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Für immer vermisst. Mit Zetteln suchte Susanne Fontaines Ehemann nach seiner Frau.
© Morris Pudwell

Mord im Tiergarten: Der Fehler hat System

50 Euro und ein Handy – vermutlich dafür musste Susanne Fontaine im Berliner Tiergarten sterben. Dabei hätte der mutmaßliche Mörder gar nicht mehr im Land sein sollen.

Der Weg ist nicht weit, der Weg ist gepflastert, und obwohl er beleuchtet ist, ist er düster. Ein Weg, von dem die Angestellten des Biergartens sagen, sie gingen ihn längst nur noch zu zweit. Knapp 300 Meter sind es vom Eingang des „Schleusenkrug“ bis zum belebten Bahnhof Zoo, den viele von denen passieren, die Berlin mit dem Zug besuchten, wo acht Regionalbahnlinien fahren, fünf S- und zwei U-Bahn-Linien, und von 19 Bussen auch der M49, der Susanne Fontaine an jenem Dienstag nach Hause bringen soll.

Sie sei eine angstfreie Frau gewesen, wird ihr Ehemann später sagen. Habe sich in Berlin immer sicher gefühlt. Gegen 22.20 Uhr verabschiedet sich die 60-Jährige am 5. September von ihren Freundinnen, ehemaligen Kommilitoninnen, mit denen sie sich regelmäßig trifft. Ein sonniger Spätsommertag liegt hinter ihnen, 22 Grad, vielleicht die letzte Gelegenheit, nochmal draußen zu sitzen.

Für die Polizei ist der mutmaßliche Täter kein Unbekannter

Drei Tage später wird Susanne Fontaine tot im Gebüsch gefunden. Nur wenige Meter von dem Ort, an dem sie kurz zuvor noch lachend unter bunten Lampionketten saß, vom Hardenbergplatz und der Wache der Wache der Bundespolizei entfernt. Erwürgt auf dem Heimweg, wie es aussieht für 50 Euro und ein Handy, von einem völlig Fremden.

Einem ihr völlig Fremden. Der Polizei indes nicht so fremd. Der mutmaßliche Mörder lebte ein Leben, dessen Muster einem in diesen Tagen grausam vertraut erscheint. Ein Muster, in dem sich die Befürchtungen all jener zu bestätigen scheinen, die in Deutschland der AfD in die Landesparlamente und den Bundestag verholfen haben und in Österreich den Parteien FPÖ und ÖVP zu kräftigen Zuwachsraten.

Befürchtungen, das dysfunktionale – zumindest aber überforderte – deutsche Asylsystem betreffend, mangelnde Kontrolle an EU-Außengrenzen, die oft die Abwendung von der Politik etablierter Parteien zur Folge hatten, den Merkel-Hass und Staatsverdruss, Streit in Familien, an Stammtischen, im Internet.

Mit 13 kam Ilyas A. nach Deutschland

Ilyas A., so heißt der mutmaßliche Mörder, ist einer der jungen Männer, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und als Straftäter aufgefallen sind.

Den Behörden, weiß man inzwischen, ist er seit langem bekannt. Der „Bild“-Zeitung ist die Strafakte des Mannes offenbar zugespielt worden. Er ist 13, als seine Eltern im November 2012 für ihn und seine drei Geschwister Asyl beantragen. Mit 15 stiehlt der gebürtige Tschetschene in Berlin sein erstes Fahrrad, fällt wenige Wochen danach als Taschendieb auf.

Im Juni 2015 überfällt er binnen fünf Tagen drei Rentnerinnen, eine davon schwerbehindert. Er lauert ihnen im Treppenhaus auf, schleicht sich von hinten an, stößt sie gegen die Wand. Einer 87-Jährigen schlägt er mit der Faust ins Gesicht. Als er schließlich auch einer 98-Jährigen die Handtasche entreißt, verfolgen ihn Passanten, stellen ihn, übergeben ihn der Polizei.

