Gaucks letzte Rede als Bundespräsident: Der Mutmacher nimmt Abschied
Freiheit ist Joachim Gaucks Lebensthema. Nun steht sie wieder auf dem Spiel. Seine letzte Rede als Bundespräsident ist ein Aufruf: zum Widerstand.
Es steckt so viel Sorge in diesem Abschied, und wahrscheinlich sogar ein bisschen Angst. Dabei ist doch das Schloss Bellevue auch an diesem Mittwoch wieder der aufgeräumteste und friedlichste Ort der Republik. Draußen im Schnee stehen die zu Kegeln beschnittenen Koniferen stumm und stramm, drinnen im großen Saal unter den Messinglüstern rückt der Protokollchef sachte hier und da ein Namensschild in den ersten Stuhlreihen gerade: „SE Herr Botschafter Emerson“ liest man da oder auch schlicht „Frau Springer“. Gleich werden die Ehrengäste kommen, die Joachim Gauck zu seiner letzten Rede eingeladen hat. Über den zwei Türen zum Saal ist das Motto an die Wand projiziert: „Wie soll es aussehen, unser Land?“
Was waren das damals für idyllische Zeiten
Die Frage war das Leitmotiv der ersten Ansprache, die der frisch gewählte Bundespräsident seinem Land hielt. Fünf Jahre später will er sie noch einmal stellen. Aber fünf Jahre später stellt sie sich anders, dem Land und ihm selbst. Zum Abschied muss Joachim Gauck in einem langen Selbstgespräch Mut machen, dem Land und sich selbst.
Wahrscheinlich ist er ja selber etwas erschrocken bei der Materialsammlung für diesen letzten Auftritt. Was waren das damals für idyllische Zeiten! Eine schwarz-gelbe Koalition stritt über alles mögliche und wäre fast darüber zerplatzt, dass der FDP-Chef Philipp Rösler im Bundespräsidentenkandidatenpoker plötzlich die Kanzlerin vor vollendete Tatsachen stellte: Wir tragen den rot-grünen Kandidaten mit!
Angela Merkel konnte nur noch hinter verschlossenen Türen fluchen und den Mann anrufen, der gerade mit dem Taxi auf dem Weg von Tegel nach Hause war. Da saß er, „nicht mal gewaschen“, zu Tränen gerührt. „Im Moment“, gestand der frisch Gekürte, „bin ich nur verwirrt.“
Es war ja auch eine Überraschung. Schon zwei Jahre vorher hatten SPD und Grüne den ersten Verwalter der Stasi-Akten zu ihrem Kandidaten gemacht. Gegen Merkels Parteiräson-Kandidaten kam er nicht zum Zug; Christian Wulff musste erst scheitern. Aber dann stand er am 23. März 2012 im Plenarsaal des Bundestags und stellte frohgemut seine Frage, wie das Land denn aussehen soll, „zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen ,unser Land‘“. Damals konnte eine der Antworten noch heißen: „Für meine Enkel ist Europa längst aktuelle Lebenswirklichkeit mit grenzüberschreitender Freiheit und den Chancen und Sorgen einer offenen Gesellschaft.“
Am Mittwoch wirft der Projektor an die Wand über den beiden Türen Zeitungsschlagzeilen aus den vergangenen Jahren. „Die Welt im Dauerkrisenmodus“ flammt da auf, „Epochales Versagen“ – Aleppo, „Plebiszit des Grauens“ – das Brexit-Votum. Das deutsch-türkische Ensemble „Olivinn“ spielt eine Bearbeitung von Maurice Ravel. Unheilvoll lassen der Kontrabass und die türkische Laute das „Bolero“-Stakkato anschwellen. Es gibt auch mal optimistische Zeilen: „So gut geht es den Deutschen!“ Aber die Hiobsbotschaften überwiegen: „President Trump!“ Mit einer Überschrift aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ endet die Presseschau: „Freiheit ist anstrengend“.
Gauck war nie der Präsident der Union
Freiheit – sein Lebensthema. Um Punkt elf Uhr hat sich die rechte Tür geöffnet für Joachim Gauck und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt. Die beiden Grünen Marieluise Beck und Ralf Fücks schlüpften grad vorher noch auf ihre Stühle. Sozialdemokraten, Grüne, Linke sind übrigens stark überrepräsentiert unter den gut 200 Gästen, die die Einladung angenommen haben. Die Ex-SPD-Chefs Kurt Beck und Franz Müntefering sind da, Grünen-Chefin Simone Peter und Linken-Chefin Katja Kipping. Für die Union hält der Landwirtschaftsminister Christian Schmidt von der CSU relativ einsam die Stellung.
