sie hat ihre Wurzeln in der Parteienverachtung der Jungen, und sie ist einer der Gründe für den Erfolg am Montag.
Dauerempört, dauerbeleidigt gibt sich auch das gleichgeschaltete Staatsfernsehen
Klassische Musik schallt über den Krasinski-Platz, jemand liest aus der Verfassung vor. Keine Politikerbeschimpfungen sind zu hören, keine beleidigenden Slogans. Stattdessen halten die Menschen Kerzen in die Höhe. Hier vor dem Obersten Gericht, vor dem Parlament, vor dem Präsidentenpalast. Vor Kreisgerichten, auf Plätzen und in Parks in mehr als 120 Städten und Dörfern protestieren die Menschen, jeden Tag, gegen die Politik der Regierung. Sogar am Ostseestrand sammeln sich abends die Urlauber. Ihre Zahl wuchs innerhalb einer Woche von etwa zehn- auf mehrere hunderttausend. Bis schließlich das Präsidentenveto kommt.
„Etwas musste er sagen“, sagt Teresa Oleszczuk und lacht. Sie lacht die ganze Zeit. So sehr, dass sie fast schon weint. Sie ist 57 Jahre alt, sie hat die Solidarnosc-Streiks in den 80er Jahren erlebt, den Kriegsrechtzustand, das Ende des Sozialismus.
Es ist schwer, die Polen zu mobilisieren
„Ich schäme mich dafür, dass nur so wenige auf die Straße gehen“, sagt Oleszczuk. Seit dem Wahlsieg im Oktober 2015 ändert die PiS ein Gesetz nach dem anderen. Zunächst wurde das Verfassungsgericht umgebaut - was der Regierung ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU einbrachte -, danach die öffentlich-rechtlichen Medien umbesetzt. Neue Versammlungsgesetze folgten, die kirchlichen und staatlichen Einrichtungen bei der Anmeldung von Demonstrationen Vorrang gewähren.
„In einer Stadt wie Warschau sollte eine halbe Million gegen all das protestieren, anstatt nur 50 000.“ Doch sie weiß ja auch, wie schwierig es ist, die Polen zu bewegen. Auch jetzt, da einer Umfrage der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ zufolge eine Mehrheit im Land - 57 Prozent - gegen die Justizreform ist.
Bürgerliches Engagement ist vergleichsweise selten im Land. Die Wahlbeteiligung liegt im Schnitt bei unter 50 Prozent. Ehrenamtliche Arbeit leisten zehn Prozent der Polen, in Deutschland ist es - je nach Erhebungsmethode - jeder Dritte oder Vierte. Mitglied einer Gewerkschaft ist im einstigen Solidarnosc-Land nur noch jeder Zwanzigste. Partei- und berufsgruppenübergreifende Proteste gab es seit der Wende kaum noch. Gewalttätige Demonstrationen der Bergleute, Proteste entlassener Lehrer oder schlecht bezahlter Krankenschwestern, die gab es indes schon.
Langsam wacht die Jugend auf
„Ich liebe die Freiheit, ich kann sie nicht abgeben“, singen Pawel und Joanna mit tausenden Protestierenden vor dem Sejm, dem Parlamentsgebäude. Zwei brav aussehende Studenten, die eine große polnische Flagge schwenken. Das Lied ist 1990 entstanden, als die erste demokratische Wahl in Polen stattfand. Die beiden waren damals noch nicht auf der Welt. Die Wahl vor zwei Jahren war die erste, bei der sie abstimmen durften.
Doch Pawel wirkt verlegen, als er gefragt wird, ob er damals abstimmen gegangen ist. Es sei ihm heute peinlich, sagt er nur. Er habe gedacht, egal welche Partei gewinnt, es würde nichts ändern.
„Wir haben geglaubt, nichts gewinnen zu können“, sagt er. „Aber uns ist auch nicht eingefallen, dass wir etwas verlieren können.“ Auch der Wahlsieg der PiS und deren ersten Umbauten im polnischen Staat ließen ihn gleichgültig. Vom Verfassungsgericht und dessen Bedeutung wusste er wenig. Die öffentlich-rechtlichen Medien? Sieht und hört er nicht. Warum sollte er sich engagieren?
Joanna hat im vergangenen Herbst eine Internetpetition unterschrieben, gegen ein geplantes, absolutes Abtreibungsverbot. Auf die Straße ging sie nicht. „Vielleicht dachte ich, dass so viele dagegen wären, dass sie es für mich erledigen.“
Sie meiden Demos mit Politikern
Aber nun stehen sie hier. Sie fürchten, dass Polen sich immer weiter und unaufhaltsam von der EU entfernt. Sie fürchten, dass die Regierung vielleicht eines Tages den Zugang zum Internet beschränkt. Oder dass sie beide, vielleicht wegen einer Demo wie dieser, einfach festgenommen werden. Pawel sieht sich um. Die Hälfte der Umstehenden ist in seinem Alter.