Im September 2015 wird Ilyas A. wegen Raubes mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Im darauffolgenden November kündigt die Ausländerbehörde seine Ausweisung an, „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, so schreibt es die „Bild“-Zeitung. Zu dem Zeitpunkt hat A. bereits zum zweiten Mal Asyl beantragt. Beim ersten hatten sich die deutschen Behörden für nicht zuständig erklärt, die Familie nach Polen abgeschoben, von wo sie eingereist war. Das nächste Mal versucht es Ilyas A. allein. Seine kriminelle Laufbahn beginnt. Weil er noch minderjährig ist, wird er geduldet.

Keine Rückmeldung aus Russland

Weil er noch minderjährig ist – damit begründen die Behörden anscheinend auch, weshalb A. auch nach Verbüßung seiner Haftstrafe – im Dezember 2016 wird er aus der Strafvollzugsanstalt Plötzensee entlassen – nicht ausgewiesen wird. In solchen Fällen sei sicherzustellen, dass im Heimatland jemand den Minderjährigen in seine Obhut nimmt. Doch man habe vergeblich auf Rückmeldung aus Russland gewartet. A. bleibt.

Vom Fahrraddiebstahl zur schweren Körperverletzung: Mit einer Straftat anfangen – und sich dann langsam steigern. Vielleicht eine typische kriminelle Karriere. Muss auch ihr weiterer Verlauf als typisch betrachtet werden? Der Umgang der Ämter damit? „Wenn es aufgrund von Verurteilung und Gesetzeslage möglich gewesen wäre, den Mann abzuschieben, dann frage ich mich, warum ist das nicht längst geschehen?“, sagt ihr Mann, als Journalisten ihn interviewen.

Er verschwand in einer Grauzone

Eigentlich hätte Ilyas A. am Abend des 5. September gar nicht im Tiergarten sein dürfen, und auch sonst nirgendwo in Berlin und Deutschland. Bereits am 10. August war er volljährig geworden. Dazwischen liegen dreieinhalb Wochen, in denen man ihn – endlich – in ein Flugzeug nach Russland hätte setzen können. „Wenn man gewusst hätte, wo er ist“: Ein fester Wohnsitz war der Ausländerbehörde, bei der er als „Kleinkrimineller“ galt, „leider nicht bekannt“. Er verschwand in einer Grauzone.

So, wie auch der Tunesier Anis Amri, der auf dem Breitscheidplatz zwölf Menschen überrollte, am Abend des 16. Dezember gar nicht in Berlin am Steuer eines Lkw hätte sitzen dürfen, sondern in einer Gefängniszelle gewesen wäre, wenn das deutsche Rechtssystem funktioniert hätte.

In Freiburg steht der minderjährige Husein K., Flüchtling aus Afghanistan vor Gericht.

Bevor er im Oktober 2016 in einem Freiburger Park auf Maria L. traf, die von einer Studentenparty nach Hause wollte, hatte er auf der griechischen Insel Korfu eine junge Frau überfallen und einen Abhang hinuntergestoßen. Sie überlebte mit viel Glück. Husein K. wurde zu einer Gefängnisstrafen von zehn Jahren verurteilt – und kam nach gerade zweieinhalb Jahren frei. Die schlichte Begründung der griechischen Justiz: überfüllte Haftanstalten.

Als Husein K. im November 2015 nach Deutschland kam, glich man seine Fingerabdrücke mit „Eurodac“ ab, einer Datenbank, in der – theoretisch – sämtliche Asylbewerber in der Europäischen Union registriert werden. Darin hätte er bereits in Griechenland erfasst werden müssen. Oft aber funktioniert die Kommunikation zwischen den Behörden ja nicht einmal innerhalb Deutschlands. Pannen, Bequemlichkeit, Ignoranz, Nachsicht: Auch der Tod der Maria L. also, vergewaltigt und anschließend bewusstlos ertrunken, hätte, wie offenbar der von Susanne Fontaine, verhindert werden können.

Hat der Täter Susanne Fontaine unterschätzt?