Das mag Termingründe haben, aber es passt schon. Wäre Gauck nicht in der DDR aufgewachsen, sondern im Westen, könnte man ihn politisch als eine Art Spät-68er verorten; jemand, der zu Hause in der Bücherwand neben der Bibel vermutlich die Regenbogenbände von Suhrkamp stehen hat und die schweren Geschichtsbände über deutsche Schande und Schuld. Er ist Jahrgang 1940, absehbar der letzte im Schloss Bellevue, der im Krieg geboren und vom Krieg geprägt ist. Kein Zufall, dass er dorthin gegangen ist, wo Vorgänger sich nicht hintrauten. „Enfin!“, endlich, sagte einer der französischen Veteranen, als der Deutsche in Oradour-sur-Glarne sein Haupt in der Kirche neigte, in der die Waffen-SS 400 Menschen verbrannt hatte.
Gauck ist nie der Präsident der christdemokratischen und christsozialen Herzen geworden. Anfangs schien er ja sogar der Präsident gegen die Regierenden werden zu wollen, genauer: gegen die Regierende. Merkel bekam in der Euro-Schuldenkrise zu hören, sie habe die „Verpflichtung“, ihre Politik besser zu erklären. In Israel, ausgerechnet beim ersten Staatsbesuch, relativierte Gauck kurzerhand Merkels Wort, dass das Existenzrecht des Staates Israel deutsche „Staatsräson“ sei – damit könne die Kanzlerin im Ernst-, also im Kriegsfall in „enorme Schwierigkeiten“ kommen. In Berlin glaubten sie ihren Ohren nicht zu trauen: der Präsident als Ober-Außenpolitiker? Das konnte ja gut werden.
Ohnehin gab er zu allem und jedem seine Meinung kund, manchmal mehrfach in der Woche. Der Präsident als einer von vielen Tageskommentatoren? Das konnte nur schlecht werden. Dabei hatte er sein zentrales Thema eigentlich schon, er fand es nur lange nicht wieder – diese prägnanteste Formel seiner Antrittsrede, die Kriegserklärung an die „Verächter unserer Demokratie: Euer Hass ist unser Ansporn!“ Das galt damals „Rechtsextremen“ – andere Verächter der offenen Gesellschaft waren da halt noch nicht in Sicht.
Später hat er selber zugegeben, dass er anfangs „Lehrling im Amt“ war. Als das erste Jahr um war, hatte er sich gefangen, in der ganzen Mehrdeutigkeit des Wortes. Er nahm sich zurück, konzentrierte sich, kalkulierte ab da ein, wo und wie er sich zu Wort meldete. Gauck kann in kleinem Kreis die Gedanken in intellektuellen Sphären schweifen lassen, in die ihm nicht mehr so ganz viele folgen können – auch das ließ er öffentlich nur noch gelegentlich aufblitzen. Wo er die Grenzen des Amtes austestete, verstand er sich selbst mehr als Helfer der Regierenden denn als ihr Gegenpol. Dass er die Ausrottung der Armenier durch die Türken „Völkermord“ nannte, dass er in Istanbul den Autokraten Recep Tayyip Erdogan kritisierte und in Danzig den russischen Autokraten Wladimir Putin – zumindest heimlich konnte auch Merkel dazu nicken.
Sein Angebot in der Flüchtlingskrise nahm sie nicht an. „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich“ – die Formel hätte der Willkommenskanzlerin einen Weg geboten, die Humanität und die Sorgen vor der Überforderung zusammenzubinden. Merkel griff nicht zu. Drei Monate später nahm ihr die Silvesternacht von Köln die Hoheit über die Begriffe aus der Hand.
Als die Presseschau vorbei ist und auch das zweite Musikstück verklungen – Hoffnungsmusik diesmal, die Sängerin Mine Begüm Tüzemen jubiliert, jazzt, röhrt auf Wolfgang Amadeus Mozarts „Hallelujah!“ –, tritt der Präsident ans Pult. Es wirkt routiniert wie immer. Reden ist ja der Kern seines Amtes. Von den politischen Verwaltungsvorgängen, die die Verfassung ihm aufträgt, wollte und musste Gauck nie Gebrauch machen: Er hat kein Gesetz gestoppt, weil er Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit hatte, und er musste nicht auf Bitten eines Kanzlers den Bundestag auflösen wie sein unglücklicher Vorgänger Horst Köhler. Nein, das Amt – von dem nach Wulffs Scheitern mancher befürchtet hatte, es sei irreparabel beschädigt – hat ihn nach der Lehrzeit nie mehr herausgefordert. Die Wirklichkeit hat es dafür umso mehr.