Und dann sagt er noch, als habe er die Sätze der „Aktion Demokratie“-Aktivistin Paszewska auswendig gelernt: „Wir protestieren nicht gegen die PiS, sondern für Demokratie.“ Zu Protestkundgebungen, bei denen Politiker auf der Bühne stehen, gehen sie nicht. In Poznan wurde dem Vorsitzenden der Partei Bürgerplattform, der auf einer Demonstration eine Rede halten wollte, höflich ein Einsatz als Ordner angeboten.
Ein anderer Tag, eine andere Kundgebung. Ein muskulöser, 62 Jahre alter Mann in Jeans und T-Shirt steht unter den Menschen, ein Veteran. Er sagt, „das ist hier wie ein Déjà-vu.“ Er ist bekannt im Land, selbst Joanna und Pawel, deren Geschichtsunterricht mit dem Jahr 1945 endete, wissen mittlerweile, wer das ist. Wladyslaw Frasyniuk, neben Lech Walesa - der die Polen dazu aufgerufen hat, an den Protesten teilzunehmen - einer der prominentesten aus den Reihen der Solidarnosc.
In den 80er Jahren war er der Vorsitzende der damals illegalen Gewerkschaft in Niederschlesien. Zwei Jahre hat er sich vor dem Sicherheitsdienst versteckt, später wurde er vier Jahre lang inhaftiert. Er hatte sich mittlerweile längst aus der Politik zurückgezogen, jetzt ist er wieder da, bei den Protesten. Auch als Redner.
Seine Stimme hat er in den vergangenen Tagen beinahe verloren. „Wenn ich morgens aufwache, dann weiß ich nicht, ob ich jetzt 60 bin oder wieder 30“, sagt er. „Die neuen Gesetze, die ganze politische Entwicklung erinnern mich so sehr an meine Jugend, als ich so schnell zu einem Verbrecher gemacht worden bin - nur weil ich anders gedacht habe.“ Damals, sagt er, war es sogar leichter für ihn. Das sozialistische Polen, „wir betrachteten es als uns von der Sowjetunion aufgezwungenes Regime. Etwas Fremdes. Und jetzt wird Polen von Polen zerstört.“ Ohne große Gegenwehr.
Die polnische Demokratie? "Ist noch wie ein Baby"
„Die Institutionen, die Zivilgesellschaft, sie waren offensichtlich zu schwach, wenn es so einfach war, sie so schnell zu zerstören.“ Er und seine Generation, „wir Alten, auch von Solidarnosc, haben offensichtlich was falsch gemacht, als wir dieses neue Polen aufbauten“.
Westeuropa müsse verstehen, dass das Land einfach zu wenig Zeit hatte, sagt Frasyniuk. Um eine richtige Demokratie aufzubauen, brauche man mehr als 25 Jahre. „Die polnische Demokratie ist immer noch wie ein Baby“, sagt er.
Dauerempört, dauerbeleidigt gibt sich wegen dieser Vorwürfe auch das gleichgeschaltete Staatsfernsehen.
Sie wissen, wie man Hass schürt
„Mächtige Kräfte investieren viel Geld in die Proteste, weil sie ihre Macht zurückerobern wollen“, sagt der Außenminister im Sender TVP Info. In einer Einblendung ist zu lesen: „Pädophilen-Unterstützer und Unterhaltszahlungsverweigerer sind Gesichter der Proteste gegen Justizreform“.
„Es sind die Stasi-Gespenster, Witwen der Stasi-Mitarbeiter und nützliche Idioten, die auf die Straße gehen“, sagt ein Senator der PiS im Parlament.
Joanna und Pawel, die beiden Protestnovizen, haben die Beschimpfungen mitbekommen. „Das ist der Hammer“, sagt sie. Sie wissen jetzt, wie man öffentlich Hass schüren kann.
Hass, von dem auch Teresa Oleszczuk berichten kann. In ihrer Wohngegend gibt es ein Teehaus, sagt sie. Die Besitzerin hängte eine kleine EU-Flagge ins Lokal. Jetzt bekomme sie Drohungen, anonyme Briefe mit Ankündigung: Bis Winter seid ihr erledigt.
Und Weronika Paszewska - die „Aktion Demokratie“-Aktivistin - plant schon wieder. Aufhören könne man jetzt nicht, sagt sie. Viele Bürger seien aufgewacht. Dieses Potenzial könne man jetzt nicht einfach wieder versanden lassen.
Auch Oleszczuk hört nicht auf. Am Abend, sagt sie, habe sie wieder vor, auf die Straße zu gehen.