Flüchtlingskarawane und Midterms in den USA: Der eine schmuggelt Migranten - der andere will sie aufhalten
Gerade sind Tausende auf dem Weg von Mittelamerika in die USA. Die Grenze zu Mexiko könnte die Wahl entscheiden. Hier stehen sich zwei Männer gegenüber.
Miguel Fernández sitzt auf einem Hocker an seinem Imbiss und blinzelt in die Sonne. Die strahlt in Ciudad Juárez auch im Herbst vom wolkenfreien Himmel. Fernández ist zufrieden, seit er diesen Hamburger-Laden im Erdgeschoss eines Eckhaus in bester Innenstadtlage betreibt. Aus dem Fensterbrett hat er einen Tresen gezimmert, auf dem Grill dahinter wendet ein Angestellter das Fleisch.
In der Nähe führt eine Brücke über den Rio Grande. Man kann El Paso, Texas, die USA fast sehen. Noch vor einigen Monaten führte Fernández – Anfang 40, ergraute Haare, jungenhaftes Gesicht – ein anderes Leben: Er schmuggelte Männer, Frauen und Kinder ins Nachbarland. Fernández möchte seinen richtigen Namen nicht nennen.
Denn Schleusern, genannt Coyoten, droht nicht nur in den USA, sondern auch in Mexiko jahrelange Haft. Doch der Job ist lukrativ. „Früher kostete ein Grenzübertritt 3000 Dollar“, sagt Fernández. „Heute nimmt man 7000 Dollar pro Person. Die Arbeit ist seit Donald Trump härter geworden.“
Seit Wochen bestimmen in Mexiko die Bilder der Flüchtlingskarawane aus Honduras die öffentliche Debatte. Inzwischen sind Tausende, die Mitte Oktober in dem zentralamerikanischen Land losliefen, in Mexikos Hauptstadt angekommen. Einige werden versuchen, von Ciudad Juárez aus in die USA zu gelangen.
Nördlich der Grenze finden an diesem Dienstag die Zwischenwahlen, die sogenannten Midterms, statt. Die Amerikaner stimmen über die Kandidaten für den Kongress ab, das Parlament. Präsident Trump hat die Einwanderung aus dem Süden zum Thema gemacht – schon während des Präsidentschaftswahlkampfs 2016 standen lateinamerikanische Migranten im Mittelpunkt seiner Auftritte.
Nun spricht Trump von einer „Invasion“, „unkontrollierten Massen“. Der US-Präsident will Nationalgardisten und Soldaten – angeblich bis zu 15.000 Mann – an die Grenze beordern. Dorthin, wo nach seinem Willen bald eine bis zu neun Meter hohe Mauer stehen könnte.
An dieser Grenze entscheidet sich die Wahl.
"Angefangen habe ich hier als Fahrer", sagt der Ex-Schleuser
Und deren Ergebnis wird die US-Einwanderungspolitik womöglich ändern. Schon heute arbeiten tausende Männer und Frauen der US-Grenzschutzbehörde, der Customs and Border Protection, kurz CBP, an der Grenze. „Sie werden nicht alle Menschen aufhalten können“, sagt Fernández. „Der Wunsch, nach drüben zu kommen, ist zu groß.“
Der Treck der Flüchtlinge war Mitte Oktober in San Pedro Sula in Honduras losgelaufen. „Wir gehen nicht, weil wir wollen“, verkündete ein Sprecher, „sondern weil wir von Gewalt und Armut vertrieben werden.“ Mexikos Behörden hatten die Massen hinter Guatemala zu stoppen versucht. Auf Flößen überquerten die Wanderer den dortigen Grenzfluss. Die härtere Grenze liegt noch vor ihnen.
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Seit jeher verläuft durch Ciudad Juárez eine der Routen in die USA. Vom texanischen El Paso trennt die Stadt ein kameraüberwachter Zaun aus tonnenschweren, rostbraunen, fünf Meter hohen Stahlstreben. Östlich und westlich von El Paso zieht er sich durch die bergige Wüste.
