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Am Ende. Zwei Frauen trauern am Grab der zehnjährigen Vanessa dos Santos. Das Mädchen geriet zwischen die Fronten von Polizei und Drogenbanden.
© Ricardo Moraes/Reuters

Rio am Abgrund: Die Strategie der Befriedung der Favelas ist gescheitert

Täglich geraten in Rio de Janeiro Unschuldige zwischen die Fronten von Drogenbanden und Polizei. Viele der Opfer sind Kinder, zuletzt traf eine Kugel ein Ungeborenes. Die Strategie der Befriedung der Fevelas ist gescheitert.

Rios Boulevardzeitung „Extra“ machte mit einem ungewöhnlichen Bild auf. Die gesamte Titelseite zeigte das Foto einer Ultraschalluntersuchung mit den Umrissen eines Fötus. In großen Lettern stand darüber: „Das jüngste Opfer der Querschläger“. Arthur, so der Name des ungeborenen Kindes, wurde im Uterus von einer Kugel getroffen. Die Mutter war auf dem Weg zum Supermarkt und im neunten Monat schwanger. Die Kugel wurde bei einem Schusswechsel zwischen Kriminellen und der Polizei abgefeuert, unklar ist, von welcher Seite.

Das Projektil traf die 29-Jährige in der Hüfte, streifte den Kopf des Fötus, zerriss sein Ohr, durchdrang die Lunge und verletzte zwei Wirbelknochen. Per Not-Kaiserschnitt entbanden die Ärzte das Kind und konnten sein Leben und das der Mutter retten. Ein Arzt sprach danach von einem „Wunder“. Eventuell werde das Kind querschnittsgelähmt sein. „Bisher versuchten wir zu überleben. Jetzt kämpfen wir darum, geboren zu werden“, fasste die Zeitung „Extra“ zusammen.

Der Fall ist spektakulär. Doch er ist nur einer von unzähligen Gewaltakten, die Rio de Janeiro ein Jahr nach den Olympischen Spielen plagen. Jeden Tag kommt es in der Stadt zu ähnlichen Schießereien. Zwischen die Fronten geraten immer wieder Unbeteiligte, darunter häufig Kinder. Allein 2017 wurden fünf Kinder bis 14 Jahre während solcher Konfrontationen getötet, wie die Nichtregierungsorganisation Rio de Paz gerade gezählt hat.

Das erste Opfer war ein zweijähriges Mädchen. Für kurzzeitigen Aufruhr sorgte im März der Tod einer 13-Jährigen, die auf dem Schulhof von drei Kugeln getroffen wurde. Sie stammten, das ergaben Untersuchungen, aus Polizeiwaffen. Anfang dieser Woche traf es ein zehnjähriges Mädchen, das in ihrem Elternhaus in einer Favela von einer Kugel in den Kopf getroffen wurde. Polizisten waren während eines Schusswechsels in das Haus der Familie eingedrungen.

Der Politik fehlt der Wille

Nach solchen Vorkommnissen gibt es in Rio meist virtuelle Aufschreie. Fotos und Videoaufnahmen der zusammengebrochenen Eltern oder von Verwandten zirkulieren, die Gerechtigkeit und ein Ende der Gewalt fordern. Drei Tage später ist alles vergessen. Der Politik fehlt der Wille, Konsequenzen zu ziehen.

Zwar wurde nach dem Tod der 13-Jährigen auf dem Schulhof überlegt, dass Polizeiaktionen in Favelas während des Unterrichts besser zu unterbleiben hätten. Aber wenige Tage später rückte die Polizei schon wieder zur Unterrichtszeit in dieselbe Favela ein. Nun wird die Hofmauer der betroffenen Schule höher gezogen. Allein in diesem Jahr schlossen 380 Schulen in Rio mindestens einmal wegen Schusswechseln, für 130 000 Schüler fiel der Unterricht aus. Wenn man diese Schüler bittet, ihren Alltag zu malen, dann tauchen auf den Bildern häufig Waffen, Tote und fliegende Kugeln auf. Ende Mai wurde ein Lehrer gefeiert, weil er mit seinen Schülern 40 Minuten im Korridor sang, um sie von einer Schießerei rund um das Gebäude abzulenken. Den Titel „Held“ lehnte er ab. „Wir alle sind Helden“, sagte er.

2017 sind in Rio de Janeiro bereits mehr als 70 Menschen von Querschlägern getötet worden, 632 wurden verletzt. Von „balas perdidas“ redet man in der Stadt – von verlorenen Kugeln. Am Tag, an dem der ungeborene Arthur eine Kugel abbekam, starben in der Favela Mangueira in Sichtweite des Maracanã-Stadions eine Mutter und ihre Tochter. Die 76-jährige Mutter wollte ihren Enkel aus der Schule abholen, als sie von Kugeln im Hals, im Knie und in beiden Händen getroffen wurde. Ihre Tochter eilte zu Hilfe, ihr wurde in den Rücken geschossen. Zwar war auch hier schnell von „verlorenen Kugeln“ die Rede, doch besteht der Verdacht, dass die Schüsse gezielt abgegeben wurden. Waren es Polizisten? Sie nehmen bei ihren Aktionen in Favelas keine Rücksicht auf die Bevölkerung, die sie oft pauschal als Feinde betrachten. Die Opfer der „verlorenen Kugeln“ sind nicht so zufällig, wie es scheinen mag. Sie sind in ihrer erdrückenden Mehrheit arm, dunkelhäutig und leben in Favelas, den Armenvierteln Brasiliens.

Kriminelle im Vormarsch

Rio steht ein Jahr nach den Olympischen Spielen vor einem Abgrund. „Zu viel Gewalt, zu wenig Regierung“ titelte eine Zeitung und fragte: „Haben wir verloren?“ Allein in diesem Jahr zählten die Statistiker bereits 2800 Morde sowie von der Polizei getötete Kriminelle.

Es wird immer deutlicher, dass der Versuch gescheitert ist, die Favelas mithilfe von sogenannten Befriedungspolizisten unter staatliche Kontrolle zu bringen. Das Experiment begann 2008, aber es folgte nichts nach, was das Leben der Menschen wirklich verbessert hätte. Die schlecht ausgebildeten Befriedungsbeamten benahmen sich bald genauso wie ihre regulären Kollegen von der Militärpolizei: respektlos, brutal, korrupt.

Nun erobern die Drogengangs Stück für Stück die Favelas zurück. Ebenso machen gewöhnliche Kriminelle immer schneller von der Schusswaffe Gebrauch. Das spürt auch die Polizei. Allein in diesem Jahr wurden in Rio bereits 85 Beamte getötet. Die Beamten ihrerseits reagieren darauf mit noch mehr Rücksichtslosigkeit.

Schien Rio de Janeiro vor der Fußball- WM und den Olympischen Spielen zumindest in zentralen Bereichen eine normale Großstadt zu werden, fühlen sich viele nun an die schlimmsten Zeiten erinnert.

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