Man muss davon ausgehen, dass Ilyas A. sein Opfer willkürlich gewählt hat, der Zufall eine Rolle spielte. Hunderte Menschen sind an jenem warmen Septemberabend diesen Weg gegangen, davor und mutmaßlich auch danach. In seinem früheren Prozess hatte der damals Jugendliche erklärt, sich gezielt ältere Frauen ausgesucht zu haben, von denen „keine Gegenwehr zu erwarten“ war. Vielleicht hat Susanne Fontaine sich gewehrt. Hat er sie unterschätzt?

Susanne Fontaine, schlank, welliges braunes Haar, so zeigen es die Flugblätter, die ihr Mann aufgehängt hat. Mutter einer 38-jährigen Tochter und sogar Großmutter, aber keineswegs ältlich. Als Kastellanin verwaltete die promovierte Kunsthistorikerin seit 20 Jahren das Schloss Glienicke im Südwesten Berlins und das Jagdschloss auf der Pfaueninsel, Weltkulturerbe. Ein sanfter, sehr freundlicher Typ, aber mit klaren Vorstellungen, von Kollegen respektiert und geschätzt.

Weggefährten beschreiben sie als lebensfroh, unternehmungslustig. Sie liebte klassische Musik. Demnächst wollten ihr Mann und sie nach Hamburg, die Elbphilharmonie bewundern. Für den Oktober hatten sie eine Reise nach Venedig geplant. Sie war aber auch gern zu Hause, saß mit ihrem Mann in ihrer Charlottenburger Altbauwohnung auf dem Sofa bei einem Glas Wein und einer Folge „Inspector Barnaby“.

Er sei „durch jedes Gebüsch“ gekrochen, sagt er

Als ihr Mann am Mittwochmorgen, dem 6. September, aufwacht und realisiert, dass seine Frau nicht da ist, hat Klaus Rasch sofort ein ungutes Gefühl. „Das passte nicht zu ihr.“ Er meldet sie vermisst. Ein Polizeitrupp mit Suchhunden durchsucht noch am selben Tag den Weg und den Tiergarten in der Nähe des Schleusenkrugs. Doch zwei weitere schlaflose Nächte vergehen, ehe Spaziergänger eine Frauenleiche entdecken.

Klaus Rasch kann es nicht fassen: Bloß fünf Meter abseits des Pfades im Gestrüpp. Genau hier haben die Hunde geschnüffelt, die Beamten den Park durchkämmt. Er selber sei „durch jedes Gebüsch“ gekrochen, sagt er. Noch am Tag, bevor die Leiche gefunden wird, pinnt er in unmittelbarer Nähe eigenhändig einen Zettel an einen Baum. Darauf in großen Lettern die Frage: „Wo ist meine Frau Susanne?“

Für ihn gehört es zu den großen Rätseln dieser schrecklichen Geschichte, wieso man zunächst keine Spur von ihr fand. Genau wie die Frage: Warum hat niemand etwas bemerkt? „In diesem Gebiet tummeln sich doch so viele.“ Einige wohnen sogar hier, campieren in improvisierten Zelten oder bloßen Schlafsäcken.

Hier wirkt jeder verdächtig – und niemand

Obdachlose, Drogen und Prostitution gehören zum Tiergarten. Seit Monaten thematisieren Bezirk und Stadt, dass sich etwas ändern muss. Nicht nur die Kellner des Schleusenkrugs wurden hier schon überfallen. Als Susanne Fontaine vermisst wurde, rief die Polizei Zeugen auf, sich zu melden, falls sie „auf dem Verbindungsweg parallel zur Bahntrasse verdächtige Personen bemerkt“ hätten. Hier wirkt jeder verdächtig – und niemand.

Vielleicht haben die Vorbeikommenden gerade deshalb nichts gesehen, weil sie nichts sehen wollten. Weil in der Stadt Berlin lieber wegsieht, wer seinen heiteren Biergartenabend nicht mit Elendsbildern belasten will. Dort, wo man Susanne Fontaines Leiche fand, lagen Spritzen, benutzte Taschentücher, Kleidungsstücke, die nicht ihre waren.