Die Zahl der Toten im Grenzgebiet ist gestiegen, berichtet die Internationale Organisation für Migration: 2017 seien mindestens 412 Menschen gestorben, etwa verdurstet oder ertrunken. Deshalb versuchen viele, in den Städten über die Grenze zu gelangen – was riskanter ist: Man kann leichter entdeckt werden.
„Angefangen habe ich hier als Fahrer“, sagt Fernández, der Ex-Schleuser. „Irgendwann habe ich die Organisation im Hintergrund übernommen.“ Das sei sicherer. Einmal wurde er an der Grenze von CBP-Beamten festgenommen. Gab sich selbst als Migrant aus, als einer, der eben auch bloß rüber wollte; entging so einer härteren Strafe, bekam lediglich fünf Jahre Einreiseverbot.
Das echte Visum wird verliehen - für 250 Dollar
Bei Coyoten wie ihm tauche niemand plötzlich auf, sagt Fernández, die Leute riefen spätestens aus Chihuahua – fünf Autostunden entfernt im Süden – an. „Irgendjemand hat gute Erfahrungen mit dir gemacht, man wird empfohlen“, sagt er. „Oft bezahlen Verwandte, die schon in den USA leben, den Übertritt.“
Vor diesem Übertritt verstecken sich viele Ausreisewillige in Anapra, dem armen Stadtrand von Juárez, dessen unverputzte Hütten sich in das Geröll der Wüste drücken. Hier warten Flüchtlinge aus Honduras, El Salvador, Guatemala und Mexikos Süden, bis jemand wie Fernández kommt.
Andere Flüchtlinge werden in den Hinterzimmern kleiner Betriebe und abrissreifer Hotels untergebracht. Fernández hat den Wartenden immer gesagt: „Geht nicht raus, die Polizei wird euch im Visier haben!“ Er meint: Jeder kann in den Straßen kontrolliert werden. „Wer einen Ausweis aus einem südlichen Bundesstaat, aus Chiapas oder Veracrúz oder gar aus Honduras vorlegt, bei dem ist klar, wohin die Reise geht!“ Die Beamten wollen Schmiergeld, man müsse immer Scheine dabei haben.
Drei Brücken verbinden Ciudad Juárez und El Paso. Die meisten Reisenden haben ein Touristen- oder Arbeitsvisum. Viele andere bekommen kein Visum – sie sind zu arm oder können im US-Konsulat nicht die erforderlichen Unterlagen vorzeigen. Für diese Menschen besorgen Schleuser Papiere. „Ein echtes, legales Visum“, sagt Fernández. „Der Inhaber verleiht es für 250 Dollar pro Einsatz.“
Fernández arbeitete wie alle Schleuser mit Helfern – genauer: Geschäftspartnern – zusammen. Schaute, welche Bilder den Wartenden ähnlich sahen. Die lernten die Daten ihrer geliehenen Identität auswendig.
Nur wer schwarz sei, müsse durch die Wüste
Nicht immer klappt das. Manchmal halten die Beamten Autoinsassen auf, die ihnen verdächtig vorkommen, nervös sind. Einige werden abgewiesen, andere festgenommen. Doch, sagt Fernández, es klappe oft genug. „Ciudad Juárez hat den Vorteil, dass es ein Industriestandort ist, dessen Fabriken von überall Menschen anziehen. Es gibt verschiedene Hauttönungen und Gesichtszüge, also eine große Breite an Fotos.“ Nur wer schwarz sei, müsse durch die Wüste – es gebe kaum Schwarze in Nordmexiko.
Am entscheidenden Tag gehe es dann früh um neun los. Drei, vier Migranten in einem Auto, angeblich, um in den USA, in El Paso einzukaufen. Das tun täglich Tausende ganz legal – und nehmen Freunde, Verwandte, Nachbarn mit. „Manchmal geht es auch abends los“, sagt Fernández. „Dann nur mit einer Person, angeblich zum Tanken.“ In den USA ist das Benzin oft billiger.
Grenzübertritte außerhalb der Städte sind nicht so teuer, dauern aber länger. Nachts durch den Rio Grande waten, geduckt zwischen Büschen und Geröll den Wachwechsel der Grenzschützer abwarten, mit Zangen, die von den Schleusern an den Zäunen versteckt wurden, den Draht aufschneiden – was nur an den Stellen klappt, an denen noch keine der tonnenschweren Stahlstreben stehen.