Jetzt geht es ihm darum, das Land zu retten
Die Frage, wie das Land aussehen soll, stellt sich heute anders. Gauck selbst stellt sie um. Es geht nicht mehr darum, das „beste Deutschland, das wir je hatten“, hier und da noch zu optimieren. Es geht jetzt darum, es zu retten: „Was können wir unseren Kindern und Enkeln mitgeben, damit dieses friedliebende, freie und soziale Deutschland erhalten und entwickelt werden kann?“
In der nächsten Dreiviertelstunde kommen die Themen seiner Präsidentschaft noch einmal zum Vorschein, manches undiplomatisch direkt. Donald Trump steht als dunkler Schatten im Raum, wenn der deutsche Präsident warnt, dass „das normative Projekt des Westens“ in Gefahr sei. Die Flüchtlingspolitik kehrt zurück: Ohne Sicherung der EU-Außengrenzen könnten „manche europäische Gesellschaften ... mit der Aufnahme und Integration einer großen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten überfordert sein“, sagt Gauck. Das würde Horst Seehofer unterschreiben, genau wie eine andere Warnung: „Der Rechtstaat verliert, wenn er sich im Kampf gegen Gewalt und Terror als zu schwach erweist.“ Angst vor dem Überwachungsstaat gut und schön, aber das ist doch in diesen Zeiten nicht das Hauptproblem! Man sähe jetzt gerne die Gesichter von Peter oder Kipping.
Auch die Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 findet ihr Echo: „Wer entschlossenes und reflektiertes Handeln durch Zuwarten ersetzt, überlässt anderen das Gesetz des Handelns.“ Das gilt Barack Obama, der in Syrien Russland freie Hand ließ, und es gilt denen im eigenen Land, die er für Träumer hält, sympathische, aber Träumer: Dass es niemals eine militärische Lösung geben könne, stimme nur so lange, wie sich alle an diese Maxime hielten. „Selbstvertrauen haben wir lange nicht leben wollen“, sagt er. Aber wenn wir, die Deutschen, uns nur „versitzen“ in einer „unheilvollen Kultur von Ängstlichkeit, Indifferenz und Selbstzweifeln“, dann würden „andere“ Hand an unsere Welt legen, solche ohne Selbstzweifel. Tut was, handelt, wartet nicht – das ist in Kurzform sein Vermächtnis an die Politik.
Und das Vermächtnis an die Bürger? Ist das gleiche. „Demokratie ist kein politisches Versandhaus“ – den Satz sollte man sich merken. Bei der Politik bestellen und auf „einen starken Mann oder eine starke Frau“ warten, die liefern soll, entspricht nicht dem Verständnis des Bürgers Gauck von der freien Bürgergesellschaft, der wehrhaften Demokratie.
Denn er sieht die Gefahren, er beschreibt sie eindringlich: „Bewegungen“, die die Rückkehr ins Nationale predigen, die Abkehr von Fremden und Freihandel, die sich „zum alleinigen Sprecher des Volks“ erklären und die anderen als „System“ verächtlich machen.
„Volksverräter“ haben ihm die Pegida-Schreier in Dresden entgegengebrüllt. Das war noch nicht absehbar, damals, als er das erste Mal nach dem Land unserer Wünsche fragte. Das Twitter-Getrolle nicht und nicht der Twittertroll im Weißen Haus. Was er dagegen setzen will? Haltung, sagt Gauck. Vertrauen zu uns selbst und zur Demokratie. Vertrauen in Europa. Und, wie gesagt: Mut.
Als der Beifall verhallt ist, spielen die Sieben von „Olivinn“ die „Ode an die Freude“, halb westeuropäisch, halb als Istanbul-Beat. „Alle Menschen werden Brüder“, das Prinzip Hoffnung in Noten. Es ist ein schöner Ausklang. Aber er kann das letzte Wort doch nicht übertönen, mit dem Joachim Gauck aus dem Amt scheidet. Das letzte Wort in seinem Manuskript, es heißt: „verteidigen“.