Fast täglich ist Klaus Rasch seit jenem Freitag vor bald sechs Wochen an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Menschen haben Blumen niedergelegt und Botschaften. „Wir können es nicht begreifen“, steht auf einem Blatt Papier. „Möge Deine Seele Frieden finden – in unseren Gedanken lebst du weiter“, auf einem anderen. Auch Klaus Rasch selbst hat einen geschrieben. „40 gemeinsame und glückliche Jahre – mal eben so ausgelöscht“. Zu Hause herumsitzen und auf Nachrichten der Polizei warten, das kann er nicht. Als man ihre Leiche noch nicht gefunden hat, sucht er seine Frau, als man den Täter noch nicht gefunden hat, sucht er ihren Mörder. Jeden Obdachlosen spricht er persönlich an. Jedem Passanten sieht er in die Augen. Wartet auf Reaktionen: Könnte das der Mörder sein? Täter sollen ja oft an den Tatort zurückkehren.

Ilyas A. sitzt in Untersuchungshaft

Dieser nicht. Ilyas A. ist längst in Polen, als Klaus Rasch durch den Tiergarten läuft. Am Morgen nach dem Verschwinden bekommt der Ehemann plötzlich eine SMS: Seine Frau sei jetzt wieder erreichbar. Ilyas A. hat das zwischenzeitlich ausgeschaltete Handy angeschaltet, versucht, die Sim-Karte zu aktivieren, um das Gerät zu nutzen.

Die Polizei kann anhand dieser Handydaten schließlich den Aufenthaltsort ausfindig machen, die polnischen Behörden überstellen Ilyas A. einen Monat nach Susanne Fontaines gewaltsamem Tod nach Deutschland. Inzwischen habe man auch DNS von Ilyas A. an der Leiche des Opfers nachweisen können, teilt die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage mit. Ilyas A. sitzt in Untersuchungshaft. Den goldenen Ehering und einen anderen mit großem schwarzen Stein trägt Susanne Fontaine noch, als ihr Mann sie identifiziert.

50 Euro und ein Handy.

Von 11 000 ausreisepflichtigen, abgelehnten Asylbewerbern, heißt es bei der Berliner Innenverwaltung, haben derzeit mehr als die Hälfte, 6000, eine so genannte Duldung.

Tschetschenen fallen häufig in IS-Zusammenhängen auf

Die Gründe sind verschieden. Krankheit kann eine Rolle spielen, die Lage im Herkunftsland. Ungeachtet der Bemühungen der Bundesregierung verlassen nach Informationen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ deutlich weniger abgelehnte Asylbewerber die Bundesrepublik als im Vorjahr. Bis Ende September reisten laut Bundesinnenministerium 24.569 Personen freiwillig aus. Im Vorjahreszeitraum waren es 43.745 gewesen. 18.153 wurden abgeschoben.

Das Bundeskriminalamt hat bislang zwei Lageberichte zur Flüchtlingskriminalität verfasst. Im ersten – vom Juni 2016 – hieß es, Zuwanderer seien nicht krimineller als die einheimische Bevölkerung. Dann kam die Silvesternacht von Köln. Im Papier aus dem ersten Quartal 2017 nennen die Ermittler drei Gruppen, bei denen der Anteil der Tatverdächtigen überdurchschnittlich hoch ist: Menschen aus Maghreb-Staaten und Georgien seien oft bei Diebstählen und Vermögens- und Fälschungsdelikten verdächtig, ebenso Menschen aus Balkan-Staaten. Menschen aus Gambia, Nigeria und Somalia würden besonders oft bei „Rohheitsdelikten“ und „Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ verdächtigt. Tschetschenen fallen der Berliner Staatsanwaltschaft häufig in IS-Zusammenhängen auf.

Vergangene Woche hat Klaus Rasch seine Frau beerdigt. Er überlegt, ob er im Prozess als Nebenkläger auftritt. Damit er Einblick in die Ermittlungsakten bekommt. Und eine Antwort auf die quälende Frage, warum.

Werner van Bebber, Maris Hubschmid

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