Bei der Flucht durch das Gelände, erzählt Fernández, sind die Flüchtlinge oft in Begleitung von jugendlichen Schleusern – werden sie erwischt, schiebt die CBP sie nach Mexiko ab; ältere Coyoten erhalten oft Haftstrafen. Hinter der Grenze eilt der Trupp zum Highway, wo ein Helfer mit dem Auto die Flüchtenden in die nächste Großstadt fährt – häufig nach Houston.
Oft werden Lebensmittelwagen genutzt, in denen Kühlanlagen die Luft zirkulieren lassen, was die Gefahr von Erstickungstoden verringert. Doch Schleuser und Flüchtlinge fürchten nicht nur die Polizei oder den US-Grenzschutz.
Für all die Papiere, die Unterkünfte, die versteckten Zangen, braucht es ein Netzwerk an Unterstützern. Kein Flüchtlingshelfer kann ohne Zustimmung eines Drogenkartells arbeiten. Wie viel er an das örtliche Kartell gezahlt hat, darüber spricht Fernández nicht.
3500 Tote im Jahr - Ciudad Juárez ist eine der mörderischsten Städte
Die Macht der mexikanischen Mafia ist nach all den Jahren des Anti-Drogen-Krieges, nach 250.000 Toten und 37.000 Vermissten, ungebrochen. Noch 2010 galt Ciudad Juárez als eine der mörderischsten Städte weltweit, in jenem Jahr gab es 3500 Tote. Banden stürmten Diskos, Busse, Wohnungen.
Leichen hingen von Brücken, lagen ohne Kopf am Straßenrand. Das Juárez-Kartell drohte 2009, alle 48 Stunden einen Beamten zu erschießen, wenn der neue Polizeichef nicht zurücktrete. Er folgte der Aufforderung, als die ersten Beamten starben. Die Kartelle fürchten Mexikos korrupte Polizei nicht. Seit den Neunzigern sind mehr als 1000 Morde an vergewaltigten Frauen allein in Ciudad Juárez unaufgeklärt.
An der Grenze selbst gehe es darum, welcher US-Beamte die Schicht leite, sagt Fernández. „Es klappt nur, wenn man an den richtigen Beamten gerät. Man beobachtet die CBP-Leute, um zu wissen, wer den Job am ruhigsten verrichtet. Während dessen Schicht fährt man rüber.“ Es dauere, ehe man alle Beamten kenne. Schleusen ist ein Vollzeitjob.
Auf der anderen Seite der Grenze, in den USA, sitzt Ricardo Alamo in seinem Auto auf einem Parkplatz an einem Highway vor El Paso. Alamo ist Grenzschützer und fährt Patrouille im Hinterland. Schleuser kennt er keine: Meist erwischt er nur deren Kundschaft.
Der Druck auf Grenzschützer ist dieser Tage hoch. Journalisten, Bürgerrechtler, Politiker der Demokratischen Partei kritisieren die CBP. „Wir werden angefeindet“, sagt Alamo am Telefon. „Von Liberalen, die uns Rassismus vorwerfen, aber selbst in gut bewachten Villen wohnen, weil sie Angst vor den Gangs haben.“ Auch Alamo heißt eigentlich anders. Wie die meisten seiner Kollegen ist er Anhänger von Präsident Trump.
Alamo favorisiert den Bau einer kaum noch überwindbaren Mauer und schließt sich dem Statement der Grenzschützergewerkschaft an: Schon Trumps Rhetorik habe dazu geführt, dass weniger Migranten versuchten, illegal über die Grenze zu kommen. Die US-Behörden hatten vergangenes Jahr 340 000 Einwanderer aufgegriffen, 2016 waren es 612.000.
Wozu Leute holen, die in den USA auf der Straße landen?
„Ein Drama ist das. Die Leute suchen ein besseres Leben“, sagt Alamo. Die USA könnten aber nicht alle aufnehmen, die kommen wollten. „Sonst wäre halb Zentralamerika da – und nicht nur die süßen Kinder, die man immer im Fernsehen sieht.“ Kämen viele, die keiner brauche, werde es im Schnitt nicht allen besser gehen, sondern vielen schlechter. Die USA hätten selber genug Probleme.
„Wozu Leute holen“, fragt Alamo, „die dann in Los Angeles, Houston oder St. Louis auf der Straße landen?“ Seine Behörde, die CBP, schließt die Grenzbrücke im Zentrum von Ciudad Juárez immer mal wieder für einige Stunden komplett. Zur Abschreckung. Die Kirche bereitet sich derzeit auf neue, verzweifelte Arme vor, die sie auf mexikanischer Seite wird versorgen müssen.
Grenzschützer Alamo spricht Spanisch und hat sein ganzes Leben im grenznahen Texas gelebt. Seine Eltern seien einst selbst aus Mexiko eingewandert. Legal, wie er betont, nach einem Antrag auf Arbeit. Mehr als 80 Prozent der Einwohner El Pasos haben inzwischen mexikanische Vorfahren. Auf der anderen Seite der Grenze nützt das den meisten wenig.
Anapra, der Elendsvorort mit den Hütten der Hoffenden, wuchs in den zurückliegenden Jahren bis auf wenige Meter an den Grenzzaun heran. Das Warten, dazu der Druck der Familie in der Heimat oder aus den USA, der Kartelle und der Polizei – all das zermürbt die Flüchtlinge, macht sie unruhig. Dabei gilt an der Grenze: Je ruhiger jemand bleibt, desto eher wird er durchgewunken.
Doch auch wer die Grenze passiert, hat es noch nicht geschafft. Fast 70 Kilometer nach El Paso im Hinterland macht die Überlandstraße eine sanfte Kurve. In einer Nacht im Oktober sind am Straßenrand vage zwei Geländewagen zu erkennen. Plötzlich gehen deren Scheinwerfer an, dazu die Lampen eines Gerüstes, das wie ein Tor neben der Straße aufgestellt ist. Weiß sind die Fahrzeuge, mit grünem Streifen an der Seite, daneben steht: Border Patrol – Grenzkontrolle. Mit solchen mobilen Kontrollkommandos stoppen die US-Grenzschützer täglich zahlreiche Autos. Laut Gesetz darf die Customs and Border Protection bis zu 160 Kilometer tief im Inland operieren. Dies gilt nicht nur für die Südgrenze, sondern auch an der kanadischen Grenze und für die beiden Ozeanküsten. In diesem erweiterten „Grenzgebiet“ leben 200 Millionen von insgesamt 325 Millionen US-Bürgern.
Das Geschäft an der Grenze zwischen Mexiko und den USA bleibt
CBP-Mann Ricardo Alamo muss los, am Ende des Telefonats sagt er: „Die Schleuser sind gierige Kriminelle. Ich schütze ein Land, dessen Bewohner geschützt werden wollen und ich schütze Amerikaner jeder Herkunft.“ Wer dazu gehören möchte, solle es bitte auf legalem Weg versuchen. Doch diejenigen, die keine Arbeitserlaubnis erhalten oder kein Touristenvisum, haben derzeit kaum die Chance, legal einzureisen.
Auf der mexikanischen Seite steht Miguel Fernández, der Ex-Schleuser, an seinem Burger-Imbiss und sagt: „Ich habe mich oft gefragt, machen wir was Schlechtes? Nein! Wir helfen Menschen, ihre Träume zu erfüllen, ihre Lebenswünsche – viele wollen doch bloß bei ihrer Familie sein, die schon in den USA ist.“
Er habe sich nicht moralischer Bedenken wegen zurückgezogen, sondern weil er Angst hatte, erwischt zu werden – zumal Mexikos Polizei auf den neuen Druck aus Washington wird reagieren müssen. „Alles Ersparte habe ich in den Imbiss investiert“, sagt Fernández. „Ich habe drei Angestellte, es läuft gut, auch wenn die Gewinne nicht mit früher vergleichbar sind.“
Wenn Trump tatsächlich seine Mauer baut, sagt Fernández noch, werde Migration noch teurer. Aber viele derjenigen, die nach Norden ziehen, werde nichts stoppen. Das Geschäft gehe weiter, solange es Grenzen gebe. Grenzschützer Ricardo Alamo würde da kaum widersprechen.